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2. Sonnenberg – Disko-Queen

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Am folgenden Sonnabend flog Familie Kosch mit Michael und Manuela zurück nach Sonnenberg. Zu Hause erwartete sie der Alltag. Wolfram hatte die Kinder für zwei Tage in der Schule entschuldigt, denn Ferien waren nur bis vergangenen Mittwoch gewesen.

Noch am Sonnabendnachmittag gingen alle vier Kinder zu ihren jeweiligen Schulfreundinnen und Wolfram Junior zum Schulfreund, um eventuelle Hausaufgaben für die kommende Woche zu erfahren. Michael und Manuela begleiteten sie. Dadurch waren Maria und Wolfram ganz allein zu Hause. Nachdem die Koffer wieder leer waren, setzten sie sich auf die Couch im Klubzimmer und ließen das Erlebte noch einmal Revue passieren. Zu viele Erinnerungen waren bei ihrem Besuch in Håp Land wieder hochgekommen. Sie erlebten noch einmal die traurigen und auch die schönen Momente ihrer Liebe. So saßen sie eng umschlungen auf der Couch und träumten vor sich hin. Alles war am Ende gut ausgegangen und so gingen sie einer sorgenfreien Zukunft entgegen.

Als die Kinder am späten Nachmittag wieder da waren, schimpfte besonders Junior über die Lehrer, die den Schülern so viele Hausaufgaben aufgaben. Laura hingegen lächelte nur. Sie machte sich keine Sorgen. Bei ihr gab es immer einen Jungen, der ihre Aufgaben mitschrieb, wenn sie nicht konnte. Außerdem fiel ihr das Lernen nicht schwer. So machte sie sich auch wenig Sorgen um das Abitur in zweieinhalb Jahren. Bei Eva sah das schon etwas anders aus. Bei ihr stand die Abiturprüfung ein Jahr eher vor der Tür. So konzentrierte sie sich auf die Schule, denn sie lernte nicht so leicht wie ihre jüngere Schwester.

In Sonnenberg war jeden Sonnabend Disko im großen Saal, der auch sonst für die verschiedensten Veranstaltungen genutzt wurde. Der Bürgermeister hatte zum Wohle der Bürger durchgesetzt, dass alle öffentlichen Veranstaltungen 2.00 Uhr enden mussten. Das galt auch für die Disko. Laura war hier ständig anzutreffen. Unter den Jugendlichen hieß sie die Disko-Queen. Manche nannten sie auch Wohnheim-Queen. Eva begleitete Laura sonnabends hin und wieder in die Disko. Sie tanzte genauso gern wie ihre Schwester, aber sie war gegenüber Laura eher schüchtern. Wenn sie tanzte, dann kannte sie den Jungen oft nicht, denn es kamen viele aus Nachbarorten. Laura hingegen schien alle zu kennen und alle kannten Laura.

Heute war Sonnabend und sie wollte auch diesmal die Disko nicht verpassen. Sie verließ mit Michael das Haus, als die Kleinen ins Bett gingen. Eva saß noch einige Zeit über dem Schulstoff. Sie wollte das Abitur in eineinhalb Jahren möglichst mit „Gut“ bestehen.

Michael war noch nie mit Laura in Sonnenberg zur Disko gegangen. Deshalb war für ihn vieles neu. Aber da Laura sich sehr gut auskannte, hatte er keine Probleme. Im Saal tanzte er manchmal mit Laura. Doch meistens sah Michael nur zu, wie sie tanzte. Es blieb nicht aus, dass er von der Seite angesprochen wurde: „Du bist wohl Lauras neuer Freund?“

„Und wenn?“, antwortete er schnippisch. „Hast du etwas dagegen?“

Der junge Mann, der ihn da fragte, war vielleicht drei Jahre älter, aber das störte Michael nicht. „Du bist doch gar nicht von hier!“, bohrte er weiter.

„Hast du damit vielleicht ein Problem?“, fragte Michael zurück. Langsam wurden ihm die Fragen lästig. „Und wenn ich aus Neuseeland wäre, könnte es dir auch egal sein!“

Und wieder stichelte der Lästige: „Dann scheinst du gar nicht zu wissen, was Laura für eine ist.“

„Wie meinst du das?“, fragte Michael bissig zurück. Sein Blutdruck stieg. Auf Laura ließ er nichts kommen; und von so einer halben Portion schon gar nicht.

„Nimm deine Nutte wieder mit und hau ab!“ „Nimm das zurück!“, fauchte ihn Michael an.

Doch der andere lachte und sagte: „Ich denke gar nicht daran.“ Er war gerade fertig mit dem Satz, als es einen dumpfen Hieb gab und er am Boden lag. Sofort bildete sich ein Kreis um die beiden Kampfhähne.

Als Michaels Gegner langsam wieder hochkam, drängelte sich ein anderer junger Mann durch die Zuschauer. Er kam gerade rechtzeitig, als die beiden wieder aufeinander zugingen. Energisch rief der Neuankömmling: „Schluss! Was ist hier los? Prügeln könnt ihr euch draußen. Martin, du weißt ganz genau, dass es das hier im Saal nicht gibt!“

„Der hat doch angefangen.“ Damit zeigte er auf Michael.

Bei Michael waren jetzt alle Muskeln gespannt. Mit diesem Neuen, der mindestens fünf Jahre älter war, würde er es auch noch aufnehmen. Aber dieser blieb ruhig und löste erst einmal den Zuschauerkreis auf. „Und? Warum hast du angefangen?“, fragte er dann mit zusammengezogenen Augenbrauen.

„Was geht’s dich an? Der weiß schon, wofür er die Abreibung bekommen hat. Frag ihn selbst.“

„Hör zu. Du scheinst hier neu zu sein. Ich achte hier im Saal mit auf Ordnung. Also, was war los?“

„Er hat Laura schwer beleidigt!“

„Was? Unsere Laura? Du kennst sie?“

„Ja! Ziemlich gut. Ich lasse sie von niemandem beleidigen!“, ereiferte sich Michael.

„Hör zu. Ich heiße Harald. Was hat Martin gesagt?“ „Er hat sie als Nutte beschimpft.“

Mit einem Ruck stand Harald bei Martin. „Ist das wahr?“ „Na ja, du kennst sie doch auch“, versuchte sich Martin herauszureden. „Na, dann muss ich ihm … wie heißt du eigentlich?“ „Michael.“

„Dann muss ich Michael aber recht geben. Sei froh, dass Laura das nicht mitbekommen hat.“

„Wieso? Du kennst sie auch. Die pennt doch mit jedem.“ „So? Hat sie das mit dir schon gemacht?“

„Nein.“

„Siehst du, mit mir auch nicht und mit vielen anderen ebenso nicht. Behaupte nicht solchen Unsinn. Sei froh, dass Michael sich zurückgehalten hat. Hättest du das von meiner Freundin behauptet, dann würdest du jetzt anders aussehen. Entschuldige dich bei ihm und gib ihm einen aus. Dann wollen wir die Sache vergessen.“ Es vergingen einige Sekunden, dann sagte Harald gereizt zu Martin: „Ich warte!“

Nun gab Martin Michael die Hand und sagte: „Entschuldige! Es war nicht so gemeint. Was trinkst du?“

„Ist mir egal. Ein Bier reicht.“

Martin verschwand und Harald fragte: „Wie lange kennst du Laura schon?“

„Ungefähr zehn Jahre.“

„Was? Oh! Wie das?“

„Unsere Eltern sind befreundet. Wird das jetzt ein Verhör?“ „Ganz sicher nicht.“ Harald klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. Inzwischen kam Martin mit dem Bier und stieß mit Michael an. Damit war das Problem aus der Welt. „Und jetzt ist Laura deine Freundin?“, fragte Harald weiter.

„Nein. Ich bin nur mit ihr mitgekommen, weil ich für ein paar Tage in Sonnenberg bin.“

„Dann ist Laura gar nicht deine Freundin?“, fragte jetzt auch Martin. Michael schüttelte den Kopf. „Trotzdem lasse ich nichts auf sie kommen. Sie ist mir wie eine Schwester.“

Zwischenzeitlich war auch Laura auf den Tumult aufmerksam geworden. Sie drängelte sich durch bis zu Michael und fragte: „Was ist denn hier los?“

Harald beruhigte sie: „Das ist Männersache. Du kannst weitertanzen.“ Aber Laura ließ nicht locker: „Was war denn, Michael?“ „Nichts weiter“, sagte nun auch Michael.

„Na ja, wenn du meinst“, gab Laura kleinlaut nach. Nun fragte Harald wieder: „Wie hast du das eigentlich gemacht, dass Martin gleich zu Boden ging?“

„Ich mache Kampfsport. Er soll froh sein, dass ich ihn geschont habe.“

„Na, Martin, da hast du ja noch mal Glück gehabt.“ Mit diesen Worten verschwand Harald.

Jetzt drehte Laura aber wieder auf: „Ich will jetzt aber auch wissen, was los war.“

Michael winkte ab und Martin meinte: „Bagatelle!“ Zu Michael meinte er: „Trinken wir noch ein Bier?“ Er nickte und ging mit Martin mit.

Als sie ein neues Bier in der Hand hatten, fragte Michael: „Warum bist du nur so giftig auf Laura? Sie ist schwer in Ordnung. Das kannst du mir glauben.“

„Eigentlich ist sie ein tolles Mädchen und sie gefällt mir sogar. Ich war nur sauer, weil ich dachte, du bist ihr Freund.“

„Dann pass du doch auf sie auf. Dann muss ich sie nicht verteidigen. Aber lauf ihr nicht hinterher. Das mag sie gar nicht.“ Martin bedankte sich für den Rat.

Auf dem Weg nach Hause sagte Laura: „Eine Freundin hat mir alles erzählt. Du hast mich gegen Martin verteidigt? Das finde ich aber lieb von dir.“ Laura küsste ihn auf die Wange.

Michael stieg das Blut in den Kopf. Zum Glück war es dunkel, sodass das nicht mal Laura sehen konnte. Doch selbstbewusst erwiderte er: „Ist nicht der Rede wert. Das hätte ich für deine Schwestern genauso getan. Wenn dich jemand beleidigt, dann gibt’s n paar auf die Zwölf.“

„Wohin?“

„Auf die Zwölf.“

„Das verstehe ich nicht. Was bedeutet zwölf?“

Michael erklärte: „Stell dir auf dem Gesicht eine Uhr vor. Die Zwölf ist auf der Stirn.“

„Ach so. Ich verstehe Martin überhaupt nicht. Er ist doch sonst in Ordnung. Was hat er denn über mich gesagt?“

„Lassen wir das. Schön war’s nicht, was er gesagt hat. Aber das ist vergessen. Er hat sich dafür entschuldigt.“

Am nächsten Morgen nahm Wolfram Michael nach dem Frühstück beiseite und fragte ihn: „Was war denn gestern eigentlich los in der Disko? Laura hat ihrer Mutter erzählt, du hättest sie beschützt.“

„Es war gar nichts weiter.“

„Michael. Du redest mit mir und nicht mit einem deiner Freunde. Ich möchte nur wissen, was los war. Schließlich wohnen wir hier und Sonnenberg ist eine kleine Stadt. Spätestens morgen, am Montag, erfahre ich es auf Arbeit. Besser wäre es, wenn du es mir erzählst.“ Dabei legte er seinen Arm auf Michaels Schultern.

„Na ja. Eigentlich war gar nicht viel. Da war einer, der Laura als Nutte bezeichnete, und da gab’s eine auf die Zwölf. Mehr war nicht.“ „Auf die Zwölf. So, so!“

„Bitte sei mir nicht böse. Ich habe doch Laura nur helfen wollen.“

„Ich bin dir nicht böse. Im Gegenteil! Ich freue mich, dass du dich so für unsere Laura eingesetzt hast. Aber ist sie denn so schlimm, wenn sie zur Disko ist?“

Michael schüttelte den Kopf. „Überhaupt nicht. Sie ist wie alle anderen!“

Wolfram sah ihn lächelnd an und sagte zu ihm: „Das hätte ich jetzt an deiner Stelle auch gesagt. Wir wissen schon, dass Laura ein bisschen leichtsinnig ist. Aber wir hoffen, dass sich das gibt, wenn sie älter wird. Und so schlimm ist sie sicher nicht.“ Nun klopfte er Michael auf die Schultern und meinte: „Ich danke dir trotzdem, dass du Laura beschützt hast. Ich denke, sie hat es verdient, dass du sie verteidigst.“

„Bitte erzähle das aber nicht meinen Eltern; besonders meiner Mutter nicht. Sonst darf ich vielleicht meinen Kampfsport nicht mehr machen.“ „Von uns erfährt sie nichts. Dein Vati wird es vielleicht irgendwann einmal erfahren, wenn wir uns unterhalten. Jetzt sehen wir uns ja nicht und am Telefon sprechen wir kaum über solche Dinge. Aber wenn ich mir das richtig überlege“, und Michael wurde es nun wieder etwas mulmig, „dann hast du Laura geholfen. Dafür hast du jetzt einen Wunsch offen.“

„Wie?“, fragte Michael völlig überrascht. „Ich? Einen Wunsch?“

„Ja! Wünsch dir etwas!“

„Ich weiß gar nicht, wie ich dazu komme.“

„Du hilfst uns und wir helfen dir. Das ist doch einfach.“

„Ja, wenn das so ist … Kann ich mit Manuela öfter zu euch kommen … in den Ferien und so?“

„Michael!“ In Wolframs Augen sammelte sich das Wasser. „Natürlich kannst du kommen! So oft du willst.“ Wolfram war gerührt. Er hatte einen materiellen Wunsch erwartet, aber Michael wollte nur bei ihnen sein. Das berührte sein Herz. Dann aber kam ihm ein anderer Gedanke. „Möchtest du wegen Laura öfter kommen?“

„Nein. Ich mag sie genauso wie Eva. Sie sind mir wie Schwestern.“

„Egal. Sag es uns, wenn du oder ihr kommen wollt, und wir regeln den Rest. Du bist uns immer willkommen und deine Schwester natürlich auch.“

Damit war das Gespräch zu Ende und Michael ging zu den Mädchen ins Zimmer. Laura fragte sofort: „Hat Vati mit dir geschimpft?“

„Überhaupt nicht. Er hat mir angeboten, dass ich öfter zu euch kommen darf.“

„Das ist unser Vati. Immer wenn man denkt, jetzt gibt es Ärger, dann wird’s gar nicht schlimm. Er ist der beste Vati, den man sich denken kann“, sagte Eva. Dann fragte sie Michael: „Du machst tatsächlich Kampfsport?“

„Ja! Warum?“

„Könntest du uns auch ein paar Griffe zur Verteidigung beibringen? Du weißt ja auch, dass man das als Mädchen vielleicht mal gebrauchen kann, wenn ein Mann mal … na ja, gefährlich wird.“

„Ich verstehe schon“, sagte Michael mit einem Lächeln im Gesicht. „Kann ich euch beibringen. Dir auch, Julia?“

Die Angesprochene wurde plötzlich rot im Gesicht und nickte nur. Da begann er gleich ihnen ein paar Griffe zu zeigen und trainierte das anschließend mit ihnen. Bis zum Abend hatten die drei Mädchen vier Abwehrstrategien gelernt. Selbst Julia war ganz eifrig beim Üben.

Manuela und Wolfram Junior saßen am Nachmittag mit Maria und Wolfram im Kinoraum im Keller und sahen sich in der Zeit ein Märchen an. Als sie beim Abendbrot begeistert über das Training sprachen, lobte Maria Michael für seine uneigennützige Arbeit. Wolfram meinte: „Das wäre eigentlich ein Anlass, dass wir wieder mal alle zusammen baden gehen.“ „Oh ja, das ist eine tolle Idee“, sagte Junior.

Michael sah Lauras Vater ungläubig ab. „Bei der Kälte?“ „Natürlich nicht draußen. Stimmt ja, du warst ja im Winter noch nie hier. Wir haben im Keller ein kleines Becken. Das benutzen wir im Winter. Dann macht euch nach dem Essen mal fertig. Wir treffen uns im Bademantel auf der Treppe.“

Eine halbe Stunde später folgten sie Wolfram in den Keller. Als sie unten ankamen, staunten Michael und Manuela. So groß hatten sie sich das Becken nicht vorgestellt. Der Boden war so hoch eingestellt, dass Manuela noch bequem stehen konnte. Nun sprangen alle ins Wasser und spielten Ballfangen. Es gab vier Mannschaften: Maria und Junior, Eva und Laura, Michael und Julia, Manuela und Wolfram. Nach einer Stunde, als alle völlig außer Puste waren, wertete Wolfram aus. Am häufigsten hatten Eva und Laura verloren und am wenigsten Michael und Julia. Darauf waren die beiden Gewinner richtig stolz.

Nun gab es für jeden ein Handtuch und die beiden Kleinen machten sich anschließend bettfertig. Als Julia dann auch bald ins Bett sollte, protestierte sie. Da sagte ihr Vati: „Julia, wenn das nicht klappt, können wir so etwas nicht wieder machen. Du hast morgen Schule. Da musst du fit sein. Nur Michael und Manuela haben noch eine Woche Ferien.“ Ungern verabschiedete sie sich und ging in ihr Zimmer.

Als sie mit den drei Großen allein im Klubzimmer saßen, fragte Wolfram: „Geht ihr nächsten Sonnabend wieder zur Disko?“ „Ich bestimmt!“, sagte Laura.

„Dürfen wir denn so lange bleiben?“, fragte Michael gleich für seine Schwester mit.

„Von uns aus ja, oder hast du Einwände?“, fragte Wolfram seine Frau.

„Nein. Von mir aus gern, Michael. Da musst du aber noch einmal deine Mutter anrufen, dass sie sich keine Sorgen macht.“

„Das mache ich gern.“ Michael freute sich, dass er mit seiner Schwester hier bei Koschs so willkommen war. „Bringt ihr uns dann am Sonntag wieder nach Hause?“

„Na klar! Gleich nach dem Mittagessen“, sagte Wolfram. „Seit gestern gehörst du doch schon halb zur Familie und deine Schwester dadurch auch.“

„Danke!“ Das war alles, was Michael jetzt sagen konnte. Er war glücklich. Zu Hause bei seiner Mutter stieß er nicht immer auf so viel Verständnis.

„Eva, vielleicht gehst du am Sonnabend auch mit in die Disko. Michael beschützt euch beide“, sagte Wolfram lachend.

„Ja, komm doch mit“, bettelte jetzt auch Laura.

„Warum eigentlich nicht?“, meinte Eva.

Damit war der Diskobesuch beschlossen.

Nachdem alle zu Bett gegangen waren, sagte Wolfram zu Maria: „Sag mal, was hat eigentlich Julia? Sie kommt mir in den letzten Tagen recht merkwürdig vor.“

„Ist dir denn nichts aufgefallen?“

„Nein.“

Da sagte sie lachend: „Dann beobachte sie mal vorsichtig, wenn Michael in der Nähe ist. Dann weißt du alles.“

„Wieso? Was hat denn Michael damit zu tun?“

„Julia schmilzt dahin, wenn er sich um sie kümmert. Besonders heute beim Baden, als sie in einer Mannschaft waren. Ja, unsere Julia wird erwachsen!“

„Bist du dir da sicher? Julia ist doch noch ein Kind.“

„Lass sie das bloß nicht hören. Sie bettelt schon seit November, dass sie mit zur Disko gehen darf. Ich habe ihr gesagt, dass sie erst vierzehn Jahre alt werden muss. Vorher schiebt sich nichts zusammen. Sie wird in drei Monaten vierzehn. Dann müssen wir Ja sagen.“

„Meinst du wirklich, dass sie sich in Michael verguckt hat?“

„Hast du nicht mal zu Sven gesagt, Mütter wüssten alles? Ich bin Julias Mutter!“

„Mein Gott, unsere Kinder werden alt und wir auch. Julia wird dann auch zur Disko gehen können, aber erst mal nur bis 22.00 Uhr. Das werde ich ihr schon beibringen. Aber das mit Michael … Weiß er es auch?“, fragte Wolfram.

„Ich glaube nicht. Aber so, wie ich Julia einschätze, wird er sicher bald von ihr hören. Vermutlich geht das dann über SMS oder E-Mail. Da haben wir keinen Einfluss drauf.“

„Ach Gott, von mir aus. Hauptsache, er bleibt ihr nachts fern.“

„Deshalb ist es ja gut, wenn Manuela immer mit bei Julia im Zimmer schläft und Michael bei unserem Junior.“

„Ja. Das lassen wir mal so.“

Damit war für sie diese Sache geklärt. Nach dem ausgiebigen Bad waren sie sehr müde und schliefen auch schnell ein.

Die nächsten Tage war Maria tagsüber mit Michael und Manuela allein. Sie gingen zusammen einkaufen und kochten das Mittagessen zusammen. Selbst Michael gefiel das. Von zu Hause kannte er das nicht. Nachmittags kamen dann die Mädchen und Michael übte mit ihnen wieder Selbstverteidigung oder sie spielten im Keller Tischtennis. Wolfram Junior spielte mit Manuela auch manchmal mit. Aber oft waren sie auch draußen auf dem Kosch-Gelände unterwegs. Manuela war zwar ein Mädchen, aber da sie seine Spiele alle mitspielte, kam er ganz gut mit ihr zurecht. Nur wenn sie mit ihren Puppen anfing, dann bekam er ständig eine Krise.

So verging die Woche und es war wieder Sonnabend. Zum Abendbrot fragte Julia vorsichtig ihren Vati, ob sie ausnahmsweise auch mal mit zur Disko dürfe. Maria fühlte sich dabei übergangen. Das sah man deutlich an ihrem Blick, den sie Wolfram zuwarf. Doch er sagte zu Julia: „Nein, Julia. Es war ausgemacht, dass es Disko erst nach deinem vierzehnten Geburtstag gibt. Die drei Monate schaffst du doch auch noch.“

Jetzt lehnte sich Maria entspannt zurück. Sie hatte schon befürchtet, dass Wolfram eine Ausnahme machen wollte. Doch Wolframs Antwort besänftigte sie. Julia hingegen war mit dieser Antwort überhaupt nicht zufrieden. Doch gegen ihren Vater rebellierte sie nicht. Wusste sie doch, dass sie dabei immer den Kürzeren ziehen würde. Ihr Bruder und auch Laura hatten das schon mehrfach getestet.

Also ging Laura nach dem Abendessen nur mit Eva und Michael zur Disko. Als die drei in dem Saal ankamen, reagierten schon einige Mädchen auf Michael. Es hatte sich herumgesprochen, wie er das Problem mit Martin auf seine Weise gelöst hatte. Dass er aber trotzdem keine Schlägerei angefangen hatte, imponierte vielen. Michael hatte eben nur Laura verteidigt. Jetzt war er wieder da und diesmal kam sogar Eva mit. Manch einer aus Sonnenberg beneidete ihn jetzt um seine Begleitung. Laura war für fast alle unnahbar oder sie wurden abgelehnt, obwohl sie locker drauf war. Eva hingegen war nur selten mit im Saal. So waren beide irgendwie etwas Besonderes.

Michael hatte durch sein Auftreten vom vergangenen Sonnabend plötzlich viele Verehrerinnen. Am Anfang gefiel ihm das sogar, aber nach einiger Zeit wurde es ihm dann doch lästig. So tanzte er, wenn überhaupt, am Ende nur noch mit Laura oder Eva. Einmal brachte Laura Martin mit an den Tisch. Sie hatte ihm die Bemerkung der vergangenen Woche verziehen. Martin begrüßte Michael wie einen alten Freund. Das war auch Michael recht. Zumal er sah, dass sie von vielen beobachtet wurden, wie sie sich jetzt begegneten. Da er mit Martin Freundschaft hielt, war Michael in Sonnenberg nun akzeptiert.

Einmal nur kam Harald vorbei, grüßte und erinnerte Michael, dass Meinungsverschiedenheiten in Sonnenberg immer noch draußen geklärt werden. Eva fragte: „Das war wohl der Ordnungshüter von voriger Woche?“

Michael nickte und meinte: „Der ist gar nicht so verkehrt. Er hat mir vorige Woche sogar recht gegeben.“

Einmal, als die beiden Mädchen tanzten, kam Martin zu Michael und fragte ihn vorsichtig: „Ist Laura noch böse mit mir?“ „Wieso denn? Du hast doch vorhin mit ihr getanzt.“ „Na, das muss bei Mädchen noch lange nichts heißen. Gerade bei Laura sehe ich da nicht durch.“

„Na klar war sie sauer. So betitelt man auch kein Mädchen. Aber du hast Glück. Laura ist nicht nachtragend“, klärte ihn Michael auf.

„Da bin ich aber froh. Das war auch ausgesprochen blöd von mir. Vielleicht sollte ich nicht so viel trinken, dann erzähle ich auch nicht so viel Müll.“

„Damit könntest du recht haben.“ Michael nickte ihm zu. „Trotzdem würde ich sie an deiner Stelle nachträglich um Verzeihung bitten. Das kann jedenfalls nicht schaden.“

Kurz vor Mitternacht kam ein recht kräftiger junger Mann auf Michael zu und provozierte ihn. „Na, willst du dich auch mit mir anlegen?“

Doch Michael reagierte locker: „Weshalb? Du hast mir doch nichts getan.“

„Das wollte ich dir auch nicht geraten haben, du Wichtigtuer. Solche wie dich rauche ich in der Pfeife.“

Jetzt stand Michael auf und ging auf ihn zu. „Willst du Streit?“ Da griff der Fremde nach Michaels Hals. Doch schon kam ihm Haralds Hand zuvor. Harald hatte alles aus der Ferne beobachtet und traf noch rechtzeitig ein. Der Fremde griff jetzt Harald an und schlug so nach ihm, dass Harald blutete. Nun war Michael nicht mehr zu bremsen. Er holte aus und der Fremde ging zu Boden. Harald wischte sich das Blut aus dem Gesicht und sagte: „Danke, Kleiner. Das hast du gut gemacht. Hilfst du mir noch, diesen Fleischberg nach draußen zu schaffen?“

„Klar. Der ist viel zu langsam, als dass er mir gefährlich werden könnte.“

Gemeinsam bugsierten sie ihn an die frische Luft und Harald sprach dem Streitlustigen vier Wochen Hausverbot aus. Als Ordnungskraft war er dazu berechtigt.

Als sie in den Saal zurückgingen, fragte Harald: „Kannst du mir diesen Schlag beibringen? Das ist ja irre, wie du das machst.“

Michael antwortete: „Das würde ich gern, aber ich muss morgen nach Hause und ich wohne im Schwarzwald.“

„Oh je, das ist aber auch nicht um die Ecke. Da bist du ja den halben Tag unterwegs.“

„Na ja, es geht.“ Michael erinnerte sich, dass er nichts sagen durfte, was vielleicht Koschs Inkognito lüften könnte. Deshalb hielt er sich bewusst bedeckt. „Aber ich komme ja irgendwann mal wieder. Vielleicht schon im Sommer. Dann finde ich dich doch bestimmt wieder hier in der Disko.“

„Ganz sicher findest du mich hier. Aber jetzt müssen wir noch einen trinken. Heute hast du mich beschützt“, sagte Harald.

„Bitte nicht mehr. Mir reicht es für heute. Vielleicht beim nächsten Mal.“

Als sie wieder den Saal betraten, wurde Michael regelrecht umringt. Jeder wollte ihm sagen, wie gut er reagiert und dass dieser Säufer nichts anderes verdient habe. Zum Glück war die Disko bald zu Ende. So konnte Michael sich von seinen Bewunderern befreien.

Auf dem Weg nach Hause waren Eva und Laura ganz stolz auf ihren Beschützer. „Heute hast du dir viele Freunde geschaffen“, sagte Laura. „Mir waren das schon bald zu viele“, antwortete er abwehrend. Da meinte Eva: „Lass mal. Du warst richtig gut. Wie du diesen Mann von den Ordnungskräften verteidigt hast, war ganz toll. Ich bin stolz auf dich. Schade, dass du nicht vier, fünf Jahre älter bist.“

„Wie meinst du das?“, fragte Michael misstrauisch.

„Ach, komm! Das war doch nur Spaß.“

Da fügte Laura lachend hinzu: „Beim Kämpfen bist du einsame Spitze, aber mit Mädchen kennst du dich nicht aus!“

Die beiden Schwestern lachten, nahmen ihn in die Mitte und hakten sich links und rechts ein. So kamen sie zehn Minuten später zu Hause an.

Am folgenden Sonntag brachte Wolfram seine beiden jungen Gäste zu ihrer Mutter in den Schwarzwald. Sie guckte immer etwas misstrauisch, wenn Wolfram mit den beiden ankam. Aber sie konnte sich noch sehr gut an den Rechtsanwalt erinnern, der diese Besuchsregelung mit ihr ausgehandelt hatte. Mit diesem Anwalt wollte sie nie wieder zu tun haben.

Der Januar verging recht schnell. Schnee gab es schon seit einigen Jahren kaum noch. Und wenn es mal schneite, dann lag er nur ein paar Tage oder nur Stunden. Die Winter, von denen Wolfram manchmal erzählte, gab es schon lange nicht mehr. Vielleicht lag das doch an den Flugzeugen, die fast täglich irgendwelche Sachen hoch oben versprühten, um angeblich die Klimaerwärmung aufzuhalten.

So kamen der Februar und die Schneeglöckchen. Immer wenn sich die ersten Schneeglöckchen zeigten, musste Maria an das Hotel ihrer Heimat in Norwegen denken. Es hieß Snowdrop, was zu Deutsch Schneeglöckchen heißt. Mit dem Februar kam für Maria und Wolfram aber auch der elfte Jahrestag ihrer ersten Begegnung. Sie feierten diesen Tag nicht nur deshalb, sondern auch, weil ohne Wolframs damaliges Eingreifen Maria an diesem Tag ertrunken wäre. So feierten sie an diesem Tag auch Marias zweites Leben.

Durch die Gespräche an Mammas Geburtstag im Januar waren viele Erlebnisse ins Gedächtnis zurückgekehrt, die schon fast vergessen waren. Besonders die Umstände, durch die Maria an diesem Tag vor elf Jahren so verzweifelt gewesen war. Und wieder waren Wolfram und Maria davon überzeugt, dass es kein Zufall war, dass sich gerade in diesem Moment ihre Wege kreuzten, als sie ins kalte Wasser fiel. So saßen sie zu zweit auf der Couch und lebten in den Erinnerungen an diesen Tag. Die Kinder waren in der Schule und ihre Eltern hatten den Tag ganz für sich.

Da kam Wolfram eine verrückte Idee: „Wollen wir diesen Tag ähnlich begehen wie damals oder noch besser wie Andrea an ihrem 25. Geburtstag?“ Maria verstand noch nicht, was er damit meinte. Da sagte Wolfram lächelnd: „Du musst jetzt erst einmal in die Wanne. Ich komme dann zwar ohne Makkaroni, aber mit einer Flasche Wein und etwas Saft für mich nach.“

„Sind wir dafür nicht etwas zu alt?“, fragte Maria lachend. Wolfram schüttelte schmunzelnd den Kopf und ein langes „Neiiin!“ kam aus seinem Mund. Dann trug er seine Maria nach oben und legte sie im Schlafzimmer ab, daraufhin ging er ins Bad, um die Wanne volllaufen zu lassen. Während dies geschah, holte er eine Flasche Wein, Saft für sich, zwei Gläser und stellte alles auf die Ablage an der Wanne. Anschließend holte er den Leuchter, der die kleine Brücke über den Millstream darstellte, vom Frühstückstisch, stellte ihn ebenfalls auf die Wannenablage und zündete die Kerzen an. Nun ging er ins Schlafzimmer, trug Maria ins Bad und setzte sie vorsichtig in die Wanne; fast so wie vor elf Jahren. Danach stieg er selbst ins Wasser.

„Nun fehlt nur noch jemand, der uns fotografiert“, sagte Wolfram schmunzelnd.

„Wenn wir hier lange genug sitzen, können das unsere Kinder besorgen. Die kommen nämlich in zwei Stunden aus der Schule“, erwiderte sie lachend.

Das warme Wasser und der Wein holten bei Maria die schönen Erinnerungen dieses Tages und der folgenden zwei Wochen im Februar 2000 ins Gedächtnis zurück. Auch Wolfram fiel in diese Zeit zurück. So erinnerten sie sich gegenseitig an die vielen kleinen Einzelheiten, die diese Zeit so wunderschön gemacht hatten.

Doch dann wurde Maria plötzlich ernst und eine Traurigkeit machte sich in ihrem Gesicht breit. „Was hast du?“, fragte Wolfram besorgt.

„Mir ist gerade eingefallen, wie es überhaupt zu allem kam. Ich habe nie darüber gesprochen“, antwortete Maria mit feuchten Augen.

Er versuchte sie zu trösten, indem er sagte: „Du musst nicht darüber reden, wenn es dich traurig macht.“

„Doch! Heute will ich es“, widersprach sie ihm und fing an zu erzählen: „Es begann am Sonntag vorher. An dem Tag, an dem damals dein Urlaub in Håp Land begann. Mein Pappa hat mir abends, als die Kinder im Bett waren, wieder einmal erklärt, wie einfach alles gewesen wäre, wenn ich mich bei den Männern zurückgehalten und keine Kinder hätte. Nun müsse er, weil ich so selbstsüchtig gewesen wäre, zusätzlich meine Kinder mit ernähren. Hätte ich sie nicht, dann würde ich auch einen Mann finden, der mich heiraten würde. Aber so … Und dabei winkte er ab. Das tat mir so weh. Ich kam mir so unnütz vor, dass ich allen nur eine Last war. Die folgende Nacht konnte ich kaum schlafen. Ich habe mein ganzes Kopfkissen nass geweint. Auch am folgenden Tag ließ mich dieser Vorwurf nicht los. Vormittags, als ich mal allein im Wohnzimmer war und im Radio nach einem vernünftigen Sender suchte, hatte ich plötzlich einen deutschen Sender drin und dieser spielte dieses wunderschöne Lied, von welchem ich dir erzählt habe. Es hieß Wunder gibt es immer wieder. Bei diesem Text habe ich vor dem Lautsprecher gesessen und bitterlich geweint, denn für mich gab es kein Wunder. Ich wollte so nicht weiterleben und beschloss, aus dem Leben zu gehen.

Als ich nach dem Mittagessen meine Kinder zum letzten Mal ins Bett brachte, verabschiedete ich mich in Gedanken von ihnen. Sie taten mir so leid, aber mit mir hatten sie auch keine Zukunft. Vielleicht, so dachte ich, haben sie eine bessere Chance ohne mich. Und dann wollte ich nur noch allein sein. So ging ich anschließend zum Fjord und setzte mich am Millstream so in die Böschung, dass man mich auch vom Hotel nicht sehen konnte. Hier wollte ich mein sinnloses Leben in der Kälte beenden. Ich erinnere mich noch, wie Arme und Beine langsam immer schwerer wurden. Es fühlte sich an, als gehörten sie gar nicht mehr zu mir. Dann kann ich mich auch noch dunkel daran erinnern, dass ich in kaltem Wasser war. Ganz weit in der Ferne sah ich dann ein wunderschönes weißes Licht. Dort wollte ich hin, aber zwei fremde Hände hielten mich fest und ließen mich nicht in dieses Licht.

Plötzlich wurde es warm und langsam begriff ich, dass ich immer noch in dieser Welt war. Ich lag mit Sachen in einer Wanne und ein fremder Mann stand daneben. Das warst du. Nun verstand ich erst mal gar nichts mehr. Als ich merkte, dass du ein Deutscher warst, vermutete ich, dass ich im Hotel war. Sofort kam meine Angst wieder hoch, denn ich hatte ja Hausverbot im Hotel. Auf der anderen Seite war es wie Balsam für meine Seele, dass sich ein fremder Mann so uneigennützig um mich kümmerte. Ich war hin- und hergerissen. Auf der einen Seite wollte ich nie wieder etwas mit einem Touristen zu tun haben; und mit einem deutschen schon gar nicht. Auf der anderen Seite fühlte ich mich irgendwie zu dir hingezogen. Mein Gefühl sagte mir, dass du ein guter Mensch bist. Dann hast du dich so fürsorglich um mich gekümmert, dass ich dich von Stunde zu Stunde immer sympathischer fand. Natürlich wollte ich mir das selbst nicht eingestehen. Schließlich warst du Tourist. Trotzdem warst du der erste Mann, der sich so rührend um mich gekümmert hatte, ohne etwas von mir zu wollen.

Dann sagtest du mir, du wolltest mich nach Hause bringen. Mir war völlig unklar wie. Ich hatte nur deinen Jogginganzug an. So war ein Verlassen des Hotels unmöglich. Und schon verfiel ich wieder in das alte Denken, dass du mich bis zum nächsten Tag bei dir im Hotelzimmer behalten wolltest. Doch mir war alles so egal. Als du mir dann aber erzähltest, wie du mit dem Portier wegen mir gestritten hattest, fühlte ich mich plötzlich in deiner Obhut so geborgen. Ich wünschte mir, dass dieser Moment nie vergehen möge. Dann legtest du noch deinen Arm um mich und ich dachte, die Welt um mich bleibt stehen. Du gabst mir meinen Lebenswillen zurück, als du so positiv von mir sprachst. Dabei wusste ich, wenn du die Wahrheit erfährst, dann würdest du dich genauso abwenden wie alle anderen. Es war zum Verzweifeln. Da gab es einen Mann, der so lieb zu mir war und trotzdem unerreichbar blieb. Danach holtest du auch noch Essen für mich. Noch nie hatte mich ein Mann so verwöhnt. Ich hätte an diesem Tag alles für dich getan. Doch du brachtest mich nach Hause, nachdem du mir auch warme Kleidung von dir geliehen hattest, denn meine war ja noch nass.

Mein Vater schimpfte mit mir und auch mit dir. So konnte ich dich, nachdem ich mich umgezogen hatte, nur noch verabschieden. Ich war überzeugt, dass ich dich nie wiedersehen würde und die große Traurigkeit kam zurück. Doch dann kam alles ganz anders. Du hattest einiges nicht verstanden, was mein Pappa sagte, und batest mich, dich auf dem Weg zum Hotel zu begleiten. Ich tat das sehr gern. Jede Minute mit dir wollte ich in mir aufnehmen, damit ich mich dann später erinnern könnte, wenn ich wieder allein gelassen an dich denken würde. Ich fühlte, wie ich dich von Minute zu Minute immer mehr liebte. Als du dann noch darauf bestandest, dass ich alles erzählen solle, was zu dem Namen Touristen-Maria führte, brach eine Welt für mich zusammen und mir war in dem Moment alles egal. Ich erzählte von meinen Kindern und ihren Vätern. Dann wartete ich darauf, dass du dich für immer von mir verabschieden würdest. Aber du fragtest mich, ob du meine Kinder kennenlernen dürftest. Da glaubte ich, ein Engel stehe vor mir. Kein Mann dieser Welt hatte noch Interesse an mir, geschweige denn an meinen Kindern. Du aber warst ganz anders als alle anderen. In dem Moment hattest du Hoffnungen bei mir geweckt, die ich schon lange begraben hatte. Als du mir dann noch sagtest, dass du dir ein Leben mit mir vorstellen könntest, wollte ich nichts anderes mehr, als nur noch für dich da zu sein.“

Maria endete ihre Erzählung. Ihre Augen standen unter Wasser. Wolfram rückte, so nah es die Wanne hergab, an sie heran und nahm sie in seine Arme. „Arme Maria. Ich fühlte schon damals, dass du eine wundervolle Frau bist. Du warst so voller Leid und trotzdem oder vielleicht gerade deshalb hast du mein Herz berührt. Als du mir dann noch von deinen Kindern erzähltest, öffnete sich mein Herz und du zogst dort ein. Ich war dagegen völlig machtlos. In dem Moment erkannte ich, dass du die Frau warst, nach der ich schon so lange suchte. Nichts sollte uns mehr trennen. Und so liebe ich dich heute immer noch.“

Wieder schloss er sie in seine Arme und Maria genoss diese Umarmung. Das war es, weshalb sie diesen Mann so liebte. Er hatte sie von Anfang an verstanden. Die Traurigkeit verließ sie langsam wieder und machte einem Glücksgefühl Platz. Nun küsste sie ihn, wusch die Tränen flüchtig ab und lächelte wieder.

„Ich erinnere mich aber auch, wie du uns dann den einfachen Angestellten vorgespielt hast. Es war so perfekt, dass wir alle darauf reingefallen sind. Trotzdem war es eine schöne Zeit, die ich um nichts missen möchte. Seit ich dich kenne, weiß ich erst, was man unter Glücklichsein versteht. Vor allem, seit wir hier in Sonnenberg sind. Und das hat nichts mit der Villa und deiner Firma zu tun. Ich war auch schon glücklich, als wir noch unten in Brünners Häuschen wohnten.“

Nun erzählten sie, bei welchen Gelegenheiten sie immer wieder naiv gewesen und Wolframs Spiel auf den Leim gegangen waren. Der Wein wirkte auch langsam und so wechselte diese Unterhaltung immer mehr in belanglose Neckereien.

Am Nachmittag, als die Kinder aus der Schule kamen, stand Maria schon wieder in der Küche und kochte die Makkaroni als Mittagessen, auf die sie in der Wanne verzichten musste. Ansonsten war alles wie immer. Den drei Mädchen fiel allerdings auf, dass Mutti viel fröhlicher als sonst war. Sie wunderten sich zwar, wollten aber auch nicht nach dem Grund fragen. Dieser Tag war ein Feiertag für Vati und Mutti. Das wussten sie.

Am Abend setzten sie sich alle zusammen und stießen auf den Tag an. Inzwischen gab es schon drei Weintrinker in der Familie. Die beiden Kleinen mussten auch weiterhin mit Saft leben. Wie jedes Jahr erzählten Mutti und Vati vom Winter in Håp Land, vom Fjord und von ihrer kleinen Brücke. Für Laura waren diese Erzählungen schon etwas ermüdend. Sie hatte dieses „Aufwärmen“ der Vergangenheit noch von Omas Geburtstag im Ohr. Eva hingegen fand es immer wieder romantisch. Sie hätte stundenlang zuhören können.

Der Februar verging und die Natur erwachte rings um ihre Villa. So fand man die Familie jetzt öfters draußen auf der Wiese oder in dem kleinen Wäldchen, was besonders den beiden Hunden gefiel. Für sie, die fast immer draußen waren und das Grundstück bewachten, war es eine willkommene Abwechslung, wenn sich die Kinder um sie kümmerten. Auch Maria und Wolfram spazierten jetzt öfter über ihr Gelände. Da nahmen sie ihre Hunde natürlich immer mit. Die beiden Katzen verließen selbstständig das Haus durch eine Katzenklappe. Sie waren ebenfalls meist draußen. Abends hingegen kamen sie oft rein und legten sich bei einem der Familie auf den Schoß, um ihre Streicheleinheiten abzuholen. Den Hunden war das nicht möglich. Sie konnten nur bis in einen extra für sie zurechtgemachten Kellerraum, in den sie durch eine Hundeklappe gelangten.

Am 4. April wurde Julia vierzehn Jahre alt. Maria hatte schon lange gemerkt, dass ihre jüngste Tochter langsam in das Lager der Erwachsenen wechselte. Die Jungs waren plötzlich nicht mehr die blöden Kerle und ihr Wunsch, Laura in die Disko zu begleiten, wurde auch immer größer. Das gemeinsame Spielen mit Wolfram Junior gab es immer weniger; es sei denn, es handelte sich um Tischtennis im Keller. Das war etwas anderes, denn hier spielten oft auch ihre beiden großen Schwestern mit und manchmal sogar Mutti und Vati.

Auch Julias Wünsche wurden immer erwachsener. An ihrem Ehrentag wünschte sie sich schon lange keinen Milchreis mehr als Mittagessen. Heute stand ein Drei-Gänge-Menü auf der Wunschliste, mit Kerzen und Weingläsern auf dem Tisch. So, wie sie es bei Laura an ihrem vierzehnten Geburtstag vor drei Jahren gesehen hatte.

An diesem Tag merkte auch Wolfram, dass ihre Julia kein Kind mehr war. Dementsprechend waren auch die Geschenke. Auf Julias Geburtstagstisch lagen ausschließlich moderne, ausgesuchte Textilien. Wolfram bremste immer mal, wenn sie zu ausgefallen waren. Er achtete stets darauf, dass sie möglichst im normalen Bereich blieben.

An diesem Tag gab es wie immer das Mittagessen nicht im Speise-, sondern im Klubzimmer. Tante Dagmar und Onkel Manfred feierten auch wieder mit. Der Tisch war schon vorbereitet, als die Kinder aus der Schule kamen. Julias Platz war mit vielen Blumen geschmückt. Ein Strauß weißer Rosen stand zwischen zwei wunderschönen Kerzenleuchtern auf einem weißen Tischtuch. Alles war sehr festlich. Als der erste Gang auf dem Tisch stand, stießen sie auf Julias Gesundheit an. Diesmal war auch in Julias Weinglas richtiger Wein. Das hatte sie sofort bemerkt. Sie hätte auch darauf aufmerksam gemacht und darauf bestanden, wenn dies nicht so gewesen wäre. Schließlich war sie ja jetzt vierzehn Jahre alt und kein Kind mehr. So hatten nur noch der große und kleine Wolfram Saft im Glas. Als sie aber auf Julias Gesundheit anstießen, verzog das Geburtstagskind dann doch etwas den Mund. Der gewohnte Saft war viel süßer als der Wein.

Nach dem Essen stellte ihr Vati fest: „Jetzt hast du den ersten Schritt ins Erwachsensein gemacht. Nun kommen aber nicht nur mehr Rechte auf dich zu, sondern auch Pflichten. Das solltest du dabei nicht übersehen. Dafür darfst du jetzt aber abends länger aufbleiben.“ Bei dem letzten Satz strahlte Julia wieder.

Da das Wetter es gut mit Julia meinte, machten sie einen Verdauungsspaziergang runter zum See. Als Julia die Leine von einem der beiden Hunde nehmen sollte, kam zum ersten Mal ein offener Protest. So nahm ihr Vater den Hund, sagte ihr aber gleich, dass es so eine Ausnahme nur an ihrem Geburtstag gäbe.

Nachdem die Eltern etwas zurückgefallen waren, sagte Wolfram zu seiner Frau: „Julia wird auch immer schwieriger.“

Da lachte Maria und meinte: „Sie ist kein Kind mehr! Das wird jetzt immer deutlicher. Du hast das nur nicht so gemerkt, weil du tagsüber oft nicht da bist. Mir sind diese pubertären Probleme schon länger bekannt. Bei euch sagt man, sie wird zickig.“

Wolfram nickte und meinte sinnend: „Wie schnell unsere Kinder doch groß geworden sind. Als wir uns kennenlernten, waren sie alle drei noch klein und niedlich. Und heute? Dabei ist das gerade mal elf Jahre her.“

Maria nickte. „Ja, ja. Wir werden älter“, sagte sie nachdenklich. „Vielleicht sollten wir Julia etwas mehr Freiraum geben“, begann Maria das Gespräch wieder.

„Wie meinst du das?“, fragte Wolfram.

„Sie will mit zur Disko. Und wir haben es ihr auch versprochen, sobald sie vierzehn ist. Andere Mädchen in ihrem Alter sind ebenfalls schon auf dem Saal“, klärte Maria ihren Mann auf.

Er überlegte eine Weile und rief dann: „Julia! Komm doch mal zu mir. Wenn du mir den Hund abnehmen würdest, dann könnte ich mich dazu überreden, dass du einmal im Monat mit Laura zur Disko gehen kannst.“

Seine jüngste Tochter sah ihn erstaunt an und hatte die Hundeleine schon in der Hand. „Aber versprochen ist versprochen!“, erinnerte sie. Ihr Vati lächelte. „Selbstverständlich! Aber nur bis 22.00 Uhr. Es gibt ein Jugendschutzgesetz, welches das bestimmt. Dagegen können wir auch nichts tun.“

Julia fragte ihre Mutti misstrauisch: „Das Gesetz gibt es wirklich?“ „Ja, für Jugendliche unter sechzehn Jahren. Das hat auch Laura beachten müssen, als sie noch jünger war.“

Jetzt wandte sich Julia an ihre größere Schwester: „Stimmt das?“ Laura nickte und sah dabei vorsichtig zu ihrem Vater. Doch dieser lächelte. Da meinte sie zu Julia: „Aber du musst dann auch auf mich hören, wenn ich dir etwas sage.“

Ihre kleine Schwester nickte heftig.

Nun begann Laura ihr zu erzählen, was wichtig sei und worauf man achten müsse. Dabei entfernten sie sich allmählich von ihren Eltern. Als sie weit genug weg waren, erklärte sie ihr das Wichtigste: „Wehe du erzählst unseren Eltern, was ich dort mache. Das muss von jetzt an unser Geheimnis bleiben!“

„Was meinst du?“

Laura holte tief Luft. Ihre Schwester war aber noch zu naiv, dachte sie. Dann überlegte sie, wie sie es ihr am besten erklären könnte. „Na, wenn mich zum Beispiel ein Junge küsst. Das müssen doch Vati und Mutti nicht wissen.“

„Ach so. Und wenn … ich meine … wenn …“

„Wenn dich einer küsst? Das müssen sie natürlich auch nicht wissen!“ Julia war begeistert, dass sie so eine verständnisvolle Schwester hatte. Laura hingegen überlegte, dass sie sich nun einmal im Monat etwas zurückhalten musste. Dieses Opfer wollte sie für ihre Schwester schon bringen. Schließlich liebte sie Julia genauso sehr wie ihre anderen beiden Geschwister.

Schon am Abend merkte Julia, dass ihre Eltern Wort hielten. Sie durfte bis 22.00 Uhr aufbleiben. Das waren zwei ganze Stunden mehr als vorher. Von nun an knurrte Junior, dass er immer noch so zeitig ins Bett musste.

Nur fünf Tage später hatte Maria ihren 41. Geburtstag. Nach dem gemeinsamen Wecken am Bett bekam Maria einen langen Kuss von ihrem Mann. Da dieser Tag ein Sonnabend war, hatte sich Wolfram etwas Besonderes einfallen lassen. Als sie aufstanden, bat er Maria, sich etwas besser als nur zum Alltag anzuziehen. Die restliche Familie hatte diese Instruktion schon am vergangenen Abend bekommen. Nach dem Frühstück verließen sie das Haus und trafen sich unten am Häuschen mit Dagmar und Manfred, wo sie in die Autos stiegen. Eva und Laura stiegen bei Brünners ein, die Kleinen waren unter Wolframs Aufsicht besser aufgehoben.

Als sie losfuhren, wusste außer Brünners keiner, wo es hinging. Nach einer Stunde fuhren sie bei Magdeburg auf die Autobahn in Richtung Leipzig. Nun freute sich Maria auf den Leipziger Zoo, den sie vor zehn Jahren mit ihrer Mutter schon einmal besucht hatte. Dabei verstand sie aber nicht, weshalb sie ein gutes Kleid anziehen sollte. Als sie aber nach einer Stunde an Leipzig vorbeifuhren, wurde Maria stutzig. Sie erinnerte sich, dass die nächste große Stadt Dresden war. Ob Wolfram dort hinwollte? Nach einer weiteren Stunde hatte sie Gewissheit, denn Wolfram und Manfred fuhren an der Dresdner Abfahrt von der Autobahn runter und dann ins Stadtzentrum. Hier war alles fremd für Maria, denn Dresden hatten sie noch nie besucht.

Ein Parkplatz war schnell gefunden. Sie stiegen aus und liefen die kurze Strecke bis zum Dresdner Zwinger. Das Wetter meinte es gut mit ihnen, obwohl April war. Nun standen sie vor dem Kronentor. Hier bewunderte Maria die Architektur. Es war einfach schön, diese alten Bauwerke zu besuchen. Ebenso war sie von dem Innenhof begeistert, der wie ein Park vor ihnen lag. Dann besichtigten sie das versteckte Nymphenbad und von dort gingen sie hoch zu dem oberen Rundgang. Von hier aus konnten sie in den Innenhof sehen und sogar durch das Kronentor hindurchgehen.

Anschließend, als das Wetter sich eintrübte, besuchten sie die Gemäldegalerie. Maria stand zum ersten Mal vor so großen wertvollen Bildern. Das beeindruckte sie schon. Besonders fasziniert war sie von der Sixtinischen Madonna. Die beiden Engel unten in der Mitte erkannte sie plötzlich wieder. Diese wurden oft auf Postkarten, Geschirr oder Ähnlichem verwendet. Wolfram erzählte, dass es mit diesen beiden eine besondere Bewandtnis hatte: „Als der Maler Raffael dieses Bild malte, beobachteten ihn oft die beiden Kinder aus der Nachbarschaft. Er verewigte sie auf seinem Bild als Engel. Und zwar genau so, wie sie immer da lehnten und ihm zuschauten.“ Es gab hier aber auch andere berühmte Bilder, die sich Maria nun im Original ansehen konnte. Natürlich betrachteten sie nicht alle Bilder so gründlich, dafür reichte ein Tag gar nicht aus.

Nach den alten Meistern in der Galerie führte Wolfram die Geburtstagsgesellschaft ins Hotel Suitess, welches gegenüber der Frauenkirche steht. Hier aßen sie erst einmal ordentlich zu Mittag. Nun wusste Maria endlich, weshalb sie keine Alltagskleidung tragen sollte. Hier hätte sie sich in Jeans nicht wohlgefühlt.

Nach dem Essen nahmen sie an einer Führung in der neu aufgebauten Frauenkirche teil. Anschließend bummelten sie noch etwas durch die Altstadt von Dresden. Dabei sahen sie sich in aller Ruhe den Fürstenzug an, an dem sie vor dem Essen aus Zeitgründen so schnell vorbeigelaufen waren. Am Schluss besuchten sie auf der anderen Elbseite den goldenen Reiter und gingen langsam zur Frauenkirche zurück.

Jetzt fragte Maria: „Müssen wir nicht bald zurückfahren? Wir brauchen doch zurück wieder drei Stunden.“

Wolfram schüttelte den Kopf und meinte: „Heute nicht mehr. Wir bleiben hier und schlafen in dem Hotel, in dem wir bereits Mittag gegessen haben. Ich habe vorhin, als ich auf der Toilette war, alles geregelt.“

Maria schwebte ihrem Mann um den Hals und küsste ihn. Das war ihr Wolfram! Überraschungen waren seine Stärke.

„Das war ich dir wohl schuldig, weil doch voriges Jahr dein vierzigster Geburtstag wegen akuter Probleme in der Firma etwas kleiner ausgefallen war. Heute holen wir das nach.“

„Ach, Wolfram, ich liebe dich!“ Sie umarmte ihn innig und küsste ihn gleich noch einmal.

„Was ist denn mit Mutti los?“, fragte Wolfram Junior. „Das verstehst du noch nicht“, klärte Julia ihn altklug auf. Eva schüttelte mit dem Kopf und sagte lächelnd: „Mutti freut sich, weil Vati ihr gerade gesagt hat, dass wir heute hier im Hotel übernachten.“ „Ist das wahr?“, fragte Junior ungläubig seinen Vater. Dieser nickte nur. Da rief das jüngste Familienmitglied: „Im Hotel. Toll!“

Gegen 19.30 Uhr trafen sie wieder im Hotel ein. Wolfram ließ sich jetzt die Zimmerschlüssel geben und sie fuhren mit dem Fahrstuhl nach oben. Zuerst besichtigten sie alle vier Zimmer. Dann verteilte Wolfram die Zimmer und die Schlüssel. Eva und Laura waren begeistert, als sie erfuhren, dass sie ein Zimmer bekamen, in dem nur sie beide schliefen. Manfred bezog wie vorher abgesprochen mit Junior ein Zimmer und Dagmar mit Julia. Das vierte Zimmer war für Maria und Wolfram. Als das geklärt war, fuhren sie wieder runter ins Restaurant. Nach dem Abendessen blieben sie bei Wein und Saft sitzen, während Manfred und Dagmar die beiden Autos zum Hotel holten. Nach einer halben Stunde kamen Brünners zurück. Die Autos parkten jetzt auf dem reservierten Parkplatz des Hotels.

Nun erzählte Dagmar alles, was sie über Dresden wusste. Von den sächsischen Kurfürsten und Königen, die sie am Nachmittag im Fürstenzug bewundert hatten, von August dem Starken, der auch König von Polen gewesen war. Von der Erfindung des Porzellans und auch von der Bombennacht im Februar 1945, als völlig sinnlos viele Tausende unschuldige Menschen sterben mussten.

Später war dann Tanz. Laura tanzte mit ihrer kleinen Schwester, um sie auf die Disko vorzubereiten, und Wolfram mit seiner Frau, manchmal auch mit Eva. Hin und wieder wurden Eva und Laura auch von anderen aufgefordert. Wolfram Junior fand das Tanzen blöd. Er langweilte sich. Aber weil er länger aufbleiben durfte, sagte er nichts. Er war sich sicher, sobald er etwas sagte, musste er ins Bett.

Gegen 23.00 Uhr zogen sie sich auf ihre Zimmer zurück. Im Fahrstuhl erinnerte Wolfram: „Vergesst bitte nicht, dass wir uns morgen spätestens 9.00 Uhr beim Frühstück treffen wollen, sonst schaffen wir unseren Zeitplan nicht.“

„Was hast du denn morgen noch alles vor?“, fragte Maria neugierig.

Doch Wolfram schüttelte nur lächelnd den Kopf: „Überraschung!“

Im Zimmer umarmte Maria ihren Mann noch einmal und küsste ihn lange. „So ein schöner Tag! Und du hast wieder mal alles im Voraus organisiert, stimmt’s?“

Er nickte.

„Wie machst du das nur?“

Da antwortete er: „Das habe ich schon als Kind gelernt. Mein Vater sagte damals, dass ich das gar nicht zeitig genug lernen könne, wenn ich einmal die Firma leiten wolle.“

„Na klar! Die Firma! Dort hast du das gelernt. Das hätte ich mir auch denken können. Trotzdem war es heute wunderschön. Und morgen geht es weiter?“

„Ja, sicher! Du kennst doch hier noch gar nicht viel; ich übrigens auch nicht. Nur Dagmar kennt sich hier recht gut aus. Sie ist in Sachsen aufgewachsen und Dresden ist die sächsische Hauptstadt. Hoffentlich hält das Wetter morgen auch so durch wie heute.“

„Das hast du bei deiner Planung wohl nicht mit bestellt?“, fragte Maria lachend und verschwand im Bad.

Mit schnellen Schritten kam Wolfram hinterher. „Wenn du heute nicht Geburtstag hättest, müsste ich dich dafür übers Knie legen“, meinte er scherzhaft. Dann lachte er, umarmte und küsste sie.

Als sie schon im Bett lagen, kuschelte sich Maria ganz nah an ihren Mann und sprach: „Nachdem Eva zur Welt kam, hatte ich mir von Gott etwas Glück gewünscht. Einen Vater für sie und für mich einen Mann, der mich wenigstens ein bisschen liebt. Nach Laura war ich schon bescheidener. Da wollte ich nur noch einen Mann, der die Kinder akzeptieren konnte. Dann kam Julia. Von da an erwartete ich kein Glück mehr. Ich ergab mich in mein Schicksal. Fast drei Jahre später tratest du in mein Leben und liebtest mich, so wie ich war. Anfangs hatte ich Angst, dass dieser Traum vom Glück irgendwann zu Ende ging. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es Männer wie dich gibt. Heute bin ich überglücklich, dass sich damals unsere Wege kreuzten. Nie hätte ich damals geglaubt, dass ein Mensch überhaupt so glücklich werden kann, wie ich es bin.“ Sie streichelte ihren Wolfram. „Du bist mehr, als ich vom Leben erwartet habe. Du bist mein Engel, der mich immer beschützt und auch sehr viel Verständnis für mich hat. Besonders vor zehn Jahren musstest du noch einmal viel Verständnis für mich aufbringen, weil ich dieses Inkognito-Leben nicht mehr akzeptieren wollte. Als ich damals wieder normal denken konnte, dachte ich, jetzt sei alles aus. Ich hatte mich schon damit abgefunden, dass du dich von mir trennst, und habe bitterlich geweint. Doch du hast mir verziehen. Du hast selbst dafür noch Verständnis gehabt, obwohl ich beinah dein einfaches Leben ruiniert hätte. Was bist du doch für ein wundervoller Mann.“ Wieder drückte sie ihren Wolfram ganz nah an sich heran. „Ich wünsche mir für unsere Töchter genau so einen Mann, wie du einer bist, mein lieber Wolfram. Ich liebe dich!“

Er nahm sie zärtlich in den Arm und fügte hinzu: „Und unserem Junior wünsche ich eine Frau, wie du eine bist; genauso schön und ebenso ehrlich. Und auch ein bisschen so verrückt wie du. Dann wird sein Leben nie langweilig“, fügte er lachend hinzu. Sie umarmten sich noch einmal ganz fest und schliefen so ein.

Als Wolfram und Maria am nächsten Tag zum Frühstück erschienen, war der Rest der Geburtstagsgesellschaft schon beim Essen. Manfred meinte: „Erst drängeln, dass wir zeitig frühstücken, und dann seid ihr die Letzten.“

Wolfram sah seine Maria an und sagte lächelnd: „Wir konnten uns eben nicht so zeitig trennen. Im Bett war es so schön warm.“

Nach dem Essen gaben sie ihre Zimmer ab und besuchten das Grüne Gewölbe. Das ließ besonders bei den Frauen die Herzen höher schlagen. All die vielen wertvollen Schmuckstücke im Original zu sehen, war schon ein Erlebnis.

Nach dieser Besichtigung gingen sie zu ihren Autos, fuhren über das Blaue Wunder und parkten kurz danach. Hier fuhr die älteste Schwebebahn ihrer Art weltweit. Sie war schon 110 Jahre alt. Mit ihr fuhren sie hoch zur Loschwitzhöhe. Von da aus wanderten sie gemütlich hinüber zum Weißen Hirsch, von wo aus sie mit der historischen Standseilbahn wieder hinunter zu ihren Autos fuhren. Die beiden Bahnen waren schon ein Erlebnis, das aber mehr die Männer zu würdigen wussten.

Als sie wieder im Auto saßen, ging es weiter zum Schlosspark Pillnitz. Hier steuerten sie zuerst das Schlosshotel an, in dem sie ausgiebig zu Mittag aßen. Anschließend wandelten sie durch den Schlosspark, besuchten die Elbgondel und staunten über die vielen seltenen Pflanzen. Julia meinte begeistert: „So müssten wir unseren Park in Sonnenberg auch anlegen.“

Alle schmunzelten vor sich hin, ausgenommen Junior. Der klärte seine Schwester auf: „Willst du das alles pflegen? Onkel Manfred schafft das niemals allein. Sei froh, dass unser Park weniger Arbeit macht.“

„Danke, Wolfram!“, sagte Manfred zu ihm.

Nachdem sie die Parkanlage ausgiebig bewundert hatten, traten sie die Heimreise an.

Dresden lag schon weit hinter ihnen und Maria schwärmte immer noch. „Das war eine schöne Geburtstagsüberraschung. So etwas könnten wir viel öfter machen.“

„Das können wir, aber vermutlich werden unsere Mädchen nicht immer mitkommen. Für sie sind inzwischen andere Dinge wichtig.“ Dabei lächelte Wolfram geheimnisvoll und seine Frau verstand ihn.

Doch da meldete sich Julia von hinten: „Natürlich würden wir mitkommen. Es war doch schön.“

„Auch wenn dein Disko-Sonnabend ist?“, warf ihr Vati ein.

„Na, dann nicht. Aber die anderen Sonnabende schon.“

„Aber für Eva und besonders für Laura ist sonnabends immer Disko. Na ja, dann können wir immer mit einem Auto fahren. Das ist einfacher.“

In Sonnenberg fuhren sie nicht gleich nach Hause, sondern zum Hotel Goldener Stern, wo Wolfram das Abendessen bestellt hatte. Das gab dem Tag noch einmal einen schönen Abschluss.

Als sie schon im Bett lagen, umarmte Maria ihren Mann noch einmal für dieses wunderschöne Wochenende. Dabei dachte sie daran, wie solche großen, aber auch kleinen Überraschungen ihre Liebe immer wieder auffrischten. Sie küsste ihren Wolfram und sagte ihm: „Ich habe noch nicht einen Tag bereut, seit wir zusammen sind. Du bist ein wundervoller Mann. Bevor wir uns kennengelernt haben, glaubte ich immer, solche Männer gäbe es nur im Märchen, in Büchern oder Filmen. Und sollte es doch hier und da einen geben, dann ist er längst verheiratet. Aber alles kam ganz anders. Du bist da und du … liebst du mich noch?“

„Ja“, hauchte er und kuschelte sich ganz dicht an sie heran. Ach, war das schön. Und wieder schliefen sie so ein.

Am Sonnabend nach Muttis Geburtstag wollte Julia das erste Mal mit zur Disko gehen. Eva ging schon deshalb auch mit. Bei der Auswahl, was Julia am besten anzog, half ihr Laura. Sie war ja in der Familie der Spezialist für die Disko.

Als sie 19.30 Uhr das Haus verlassen wollten, erinnerte Wolfram seine jüngste Tochter: „Bis 22.00 Uhr! Vergiss das nicht. Und ihr beiden Großen: Achtet ein bisschen auf Julia.“

Damit verließen sie das Haus, gingen wie immer durch Brünners Garten und ihren Hausflur, dann verließen sie das Grundstück. Diesen Weg benutzten sie auch, wenn sie zur Schule gingen. Doch heute sollte es ja zur Disko gehen und Julia war richtig aufgeregt. Laura hatte ihr alles genau erzählt, was auf sie zukommen könnte und wie sie sich am besten verhalten sollte.

Da Sonnenberg nicht groß war, mussten sie auch nicht lange laufen. Nach zwanzig Minuten waren sie am Saal. Obwohl die Disko schon 19.00 Uhr begonnen hatte, waren viele Jugendliche noch draußen vor dem Gebäude. Meistens waren es Jungs, die erst mal sehen wollten, ob es sich lohnte, hineinzugehen. Als die drei Schwestern auftauchten, kam Leben in die Jungs.

„Na, Laura, hast du heute Verstärkung mitgebracht?“

Sie konterte: „Meinst du, die brauche ich? Wenn ich dich ansehe, kann ich mir das nicht vorstellen!“

Damit gingen die drei in das Gebäude. Der junge Mann sah mit zerknirschtem Gesicht hinterher. Seine Freunde hingegen lachten. „Tja, mit Laura solltest du dich besser nicht anlegen. Die lässt sich nicht die Butter vom Brot nehmen.“

Ein anderer der Freunde meinte: „Du kennst sie noch nicht. Laura ist ein prima Kumpel, aber reizen sollte man sie nicht. Die ist nicht auf den Mund gefallen.“

Die drei Schwestern bezahlten und gingen in den Saal. Hier klärte Laura ihre kleine Schwester auf: „Du darfst dir von Anfang an nicht alles gefallen lassen. Und wenn du mal Hilfe brauchst, dann sag mir Bescheid. Ich kenne hier die meisten und die helfen auch meiner Schwester.“

Eva bewunderte Laura, wie sie diesem jungen Mann vor dem Eingang die Stirn geboten hatte. „Ich staune immer wieder, wie du das machst. Dem da draußen hätte ich nichts antworten können. Ich bin nicht so schlagfertig.“

„Das lernt man, Eva. Du musst nur öfter mitkommen“, antwortete Laura lachend.

„Ich werde das wohl nie so locker sehen können wie du“, seufzte Eva. Im Saal war es kaum mehr möglich, sich zu unterhalten. Dafür spielte gute Musik. Es gab hier nur Tische für vier Personen. Laura suchte einen günstigen für sich und ihre Schwestern aus. Doch an dem Tisch saß schon ein junger Mann. Das störte Laura nicht. Als sie sich setzen wollten, sagte dieser: „Hey, Laura, die Plätze sind aber schon besetzt!“

Da ging sie auf ihn zu und rief ihm ins Ohr: „Das klang jetzt so, als wolltest du nie wieder mit mir tanzen. Habe ich das richtig gehört?“

Der junge Mann biss die Zähne zusammen und zeigte an, dass sich die drei Schwestern setzen konnten.

Eva fragte, indem sie ganz nah an Lauras Ohr ging: „Wie hast du das gemacht?“

Ihre Schwester lachte und erwiderte: „Man muss die Jungs nur kennen und wissen, wie man mit ihnen umgehen muss.“

Fünf Minuten später war Laura mit ihrer kleinen Schwester auf der Tanzfläche. Eva sah ihnen zu und freute sich mit Julia, dass sie jetzt auch mitkommen durfte.

Nach einer Weile setzten sich die beiden Schwestern wieder und tranken erst einmal etwas. Laura hatte ihrer Mutter versprechen müssen, dass Julia keinen Alkohol trinken würde. Sie sah das nicht ganz so streng. Ein oder zwei Gläser Wein hätte sie ihr schon gegönnt, aber Julia wollte nur Cola oder einfache Limonade. So konnte sie das Versprechen, welches sie ihrer Mutter gegeben hatte, problemlos halten.

Es dauerte gar nicht lange und Laura war schon wieder mit einem Jungen auf der Tanzfläche. Bald kam auch einer, der Eva aufforderte und Julia saß mit dem jungen Mann, der den Tisch von Anfang an reserviert hatte, allein am Tisch. Dieser war mindestens so alt wie Laura. Trotzdem fragte er, ob sie mit ihm tanzen wolle. Jetzt hätte sie viel darum gegeben, wenn Laura in der Nähe gewesen wäre. So musste sie selbst entscheiden. Also nickte sie und ging mit ihm ebenfalls tanzen. Nach drei Musiktiteln wollte sich Julia wieder setzen. Der junge Mann brachte sie zurück an den Tisch und ging dann zur Bar.

Als Laura wieder zu ihr kam, erzählte Julia, mit wem sie getanzt hatte. Laura nickte verwundert und sagte ihrer kleinen Schwester: „Der ist harmlos. Ich kenne ihn gut. Er geht in meine Klasse.“ Julia war beruhigt. Auf ihre Schwestern konnte sie sich wirklich verlassen, dachte sie.

Inzwischen saß noch ein zweiter Klassenkamerad von Laura mit am Tisch. Das war auch kein Problem, denn meistens war mindestens eines der Mädchen auf der Tanzfläche. Als der DJ eine kurze Pause machte und ein Stuhl am Tisch fehlte, setzte sich Laura einfach bei einem von den beiden auf den Schoß. Ihr „Untermann“ begann ein Gespräch mit der Frage: „Deine kleine Schwester ist wirklich erst vierzehn Jahre alt?“

„Ja. Und vergiss das nicht, wenn du wie vorhin mit ihr tanzt.“

Julia hingegen war ganz stolz. Man hatte sie älter geschätzt. Nun fragte sie Laura: „Ist das dein Freund?“

„Was? Ich?“, entgegnete der Gemeinte.

Doch Laura schnitt ihm weitere Äußerungen ab, indem sie sagte: „Das sind alles meine Freunde. Stimmt’s?“ Dabei stieß sie ihren Stuhlnachbar leicht an.

„Hm!“, war die Antwort. Dann fragte er: „Warum kommst du eigentlich immer allein, wenn du so tolle Schwestern hast?“ Laura konterte: „Kannst du schweigen?“

Der Angesprochene nickte und sagte: „Selbstverständlich!“ „Siehst du, ich auch!“

„Was? Das ist ja unfair“, meinte der Junge am Tisch. Da ergänzte Laura: „Du kannst zwar alles essen, aber musst noch lange nicht alles wissen.“ Sie trank noch etwas, da setzte die Musik wieder ein.

Laura und ihre Sitzgelegenheit standen schon bald wieder auf dem Tanzboden.

Die Zeit bis 22.00 Uhr verging wie im Flug. Julia hatte Angst, dass sie zu spät nach Hause kommen würde. Deshalb wollte sie gehen. Laura hielt sie zurück und rief ihr zu: „Warte, bis Eva von der Tanzfläche zurückkommt. Sie wollte mit dir nach Hause gehen.“

„Aber ich muss doch 22.00 Uhr zu Hause sein.“

Da winkte Laura nur ab. Zum Glück für Julia kam Eva bald. Sie verabschiedete sich von ihrem Tänzer mit der Begründung, dass sie ihre kleine Schwester nach Hause bringen müsse. Man sah ihm an, dass er nicht wusste, ob das echt war oder nur eine gelungene Ausrede. Die beiden Schwestern verabschiedeten sich von Laura und den beiden Jungs am Tisch und gingen.

Kurz vor halb elf kamen sie zu Hause an. Vati holte tief Luft, aber Eva war schneller: „Wir haben pünktlich 22.00 Uhr den Saal verlassen. Das war doch in Ordnung so?“ Laura hatte ihr gesagt, dass sie so am besten mit Vati umgehen könne.

Wolfram hingegen zog die Augenbrauen hoch, lächelte und nickte. Dann fragte er Julia: „Und, wie war’s?“

„Himmlisch! Am liebsten würde ich nächsten Sonnabend wieder mitgehen.“

„Unsere Abmachung war aber einmal im Monat. Wenigstens vorläufig.“ Julia nickte. „Hm! Ich weiß.“

„Dann mach dich bettfertig. Es ist schon spät.“

„Ja, Vati.“

Als auch Eva sich zurückziehen wollte, sagte ihre Mutter: „Warte mal noch einen Moment.“ Julia hatte das Zimmer verlassen, da fragte sie: „Wie ist es nun wirklich gelaufen?“

„Ach, es war ganz nett. Wir saßen bei einem Klassenkameraden von Laura mit am Tisch.“

„Hat Julia irgendetwas getrunken?“

„Ja. Aber nur Cola und Limonade. Und das sogar freiwillig.“ Dabei lächelte sie ihre besorgte Mutter an.

„Na, hoffentlich stimmt das auch!“, sagte jetzt ihr Vater.

„Vati! Ich lüge nicht!“, antwortete Eva mit Nachdruck.

„Schon gut. Das hat doch gar niemand behauptet.“ Da verabschiedete sich Eva und ging in ihr Zimmer. Sie wollte jetzt allein sein.

Am folgenden Sonnabend, es war der Ostersonnabend, ging Laura wieder allein zum Tanz. Als sie Sonntagfrüh aus der Disko zurückkam, schlich sie leise zu ihrer großen Schwester ins Zimmer. Doch Eva schlief längst. Da weckte Laura sie mit den Worten: „Ich muss dich dringend sprechen.“

„Wie …? Was denn …? Muss denn das jetzt sein?“ Dann sah sie auf ihre Uhr und fragte noch einmal: „Weißt du überhaupt, wie spät es ist?“ Laura nickte und sagte: „Dein Tänzer von voriger Woche hat nach dir gefragt. Er würde sich freuen, wenn du nächste Woche wieder mitkommen würdest.“

„Hättest du mir das nicht morgen sagen können? Ich bin müde. Außerdem sind wir da in Håp Land zum zehnjährigen Jubiläum“, antwortete Eva. Doch plötzlich war sie hellwach: „Was hast du gerade gesagt? Wer hat nach mir gefragt?“

„Einer von der Ordnungsgruppe. Du musst vorige Woche mit ihm getanzt haben.“

„Ich habe mit mehreren getanzt. Etwa der, dem Michael im Januar so geholfen hatte? Wie heißt er denn?“

„Danach habe ich ihn nicht gefragt. Aber es war auch nicht der, dem Michael zur Seite stand.“

Eva meinte enttäuscht: „Das hättest du dann auch morgen Früh erzählen können.“

„Sollte ich das wirklich morgen vor Mutti und Vati beim Frühstück erzählen?“

„Na, das hätte auch nicht unbedingt sein müssen“, antwortete Eva nun versöhnlich.

Da begann Laura wieder: „Ich glaube, der will was von dir. Na, da muss er eben warten, bis du Zeit hast.“

„Schade! Ausgerechnet jetzt fliegen wir nach Håp Land. Meinst du wirklich, dass er von mir was will? Was war denn das für einer?“

„Oh! Er sah gut aus und war auf jeden Fall schon etwas über zwanzig. Willst du was von ihm?“

„Wie denn? Ich kenne ihn ja gar nicht.“

„Das muss der gewesen sein, mit dem du zuletzt getanzt hast, bevor du mit Julia gegangen bist. Kannst du dich denn nicht an ihn erinnern?“

Eva schüttelte den Kopf. Sie konnte sich einfach nicht an sein Gesicht erinnern. Aber er hatte ihr viele schöne Komplimente gemacht. Während Laura das Zimmer verließ, dachte Eva an diesen jungen Mann. Er gefiel ihr. Mit den Gedanken an ihn schlief sie wieder ein.

Wolfram hatte mit Michael abgesprochen, dass er ihn mit seiner Schwester am Ostermontag abholen und das nächste Wochenende mit nach Håp Land zum zehnjährigen Urlauberdorf-Jubiläum nehmen würde. Es waren Osterferien und Michaels Mutter hatte sowieso keinen Urlaub. Trotzdem brauchte Michael einige Zeit, um seine Mutter von einem Aufenthalt in Sonnenberg und Håp Land zu überzeugen. Doch am Ende stimmte sie zu.

Wolfram holte die beiden Geschwister am Ostermontag nach dem Mittagessen im Schwarzwald ab. So konnten sie in Sonnenberg mit ihnen Kaffee trinken. Auf Michaels und Manuelas Platz stand je ein Osterkörbchen mit Süßigkeiten. Darüber wiederum freute sich besonders Manuela sehr. Sie liebte süße Sachen.

Michael war wie immer. Er stand mit Julia seit Januar in Telefon- und SMS-Kontakt, aber daran fand er nichts Ungewöhnliches. Julia versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Doch sie strahlte so sehr, dass ihre Mutter und auch ihre beiden Schwestern innerlich lächelten. Nach außen taten sie aber, als ob sie nichts merkten.

Nach der Mahlzeit trafen sich Michael und Julia wie zufällig auf der Terrasse, denn es war schon ziemlich warm. Wolfram und Maria schmunzelten, als sie es sahen, wussten sie doch von der Schwärmerei ihrer Tochter. Julia spürte, wie ihnen die Blicke im Nacken saßen.

„Woll’n wir uns ein bisschen die Beine vertreten?“, fragte Julia ihn. „Klar. Warum nicht?“

Julia steuerte das Wäldchen hinter der Villa an. Auf dem Weg dorthin fragte sie Michael: „Hast du inzwischen eine Freundin?“

Er schüttelte den Kopf. „Die Mädchen bei uns sind alle irgendwie doof. Entweder sind sie zu jung oder suchen nach einem älteren Jungen.“

Das war für Julia wie ein Stich ins Herz. War sie auch zu jung für Michael? Jetzt müsste Laura hier sein. Sie hätte das schnell herausbekommen. Vorsichtig fragte Julia: „Laura ist dir aber nicht zu jung?“ „Laura? Nein.“ Dabei lachte er. „Eher zu alt.“

Das verstand Julia nicht. „Wieso zu alt? Sie ist doch erst sechzehn.“

Michael lächelte und klärte Julia auf: „Das stimmt schon, aber sie sucht sich keinen Freund, der genauso alt ist. Du würdest doch auch keinen Freund haben wollen, der gerade mal vierzehn ist. Hast du schon einen?“ Julia spürte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg. Zum Glück merkte Michael nichts davon. Deshalb fragte sie ihn schnell: „Und wie alt müsste deine Freundin sein?“

Michael überlegte und sagte dann: „Na, so ein bis zwei Jahre jünger vielleicht.“

„Drei Jahre jünger ist dir dann schon wieder zu jung?“

„Hm? Das kommt drauf an. Wenn sie so ist wie du sicher nicht, aber manche in dem Alter sind schon noch ziemlich kindisch.“

Julia fiel ein Stein vom Herzen. Aber gleichzeitig war sie unglücklich. Da gab sie sich solche Mühe und er merkte einfach nicht, dass sie ihn liebte. So gingen sie langsam wieder zurück.

Im Keller fanden sie die anderen beim Tischtennis. Julia fragte gleich ihre Schwester: „Laura, kannst du mir mal helfen?“

„Ja, was ist?“

„Nicht hier.“ Sie gingen rüber zum Kellerbadebecken und schlossen die Tür hinter sich. Nun fragte Laura erneut, was denn los sei. „Ich habe versucht Michael zu zeigen, dass ich ihn liebe, aber er reagiert gar nicht.

Ich bin so unglücklich.“

Laura versuchte ernst zu bleiben. Ihre Schwester war aber auch naiv. „Du gehst das völlig falsch an, Julia. Und vor allem darfst du einem Jungen nie hinterherrennen. Das funktioniert nie! Glaub mir.“

„Was soll ich denn dann machen? Hilf mir doch bitte!“, flehte Julia ihre Schwester an.

„Das mach ich. Aber du musst auch ein bisschen Geduld haben. Michael hat sicher noch nicht begriffen, dass du nicht mehr die kleine Julia von früher bist. Jungs sind manchmal sehr schwerfällig beim Umdenken. Das kannst du dir ruhig merken.“

„Meinst du wirklich?“, fragte Julia ungläubig.

„Ganz sicher! Da kenne ich mich aus. Jetzt müssen wir also Michael erst mal beibringen, dass du eben nicht mehr die kleine Julia bist. Ich weiß noch nicht wie, aber das kriegen wir schon hin. Eva ist ja auch noch da.“

„Aber bitte so, dass Mutti und Vati nichts merken“, bettelte Julia.

„Na, das ist ja wohl selbstverständlich. Glaubst du, mir würde das gefallen, wenn unsere Eltern alles erfahren würden?“

Julia war beruhigt und gleichzeitig stolz auf ihre Schwester, die so viel Verständnis für sie hatte.

Laura überlegte eine Weile und sagte dann: „Wir fliegen doch nächste Woche nach Håp Land. Dort wird sich schon eine Möglichkeit finden. Wie gefällt dir eigentlich Arne?“

Julia zuckte mit den Schultern. „So ist er ja nicht verkehrt, aber mehr eben nicht.“

„Dann solltest du dich vielleicht mal mehr um ihn kümmern. Das muss Michael doch auffallen“, riet ihr Laura.

„Und wenn er dann böse mit mir ist? Oh, das ist keine gute Idee.“ „Jungs macht man am besten auf sich aufmerksam, wenn man sie eifersüchtig macht. Glaub mir, das könnte funktionieren. Und wenn nicht, dann sind immer noch Eva und ich da.“

„Und du meinst, ich soll so tun, als ob mir Arne gefällt?“

„Ja, aber nicht zu auffällig. Sonst durchschauen dich beide und das wäre dann nicht gut. In Håp Land bei der Jubiläumsfeier ist abends ganz bestimmt auch Disko. Ich werde mal mit Mutti sprechen, dass du mitdarfst. Die Einmal-im-Monat-Regel gilt doch nur für Sonnenberg.“

„Oh, Laura, wenn du das schaffst …“

„Das wird schon klappen. Hauptsache, du fällst bis dahin nicht unangenehm auf. So, jetzt geh’n wir aber wieder rüber zu den anderen.“

Sie verließen das Kellerbad und spielten mit den anderen Tischtennis.

Herzensöffnung (3): Später

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