Читать книгу 2 - Хидео Ёкояма - Страница 6
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ОглавлениеAm nächsten Morgen fuhr ihm Osakabe vor der Nase weg.
Futawatari hatte schon um sechs Uhr die Wohngegend erreicht, in der Osakabe lebte. Das Schild mit dem Namen der Familie war nicht schwer zu finden gewesen. Das zweigeschossige Haus hinter der hohen Glanzmispelhecke wirkte auffällig bescheiden für einen Mann, der den Rang eines Direktors innegehabt hatte. Es war eine alte Gegend mit den traditionellen schmalen Sträßchen. Da es Futawatari ungehörig erschien, vor der Haustür des Mannes zu parken, hatte er gewendet und war zurück zu einem Stück Wiese am Fluss gefahren. Das sind nur ein paar Minuten zu Fuß. Ich gehe ums Haus herum, halte die Augen offen, und wenn es so aussieht, als hätten sie fertig gefrühstückt, klingle ich. So hatte sich Futawatari sein Vorgehen zurechtgelegt und war aus dem Auto gestiegen.
Nach nur wenigen Metern überholte ihn eine schwarze Limousine aus Richtung Stadt. Hinterm Steuer sah er einen Mann mit grau melierten Haaren. Er trug keine Krawatte, aber ein Jackett, hatte muskulöse Schultern und schneeweiße Handschuhe an den Händen. Bis die Erkenntnis einsickerte, war es schon zu spät. Der Wagen bog in das Wohngebiet ein.
Futawatari war bleich vom Rennen, als vor ihm die rot austreibende Hecke in Sicht kam. Die weißen Handschuhe schlossen bereits die hintere Wagentür. Schwer atmend und außerstande zu rufen, hatte er dastehen und zuschauen müssen, wie Osakabes Profil im Rückfenster an ihm vorbeiglitt.
Auch jetzt, wieder an seinem Schreibtisch in der Verwaltung, hing ihm der morgendliche Fehlschlag noch nach. Es war halb acht vorbei, und seine Kollegen kamen langsam hereingetröpfelt. Er war fast immer als Erster im Büro, deshalb wunderte sich niemand, ihn zu sehen. Im Zweifel nahmen sie an, dass er die Nacht im Sommerhaus verbracht hatte, mit der Arbeit am Versetzungspuzzle oder einer anderen eiligen Aufgabe. Er griff nach dem Hörer und drückte die Wahlwiederholung. Langsam, aber sicher wurde er ungeduldig. Das war jetzt sein vierter Versuch. Das Telefon klingelte und klingelte; offenbar war in der Stiftung immer noch niemand am Platz.
Wo sind Sie?
Osakabe war in aller Frühe abgeholt worden. Dennoch war er noch nicht in der Stiftung angekommen. Möglicherweise nahm er ja einen frühen Termin wahr, vielleicht irgendwo in den Bergen.
Futawatari stand auf und drückte erneut die Wahlwiederholungstaste. Er hatte gerade aufgegeben, da kam Saito, eine der wenigen Frauen in der Verwaltung, mit dem Kaffee herein. Er dankte ihr, bat sie, ihn einfach auf den Tisch zu stellen, damit er ihn später trinken konnte, und verließ das Büro. Oguro und Shirota würden bald da sein. Von dem Debakel des Morgens mochte er ihnen nicht berichten, und auf das Trommelfeuer von Fragen, die sie zweifellos stellen würden, hatte er ebenfalls keine Lust.
Er schaute im Sommerhaus vorbei. Wie erwartet war Uehara da; wie festgewachsen saß er vor seinem Computer und starrte aus blutunterlaufenen Augen auf den Bildschirm. Bis zur Glatze war es bei ihm nicht mehr lang hin, aber das noch vorhandene Haar verriet eindeutig, dass er nicht daheim gewesen war, um zu duschen.
Futawatari blieb ein bisschen, um ihm beim Puzzeln zu helfen, während er bei sich das Für und Wider eines Überraschungsbesuchs in der Stiftung abwog.
Wenn es Osakabe tatsächlich ernst damit war, im Amt zu bleiben, würde er alles tun, um den Schergen der Verwaltung aus dem Weg zu gehen, gerade in dieser heiklen Phase. Ein Tag war schon verstrichen, nur noch vier waren übrig, bis die Bescheide ergingen. Wenn Futawatari sich ankündigte, wenn er es an den nötigen Vorsichtsmaßnahmen fehlen ließ, dann bestand die Gefahr, dass Osakabe abtauchte. In dem Fall war die Schlacht vorüber, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Aber eigentlich konnte sich Futawatari nicht vorstellen, dass ein Mann wie Osakabe sich drückte. Und falls er nicht da war, wenn Futawatari ankam, würde irgendwer in der Stiftung ihm ja wohl über seinen Verbleib Auskunft geben können. Es war fast schon Mittag, als Futawatari die Möglichkeiten im Geist oft genug durchgespielt hatte und den noch immer verzagt dreinblickenden Uehara sich selbst überließ.
Bis zu Haus F ging man nur fünf Minuten zu Fuß. Der moderne Büroturm ragte über dem restlichen Stadtbild auf, schmuck anzusehen mit seinen bläulich getönten Scheiben, die die stetig ziehenden Wolken spiegelten. Im Innern trug ein Hochgeschwindigkeitslift Futawatari pfeilschnell in die elfte Etage hinauf. Dort folgte er dem Hinweisschild den Gang entlang und entdeckte nur ein paar Türen weiter den Namenszug der Stiftung. Das Büro war größer, als er erwartet hatte. An die zehn Schreibtische standen in großzügigem Abstand zueinander, mit geschickt aufgestellten, dicht belaubten Zimmerpflanzen als Sichtschutz. Schon eine davon auch nur geringfügig zu verschieben hätte genügt, um dem Ganzen einen Anstrich des Improvisierten, erst im Aufbau Begriffenen zu verleihen.
An der rechten Wand hing eine riesige topografische Karte. Der großflächige Plan der Präfektur war mit einer Unzahl bunter Nadeln besteckt. Von diesen Nadeln gingen rote Linien aus, die zusammen ein sternförmiges Muster bildeten: das Straßennetz der Präfektur. Futawatari hatte das Gefühl, ein Kunstwerk zu bewundern.
Er machte ein paar Schritte in den Raum hinein und spähte hinter eine Trennwand, die ein Areal gleich an der Fensterfront abteilte. Der Blick von hier reichte bis zu den fernen Bergen an der Grenze zur Nachbarpräfektur; man konnte daher getrost davon ausgehen, dass dies das Büro des Vorstandsvorsitzenden war. Hinter dem Milchglas der Trennwand saß niemand.
Was auch sonst?
Eine junge Frau im Kostüm, fast mehr Model als Sekretärin, begrüßte Futawatari mit vollendeter Höflichkeit. Dann erschien ein unauffälliger älterer Mann, der hinter einer der Topfpflanzen aufgetaucht war. Nach einem kurzen Austausch von Visitenkarten unterzog der Mann, der sich als Geschäftsführer Miyagi vorstellte, Futawatari einer skeptischen Musterung. Zweifellos war sein Bild von der Polizei durch Osakabe geprägt, mit dem er am meisten zu tun hatte.
»Es tut mir sehr leid, aber der Chef ist dienstlich unterwegs«, sagte er in alles andere als bedauerndem Ton. Er zeigte auf ein Sofa an der Rückwand des Raums, wobei sein Gesichtsausdruck sehr deutlich besagte, dass er seine Zeit auch besser nutzen konnte.
Ohne Miyagi persönlich zu kennen, wusste Futawatari doch über seinen Hintergrund Bescheid. Der Mann war lange Zeit in der Präfekturregierung Beauftragter für Umwelthygiene gewesen. Die Polizei war von der Baubranche mit dem Posten des Vorstandsvorsitzenden bedacht worden, aber wie es schien, waren auch die Regierungsbeamten nicht leer ausgegangen. Futawatari für seinen Teil war überzeugt, dass bei Miyagis Posten ebenfalls Drähte gezogen worden waren, deshalb würde der Mann die Entwicklungen rund um Osakabes Weigerung zu gehen im Zweifel mit wachem Auge verfolgen. Vielleicht hatte er sogar eine Ahnung, was dahintersteckte.
»Wissen Sie, wo er ist?«
»Ich glaube …«, murmelte Miyagi und richtete den Blick auf die Karte an der Wand, »… doch, er nimmt einen Lokaltermin im Norden wahr, wobei ich Ihnen nicht genau sagen kann, wo. Wie Sie sicher wissen, ist der Chef ein sehr tatkräftiger Mensch.«
»Einen Lokaltermin?«
»So nennen wir das, wenn wir ein Gelände inspizieren, wo es Fälle von illegaler Entsorgung gegeben hat.«
Natürlich. Die Nadeln auf der Karte markierten illegale Müllkippen. Die schiere Anzahl war erstaunlich: Hunderte, so konnte man meinen. Futawatari hatte Geschichten von Lastwagen gehört, die den Industriemüll aus den Städten herauskarrten, aber es war schwer, sich Aktivitäten solchen Ausmaßes vorzustellen.
Wieso übernahm Osakabe diese Fahrten selbst?
Futawatari dachte an die Leitsätze der Stiftung zurück, die er sich vor drei Jahren angesehen hatte. Der vorrangige Auftrag war ein erzieherischer: Dem privaten Sektor sollten Richtlinien an die Hand gegeben werden, die es den Betrieben erleichterten, unethisch operierende Entsorgungsunternehmen zu meiden. Die Stiftung brachte außerdem Broschüren in Umlauf, die die Bevölkerung dazu aufriefen, Fälle illegaler Entsorgung zu melden. Und sie führte Vor-Ort-Inspektionen durch, wenn solche Meldungen eingingen. In einzelnen Fällen, wenn die Überprüfung ungewöhnlich große Mengen Müll ergab oder wenn die Entsorgungsstelle in der Nähe einer Wasserquelle lag, trug die Stiftung ihre Befunde zusammen und beantragte eine offizielle polizeiliche Untersuchung.
Nach Miyagis Ton zu urteilen, nahm Osakabe diese Inspektionen mit großem Einsatz vor. Und doch musste man sich nur im Büro umsehen, um festzustellen, dass es hier nicht an jüngeren Männern mangelte, Männern noch dazu, die sichtlich über genug Zeit verfügten. Aber selbst bei augenscheinlicher Personalknappheit hätte es verwundert, wenn der Vorstandsvorsitzende der Stiftung – der dieses Jahr dreiundsechzig wurde – all die Fundstellen in eigener Person aufsuchte.
»Führt Ihr Chef die Inspektionen öfter persönlich durch?«
»Nun ja.« Miyagi schaute etwas unbehaglich drein. »Doch, fast täglich.«
»Fast täglich?«
»Seit einem Jahr etwa. Ich habe ihm natürlich vorgeschlagen, die Aufgabe zu delegieren, aber er besteht darauf, selbst hinzufahren.«
Futawatari nickte ein paarmal verständnisvoll, bevor er die nächste Frage stellte. »Wann erwarten Sie ihn denn zurück?«
»Wahrscheinlich gegen fünf oder sechs. Es kommt aber auch vor, dass er direkt nach Hause fährt, je nachdem, wie lange die Inspektion dauert.«
»Schaut er für gewöhnlich im Büro vorbei?«
»Nicht unbedingt. Wir haben heute noch nichts von ihm gehört.«
Es war töricht gewesen, sich von Miyagi etwas zu versprechen. Woher sollte dieser Mann, der im Büro die Stellung hielt und nach Osakabes Pfeife zu tanzen hatte, etwas von den Motiven seines Chefs wissen?
Die Chancen, ihm etwas Brauchbares zu entlocken, schienen denkbar gering.
Futawatari seufzte im Stillen und richtete den Blick wieder auf die Landkarte. Irgendwo da draußen war Osakabe. Den Maßstab kannte er nicht, aber die Karte selbst war schon riesig, drei Meter im Quadrat sicherlich, mit einer akribischen Abbildung sämtlicher Fernstraßen wie auch der kleineren Straßen, die die Städte und Dörfer der Präfektur miteinander verbanden; sogar die Forststraßen waren eingezeichnet.
Vorhin beim Hereinkommen hatte er die roten Buntstiftlinien als sternförmig wahrgenommen, doch bei näherer Betrachtung sah man, dass sie alle von der Stiftung ausgingen. Sie bildeten Osakabes Fahrten ab; in alle Richtungen ausfächernd, markierten sie eine Unzahl von Strecken, jede mit einer Nadel an ihrem Ende, die einen Mülllagerplatz anzeigte. Viele reichten bis tief ins Gebirge; die Übeltäter schienen eine klare Vorliebe für entlegene Orte zu haben. Die Mehrheit dieser Routen folgten den Hauptstraßen, bis sie die Städte hinter sich gelassen und den Schutz der Berge erreicht hatten. Dort verzweigten sie sich dann, gabelten sich immer weiter, verästelten sich wie Äderchen, bis sie den jeweiligen Abladeplatz erreichten.
Eine Trittleiter stand daneben an der Wand, gleichsam als Zeugnis des Energieaufwands, den die Erfassung einer so ungeheuren Anzahl von Fährten erfordert haben musste. Futawatari sah in der Karte ein Sinnbild für den immensen Fleiß der Stiftung – oder den Osakabes.
Das Mittagessen kam, was Futawatari den erhofften Grund lieferte, sich zu verabschieden.
Einen Versuch ist es allemal wert.
Er ging zur Tür; Schritte hinter ihm bestätigten ihm, dass Miyagi ihm folgte. Möglichst beiläufig drehte er sich um und senkte die Stimme: »Sie haben es ja wohl schon gehört?«
Miyagi wusste offenbar gleich, wovon er sprach. »Ah, ja, natürlich. Der Vorsitz ist verlängert worden.«
Futawatari hielt seine Emotionen nur mühsam im Zaum, als der Lift mit ihm ins Erdgeschoss hinabsauste. Auf dem Weg zurück ins Präsidium fühlten sich seine Füße bleischwer an. Miyagi schien völlig unerschüttert von der Nachricht; ihm war keinerlei Groll deswegen anzumerken gewesen. Offensichtlich ahnte er auch nicht, welche Wellen Osakabes Verhalten schlug; wahrscheinlich hatte er ihm sofort zu der Verlängerung gratuliert. Futawataris Entrüstung nahm immer mehr zu. Osakabe hatte einseitig beschlossen, sein Amt weiterzuführen. In seinem Innern gab es keinen Konflikt. Er traf einfach seine Entscheidung, als hätte die Polizei kein Wort mitzureden. War das Arroganz? Oder kam es von seiner Überzeugung, dass die Arbeit bei ihm in den richtigen Händen war?
Wie immer die Antwort lautete, die maßgebende Frage war und blieb die nach dem Warum. Eine bildschöne junge Sekretärin. Ein geräumiges, komfortables Büro. Ein Dienstwagen mit Chauffeur, der ihm schon im Morgengrauen zur Verfügung stand. So lebte es sich bequem. Äußerst bequem.
Aber noch ein weiterer Faktor wollte bedacht sein.
Die Macht der Gewohnheit.
Einem Hinweis aus der Bevölkerung nachgehen. Zum Tatort eilen. Die Abfälle durchkämmen, eine Spur entdecken, die vielleicht zum Täter führte. Es glich allzu sehr der Kriminalarbeit. Eine Karte an die Wand heften, Nadel um Nadel hineinstecken, um die Ermittlungsschritte abzubilden. Nicht anders ging es bei einer Sonderkommission zu, die Jagd auf einen Täter machte.
Einmal Kripo …
Der Gedanke ließ sich nicht zum Schweigen bringen. Wieder sah Futawatari die topografische Karte vor sich, nur zeigte sie jetzt die Stationen der brillanten Karriere, die er am Vorabend an sich hatte vorbeiziehen lassen. Hatte der Mann eine Art Zusammenbruch? Die Vorstellung jagte ihm einen Schauder den Rücken hinunter.
Das ist alles nur Spekulation. Noch.
Shirota empfing ihn mit einem auffordernden Blick, als Futawatari in die Verwaltungsabteilung zurückkam. Das hieß vermutlich, dass der Direktor sie zu sprechen wünschte. Er wollte sich schon aufmachen, da sprang ihm der Kaffee ins Auge, der noch immer auf seinem Schreibtisch stand. Eine dünne Staubschicht hatte sich darauf gebildet. Stellen Sie ihn da hin, ich trinke ihn später. Er spürte, wie die Anspannung nachließ. Er blinzelte und sah Saito kerzengerade an ihrem Tisch sitzen, mit dem Rücken zu ihm. Über ihren Erfolg als Frau konnte er nichts sagen, aber bei der Polizei würde sie sicherlich ihren Mann stehen.
Er nippte an dem Getränk, das seit fünf Stunden kalt war, und eilte dann hinter Shirota her. Da er nichts vorzuweisen hatte, galt es sich für die Laune des Direktors zu wappnen, die zweifellos ähnlich bitter sein würde wie der Kaffee.