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Das Leben geht weiter

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Als der Winter vorbei war, dachte Wolfgang daran, dass ja sein erlebnisreicher Ausflug nach Posid nun schon ein dreiviertel Jahr her war. Alle Erinnerungen daran verblassten langsam und hatten in ihm schon fast einen unwirklichen Eindruck erreicht. Nur die beiden Rosen in seinem Schlafzimmer erinnerten ihn täglich an seinen Schlafraum im Wohntrichter des Bergkristall-Clans und an Diane.

Seine Waldspaziergänge waren inzwischen zur Gewohnheit geworden. Am Wochenende ging er ständig vormittags in den Wald, zu dem er ja inzwischen nur fünfzehn Minuten zu Fuß hatte. Im Februar war Wolfgang in den Leipziger Stadtteil Leutzsch zurückgezogen, in dem er ja auch großgeworden war. Hier in Waldnähe fühlte er sich wohl und konnte bei seinen Spaziergängen stets frische Kraft für die neue Arbeitswoche tanken. Zusätzlich hatte er sich so auch seinen Traum von Weihnachten zum Teil erfüllt. Wolfgang wohnte jetzt wirklich in der Nähe eines Waldes, welcher fast so dicht war, wie der, den er in Posid kennengelernt hatte.

Bei seinen Wanderungen durch den frühlingshaften Wald begegnete ihm immer öfter eine etwa dreißigjährige Frau, die ihn dabei stets leicht anlächelte, wenn sie ihn erkannte. Manchmal aber, wenn sie ihn nicht bemerkte, strahlte ihre ganze Erscheinung große Traurigkeit aus.

Anfangs wunderte sich Wolfgang nur über diese Frau. Doch mit der Zeit wurde er neugierig, denn er traf sie relativ häufig und immer allein. Es verging kaum ein Wochenende, an dem sie sich nicht begegneten.

Einmal im Mai sah er sie auf einer Bank neben der großen Waldwiese sitzen, auf der auch einige Spielgeräte für Kinder standen. Hier hatte Wolfgang als Kind ebenfalls oft gespielt. Damals gab es hier noch die Gaststätte Der wilde Mann, in der es wunderbare Fassbrause für zehn Pfennige gab. Daran erinnerte sich Wolfgang oft, wenn er hier vorbeikam. Doch an diesem Maivormittag traf er hier diese unbekannte Frau. Da niemand weiter in der Nähe war, ging Wolfgang davon aus, dass die Frau auch diesmal wieder ganz allein hier war. Nun grüßte er sie freundlich und fragte, ob er sich mit auf die Bank setzen dürfe.

Sie nickte und meinte: „Die Bank gehört mir nicht. Sie ist für alle da.“

„Das stimmt schon, aber … na ja, ich wollte Sie nicht stören.“

„Sie stören mich nicht.“

Nun suchte er krampfhaft einen Gesprächsstoff, um ein sinnvolles Gespräch mit ihr in Gang zu bringen. „Sie sind oft hier im Wald.“

„Ja, es gibt nichts Schöneres als die Ruhe des Waldes.“

„Da haben Sie recht. Mir gefällt es hier auch sehr. Vor allem die angenehme Ruhe tut mir gut.“

Da sah sie ihn verwundert mit ihren traurigen Augen an und meinte: „Es ist ungewöhnlich, dass sich Männer nach der Ruhe des Waldes sehnen.“

„Diese Ruhe im Wald hat so etwas Besinnliches in sich. Deshalb gehe ich lieber vormittags hierher, wenn es nur wenige Spaziergänger gibt. Geht das Ihnen auch so?“

Sie nickte und ihr Gesicht zeigte wieder diese Traurigkeit, die er schon öfter bei ihr gesehen hatte. Um sie aufzumuntern, sagte er: „Ist es nicht seltsam, dass wir uns so oft hier im Wald begegnen. Und jetzt sitzen wir hier, als würden wir uns schon lange kennen. Übrigens, ich heiße Wolfgang.“

Sie lächelte jetzt etwas und erwiderte: „Ich weiß.“

Ruckartig dreht er sich jetzt ganz zu ihr und starrte sie an. In ihrem Gesicht war aber nichts zu erkennen, was ihn an irgendeine Begebenheit erinnerte. „Sie kennen mich?“, fragte er unsicher.

Sie nickte. „Sie sind hier in Leipzig-Leutzsch in die Schule gegangen?“

„Ja! Sie etwa auch?“

Wieder nickte sie. „Ich war genau wie Sie im Schulchor.“

Völlig überrascht antwortete Wolfgang: „Was denn, Sie waren … Du warst … im Schulchor?“ Wieder suchte er in ihrem Gesicht und auch in seinem Gedächtnis nach Erinnerungen, aber er fand nichts.

„Sie werden sich nicht an mich erinnern. Sie waren damals sechzehn und ich erst zehn Jahre alt.“

Erleichtert sagte Wolfgang: „Oh! Dann wundert es mich nicht. Ich kann mich wirklich nicht erinnern. Können wir trotzdem beim Du bleiben?“

Wieder nickte sie.

„Darf ich fragen, wie du heißt?“

„Marina.“

„Wohnst du immer noch in Leutzsch?“

„Ja, wieder. Ich wohne in der Nähe des Diakonissenhauses. Und du?“

„Ich wohne in der Phillip-Reis-Straße. Kennst du sie?“

Jetzt lachte sie kurz auf. „Ich habe als Kind in der Gaußstraße gewohnt. Das ist gleich bei deiner Straße. Das Haus gibt es jetzt aber nicht mehr. Inzwischen ist dort eine große Wiese.“

„Jetzt verstehe ich auch, weshalb du immer gelächelt hast, wenn wir uns begegnet sind. Du hast mich erkannt.“

Sie nickte und stand auf. „Ich müsste jetzt wieder zurück.“

„Darf ich dich noch ein Stück begleiten?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ja.“

Auf dem Weg tauschten sie jetzt Erinnerungen an die Zeit im Schulchor aus, bis sie den Wald verließen. Da meinte sie: „Du musst jetzt nach rechts und ich geradeaus.“

Wolfgang nickte. „Heute ist Sonntag. Treffe ich dich am Sonnabend wieder?“

Sie hob erneut ihre Schultern und sah ihn dabei in die Augen.

„Sagen wir 10.00 Uhr wieder auf der Bank am ehemaligen Wilden Mann?“, fragte er zum zweiten Mal.

Sie nickte nur stumm, verabschiedete sich und ging in ihre Richtung. Wolfgang lief langsam nach Hause. Was war das? Da begegnete er einer Frau, die ihn schon seit der Schulzeit kannte. Vielleicht war das gar kein Zufall, dass sie sich so oft trafen? Vielleicht wollte sie ihm hier im Wald begegnen, da sie ihn ja kannte. Und allein schien sie auch zu sein. Nun dachte er über sie nach und stellte fest, so verkehrt sah sie gar nicht aus. Anfangs fand er sie eher unscheinbar, doch jetzt sah sie in seinen Augen durchaus attraktiv aus. Als er bei sich zu Hause war, stand es für ihn fest. Diese Frau musste er näher kennen lernen. Aber wie?

Die ganze Woche überlegte er, wie er es anstellen könnte, diese Marina besser kennenzulernen, ohne aufdringlich zu wirken. Doch alles, was ihm dazu einfiel, waren billige Anmachversuche, die er ablehnte.

Am Sonnabendvormittag regnete es. Auch das noch, dachte Wolfgang. Vielleicht kommt sie bei diesem Wetter gar nicht. Da hat es sicher wenig Sinn in den Wald zu gehen. Aber wenn sie vielleicht doch kommt und umsonst auf mich wartet? Dann verpassten sie sich ja! Das wollte Wolfgang auf keinen Fall. Also zog er sich wetterfest an, nahm seinen Regenschirm und ging so los, dass er kurz vor 10.00 Uhr an der verabredeten Stelle ankommen würde.

Als er im Wald um die letzte Ecke bog, sah er, wie neben der Bank eine Gestalt unterm Regenschirm stand. Sie ist also doch gekommen! Ein Glück, dass ich nicht auf meine Bequemlichkeit gehört habe. Da merkte er, wie trotz des Wetters Freude in ihm hoch kam.

Mit den Worten: „Das ist vielleicht ein blödes Wetter. Muss denn das ausgerechnet heute regnen?“, begrüßte er sie.

Marina hob wortlos ihre Schultern und sah ihn erwartungsvoll an.

„Hier hinten ist gleich eine große gemauerte Eisenbahnbrücke. Gehen wir am besten dort hin. Darunter ist es wenigstens trocken.“

Sie nickte und so gingen sie die 150 Meter bis zur Brücke. Hier staunten sie nicht schlecht, denn auch unter der Brücke stand eine alte Gartenbank. Sicher hatte die mal irgendjemand bei Regen hierher getragen. Sie schlossen ihre Schirme und setzten sich.

Nun erzählten sie wieder über ihre Erlebnisse in der Schule und im Schulchor, über die Lehrer, die sie mochten und die, auf die sie damals sehr gern verzichtet hätten.

Nach einer Stunde sagte sie: „Mir ist kalt. Ich muss nach Hause.“

Auch Wolfgang kroch die Nässe langsam unter die Sachen. Er nickte und antwortete: „Ich habe Zeit und bringe dich nach Hause.“ Gespannt wartete er ihre Reaktion ab. Doch sie nickte nur. Also standen sie auf und verließen den Wald in ihre Richtung.

Vor ihrem Haus fragte er sie: „Darf ich mich bei dir etwas aufwärmen? Meine Schuhe sind durch.“

Marina holte tief Luft, sah ihn traurig an und erwiderte: „Ich verstehe dich, aber ich bin nicht auf Besuch vorbereitet.“

„Aber das macht doch nichts. Darf ich mich trotzdem etwas aufwärmen?“

Verständnisvoll nickte sie. Auf der Treppe erklärte sie ihm, dass sie mit zwei Studentinnen in einer Wohngemeinschaft leben würde und nur ein Zimmer hätte. Dabei beobachtete sie ihn ängstlich, wie er wohl darauf reagieren würde. Doch Wolfgang sagte nur lächelnd: „Hauptsache es ist warm und trocken.“

Eine der beiden Studentinnen begrüßte ihn in der Wohnung mit zusammengezogenen Augenbrauen. Ihre Ablehnung ihm gegenüber war deutlich zu spüren. In Marinas Zimmer sah sich Wolfgang um und wunderte sich, wie spartanisch sie doch lebte.

Als ob sie es erraten hatte, erklärte sie ihm: „Wundere dich bitte nicht. Ich erkläre dir gleich, warum ich hier so einfach eingerichtet bin. Erst einmal koche ich uns einen Kaffee zum Aufwärmen.“

„Mir bitte nicht. Ich trinke keinen Kaffee.“

„Was trinkst du dann?“

„Tee, aber bitte keinen Schwarzen.“

„Kräutertee?“

„Ja gern.“

Marina verschwand in die Küche und Wolfgang sah sich noch einmal in ihrem Zimmer um. Hier stand wirklich nur das Notwendigste, ein Schrank, eine Couch, ein Tisch, zwei Stühle, ein Computertisch mit Schreibtischstuhl und ein kleines Schränkchen, auf dem ein Kofferradio stand. Er setzte sich auf die Couch und überlegte, wie er das Mittagessen lösen könnte. Schließlich war es schon nach 13.00 Uhr und sein Magen meldete sich langsam. Doch da kam Marina schon mit zwei dampfenden Tassen herein und setzte sich neben ihn.

Nun begann sie seufzend: „Ich hatte auch mal eine kleine, aber nett eingerichtete Wohnung. Später habe ich meinen Freund kennen gelernt und bin irgendwann zu ihm gezogen. Da er eine komplette Wohnung hatte, habe ich mich von dem meisten aus meiner Wohnung getrennt. Voriges Jahr im September ist er mit seinem Motorrad tödlich verunglückt. Kurz danach haben seine Eltern darauf bestanden, dass ich möglichst bald aus seiner Wohnung ausziehen möge, aber all sein Hab und Gut dabei zurück lassen soll. So bin ich hier in der WG gelandet. Ich wohne erst seit zwei Monaten hier. Das ist alles, was ich mitnehmen durfte.“ Sie hob die Schultern und sah ihn wie ein Häufchen Unglück an.

„Und deine Eltern?“

„Die sind gleich, nachdem ich meine Wohnung hatte, zur Schwester meiner Mutter in den Schwarzwald gezogen.“, meinte sie und in ihrer Stimme schwang leichte Wehmut mit. „Ich war kein Wunschkind und das habe ich immer gespürt.“ Traurigkeit machte sich auf ihrem Gesicht breit. „Dann kam ein Freund und ich habe geglaubt, jetzt endlich eine richtige Familie gefunden zu haben.“

„Du hast ihn sicher sehr gern gehabt?“

Sie wiegte mit dem Kopf und nickte anschließend. „Die große Liebe war es nicht. Trotzdem hatte ich ihn gern. Aber er war wohl mehr in sein Motorrad verliebt als in mich.“ Dann hob sie wieder ihre Schultern und sah Wolfgang fragend an.

„Da bist du vom Leben aber auch nicht gerade verwöhnt worden.“

Wieder nickte sie und zuckte mit den Schultern.

Er nahm einen Schluck. Den angebotenen Zucker lehnte Wolfgang ab. Der Tee schmeckte auch so.

„Später werde ich mir auch wieder eine richtige Wohnung suchen, aber dazu muss ich erst einmal genug Geld zusammen haben.“

„Und was arbeitest du?“

„Ich bin Frisörin, aber dabei kann man nicht reich werden. Deshalb wohne ich ja vorläufig hier.“

„Friseuse?“, sagte Wolfgang anerkennend. „Und wie sind die beiden Studentinnen?“

„Ach, die sind schon in Ordnung. Aber sie leben natürlich ganz anders als ich.“

„Ja klar, Studenten.“ Er wusste, wie Studenten leben.

„Ich kann dir nicht einmal etwas anbieten. Du bist mein erster Besuch, seit ich hier wohne.“

Wieder sah Wolfgang in ihre unglücklichen Augen. Kurz entschlossen sagte er ihr: „Ich lade dich ein. Wir gehen essen.“

Marina sah ihn erstaunt an und nickte leicht.

Nachdem sie ausgetrunken hatten, verließen sie die Wohnung und fuhren mit der Straßenbahn die drei Haltestellen bis zu Wolfgangs Straße. Vor seinem Haus stand sein Auto. Mit diesem fuhren sie jetzt zu einer Gaststätte, die Wolfgang recht gut kannte. Sie war abseits der Zivilisation an einem Wäldchen, in dem zu DDR-Zeiten ein Schießplatz war.

Marina wunderte sich beim Essen, dass Wolfgang vegetarisch bestellt hatte. Deshalb fragte sie: „Du isst kein Fleisch?“

Er schüttelte den Kopf. „Nicht mehr! Mir tun einfach die Tiere leid, die sterben müssen, nur damit ich Fleisch essen kann. Ich will nicht, dass sie wegen mir ihr Leben lassen müssen.“

Erstaunt sah sie ihn an. „So habe ich das noch nie gesehen.“

Nach dem Essen spazierten sie dann noch durch das kleine Wäldchen, welches zu einem Berg gehörte, der Bienitz hieß. Es hatte inzwischen aufgehört zu regnen und Wolfgang zeigte ihr hier, wo er als Kind oft Ski gefahren war. Marina kannte zwar den Bienitz aus den Erzählungen anderer, ist aber selbst nie hier gewesen. Abends brachte Wolfgang sie wieder nach Hause und fragte sie nach dem morgigen Sonntag.

Am Tag darauf holte er Marina nachmittags von ihrer Wohnung ab und lud sie nach dem ausgedehnten Waldspaziergang zum Teetrinken in seine kleine Zweiraumwohnung ein.

Hier bei ihm zu Hause erzählte Marina, dass die Mädchen damals im Schulchor immer ehrfürchtig zu den großen Jungs hochgeschaut hatten. Doch als er ihr vor fast zwanzig Jahren auf der Chorfahrt im Februar in der Jugendherberge eine Musikkassette repariert hatte, bewunderte sie ihn. Auf der Kassette war Musik von den Puhdys und ihr Kassettenrecorder Mira hatte beim Zurückspulen das Band zerrissen. Damals war sie unendlich traurig, weil es ihre Lieblingskassette war. Und er hatte damals viel Verständnis für sie, ließ sich die Kassette geben und brachte ihr sie in wenigen Minuten repariert zurück. Sie freute sich schon damals immer, wenn sie ihn in der Schule oder irgendwo anders zufällig traf.

Nun hatte sie ihn auch nach langer Zeit bei den Begegnungen im Wald sofort wieder erkannt.

Da versuchte Wolfgang erneut Erinnerungen an sie in sich zu finden, aber da war nichts. Deshalb fragte er: „Wo war denn das mit der Jugendherberge?“

„In den Winterferien in Goseck. Kennst du das noch?“

„Wooo?“ Wolfgang riss die Augen auf und glaubte falsch zu hören. Ihm lief es eiskalt den Rücken herunter. „Wo war das?“

Marina antwortete verwundert: „In Goseck in der Herberge. Sie war wohl in einem Schloss. Das muss in der Nähe von Naumburg gewesen sein. Kannst du dich daran nicht mehr erinnern?“

Wolfgang schüttelte mit dem Kopf. „Goseck kenne ich gut, aber dass wir mit dem Schulchor dort waren …“ Immer noch schüttelte er seinen Kopf. „Ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern. Jetzt ist dort im Schlosshof ein Museum und …“ Er sah Marina an. Sollte er ihr jetzt von seinem Urlaub in Posid erzählen? Nein! Das würde sie ganz sicher nicht glauben. Und so schwieg er.

„Das Museum ist in der Jugendherberge?“, fragte Marina.

„Nein, die muss gegenüber gewesen sein.“

Nun erzählte Marina, was sie von Goseck noch wusste und er nickte öfters. Das war das gleiche Goseck, was er auch kannte.

Sie aßen noch zum Abend und anschließend brachte Wolfgang seine Begleiterin nach Hause.

Als er wieder zurück bei sich zu Hause war, ließ er alles noch einmal Revue passieren. Die Erwähnung von Goseck hatte ihn total aufgewühlt. Er war kurz vor der Wende mit dem Schulchor in Goseck. Wieso erinnerte er sich nicht daran? Das hätte ihm doch schon im vergangenen Sommer auffallen müssen. Am Ende kam er zu der Vermutung, dass das alles kein Zufall war, dass der Ausgangspunkt für das Kennenlernen von Diane und auch von Marina Goseck war. Ein recht kleines Dorf, was ohne das Sonnenobservatorium kaum von Bedeutung war. Merkwürdig!

Von nun an verbrachten sie fast jedes Wochenende zusammen. Marina gefiel ihm. Sie war ruhig und sehr einfühlsam. Von Woche zu Woche verband ihn mit ihr immer mehr und Diane verlor im Gegenzug in ihm langsam an Bedeutung. Das Leben begann für Wolfgang wieder farbig zu werden. Marina füllte die Lücke, die Diane so schmerzlich in ihm hinterlassen hatte. Bald war er genau so verliebt, wie damals in Posid. Trotzdem erzählte er Marina natürlich nichts von Diane. Was hätte er ihr auch sagen sollen? Etwa, dass er in eine Atlanterin verliebt sei, die im Inneren der Erde wohnte. Das hätte auf dieser Welt niemand verstanden und Marina ganz besonders nicht. Und so behielt er sein Erlebnis vom Sommer 2007 für sich. Die beiden Rosen aus seinem Schlafzimmer pflanzte er nun unten im Hof in die Blumenrabatte am Nachbarhaus. So waren sie immer noch in seiner Nähe, aber es ersparte ihm unangenehme Erklärungen.

Bald blieb Marina das ganze Wochenende bei ihm und im Dezember zog sie ganz zu Wolfgang. Hier in ihrer alten Heimat blühte sie wieder richtig auf.

Im folgenden Jahr heirateten Marina und Wolfgang in der zweiten Julihälfte und lebten von da an glücklich zusammen. In Marina hatte er die Frau gefunden, die er schon so lange gesucht hatte. Auch wenn sie manchmal etwas zu ruhig war, liebte er sie über alles. Jetzt zahlte sich aus, was er über bedingungslose Liebe in Posid gelernt hatte.

Marina war immer wieder glücklich über sein großes Verständnis und seine Zuneigung. Sie war so froh, dass sie die Probleme vieler anderer Frauen mit ihren Partnern mit ihrem Wolfgang nicht hatte. Er war irgendwie anders, als ob er aus einer anderen Welt käme. Aber gerade das gefiel ihr so sehr an ihm. Hatte sie doch in der Vergangenheit nicht viele gute Erfahrungen mit Männern gemacht. Um so mehr stach Wolfgang von den anderen ab. Er trug sie auf Händen und sie genoss es in vollen Zügen. Nach all den schwierigen Beziehungen der Vergangenheit kam sie sich jetzt wie im Himmel vor. Selbst wenn sie bei einer Feier mal einen anderen Mann voller Übermut einfach umarmte, hatte Wolfgang dafür immer Verständnis. Es gab deshalb nie ein böses Wort oder auch nur eine Ermahnung. Im Gegenteil! Er fand das lustig, als ob er gar nicht eifersüchtig werden könnte.

Als Marina ihn einmal darauf ansprach, antwortete er völlig untypisch für die Männer. „Warum soll ich dir diese harmlose Freude nicht gönnen? Wenn du mich liebst, dann hat der andere sowieso keine Chance. Liebst du aber einen anderen mehr, dann wäre es von mir falsch, dieser Liebe im Wege zu stehen. Ich wäre zwar traurig, aber ich würde dich nicht halten. Mir ist es sehr wichtig, dass du glücklich bist.“

Nach diesen Worten liebte sie ihn noch mehr, zumal sie merkte, dass das keine leeren Worte waren. Wolfgang war der erste Mann, der auf sie keinen Druck ausübte. Er ließ ihr mehr Freiheiten, als sie gewillt war auszuleben. Immer wieder fühlte es sich an, als wäre ihr Wolfgang aus einem fernen Land, wo die Menschen ganz anders sind. Sie wusste natürlich, dass das Unsinn war. Doch zu viel unterschied ihn von den anderen Männern. Als Marina ihn darauf hin mal ansprach, winkte er nur lächelnd ab und sie war froh, dass sie diesen Mann gefunden hatte.

Ein dreiviertel Jahr nach ihrer Hochzeit wurde Marina schwanger. Nun war ihr Glück perfekt. Beide freuten sich riesig auf das Kind, welches sie erwarteten.

Als sie erfuhren, dass es ein Mädchen werden würde, suchte sie nach einem schönen Namen. Wolfgang bat seine Frau: „Lass sie uns Diana nennen, wenn es wirklich ein Mädchen wird. So sicher ist das ja auch wieder nicht.“

„Diana? Warum nicht?“, entschied Marina. Ihr gefiel dieser Name, obwohl ihr auch noch andere schöne Namen einfielen. „Warum willst du gerade Diana?“

„Ich finde, das ist ein schöner Name. Diana klingt gut, ist kurz, leicht auszusprechen und erinnert auch an die römische Göttin der Jagd. Sie soll eine schöne Frau gewesen sein. Was kann man seiner Tochter mehr wünschen?“

Damit gab sich Marina zufrieden. Schließlich liebte sie ihren Mann über alle Maßen. „Aber wenn es doch ein Junge wird, dann soll er Wolfgang wie du heißen. Das ist zwar altmodisch, aber ich liebe diesen Brauch.“

Er antwortete lachend: „Warum nicht? Ich habe einen Mädchennamen und du den Jungsnamen.“

Der Zufall wollte es, dass direkt im Nachbarhaus im Erdgeschoss eine Dreiraumwohnung frei wurde. Der Balkon dieser Wohnung war direkt über seinen beiden Rosen, die er vor zwei Jahren hier ausgesetzt hatte. Wolfgang war sich nicht sicher, ob er in diesem Punkt an Zufall oder mehr glauben sollte. Auf jeden Fall setzten Wolfgang und Marina jetzt alles daran, für diese Wohnung einen Mietvertrag zu bekommen.

Im Herbst war es dann so weit. Sie zogen um und richteten auch gleich ein Kinderzimmer ein, obwohl Marina darauf bestand, dass ihr Kind das erste Jahr neben ihr im Schlafzimmer schlafen sollte. Selbstverständlich war Wolfgang damit einverstanden. Hatte er doch schon öfter gehört, dass Mütter bei ihren Kleinkindern automatisch alles richtig machen würden.

Etwas vorfristig am zweiten Weihnachtsfeiertag 2010 schenkte Marina einer Tochter das Leben. Sie gab ihr den Namen Diana, so wie sich das ihr Mann gewünscht hatte. Wolfgang besuchte sie in der Klinik so oft er konnte und verliebte sich regelrecht in seine noch so winzige Tochter.

„Das ist das schönste Weihnachtsgeschenk, das du mir gemacht hast. Jetzt sind wir eine richtig kleine Familie.“ Dabei strahlte er und Marina war in so einem Moment überglücklich. Sie dankte dem Himmel für diesen Mann. Wenn Marina allein mit ihrer Diana war, dachte sie darüber nach, was sie doch für ein Glück mit ihrem Wolfgang hatte. Manch andere Frau wurde von ihrem Mann schief angesehen, weil es nur eine Tochter war, was sie zur Welt gebracht hatte. Bei ihrem Wolfgang aber sah sie ganz deutlich, dass er sich über ihr gemeinsames Kind sehr, sehr freute.

Silvester feierte Wolfgang mit seiner Frau in der Klinik, so weit das die Vorschriften zuließen. Erst im neuen Jahr kam Marina mit der kleinen Diana nach Hause in ihre neue Wohnung.

Als Wolfgang seine Tochter das erste Mal nicht eingewickelt sah, meinte er erstaunt: „Mein Gott, ist sie noch klein.“

Marina schmunzelte nur und schüttelte den Kopf. „Mir war sie bei der Geburt groß genug!“ Sie lächelte. Wusste sie ja, dass er noch nie mit einem so kleinen Kind zu tun hatte.

Nachdem ihre Diana abends im Bett lag, setzten sie sich in ihre Sesselecke und ließen den Tag ausklingen. Dazu brannte Wolfgang eine Kerze an und sie stießen mit alkoholfreiem Sekt an, weil Marina ja stillte.

So verging die Zeit. Diana wurde größer und nach einem reichlichen Jahr schlief sie dann auch in ihrem Kinderzimmer. Das hielt sie aber nicht davon ab, am Wochenende früh mit zu ihren Eltern ins Bett zu schlüpfen, bis diese aufstanden.

In der inneren Welt (Band 2)

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