Читать книгу Alles beginnt mit der Sehnsucht - Hildegard Aepli - Страница 6

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1. Tag

Alles beginnt mit der Sehnsucht – diesen Satz von Nelly Sachs entdeckte ich vor Jahren. Er brannte sich mir ein und gehört seither zu meinen »Lebensmitteln«. Worte können Nahrung sein wie Brot. Sie können das Überleben sichern. Die Dichterin schreibt, dass jeder Anfang mit Sehnsucht zu tun hat. Ihre Aussage ist nicht vage oder als Möglichkeit formuliert. Sie sagt: alles! Ihr Satz beansprucht Absolutheit. Wo jemand neu, ganz und wesentlich werden möchte, ist Sehnsucht im Spiel. Was wirklich beginnt, neu beginnt, wieder beginnt, ist mit der Sehnsucht nach mehr Leben, nach größerer Fülle verbunden.

Lies das ganze Gedicht, das jemand Unbekanntes, ausgehend von der Zeile von Nelly Sachs, geschrieben hat, in Ruhe. Vielleicht ist ein Satz dabei, der dir heute zum »Lebensmittel« wird.

Alles beginnt mit der Sehnsucht,

immer ist im Herzen Raum für mehr,

für Schöneres, für Größeres.

Das ist des Menschen Größe und Not:

Sehnsucht nach Stille, nach Freundschaft und Liebe.

Und wo Sehnsucht sich erfüllt,

dort bricht sie noch stärker auf.

Fing nicht auch deine Menschwerdung, Gott,

mit dieser Sehnsucht nach dem Menschen an?

So lass nun unsere Sehnsucht damit anfangen,

dich zu suchen,

und lass sie damit enden,

dich gefunden zu haben.

Die Sehnsucht ist eine Grundkraft im Menschen wie Hunger und Durst oder das Verlangen nach etwas, nicht nur im leiblichen, sondern im ganz existentiellen Sinn: Hunger und Durst nach erfüllter Beziehung, gelingendem Leben, Stille, Einfachheit, Ordnung, Gott ... Menschen sind Wesen der Sehnsucht. Die schmerzliche Erfahrung, dass sich unser Glück nie ganz verwirklicht, begleitet unser Leben. Wo die Sehnsucht sich erfüllt, bricht sie noch stärker auf. Jedes Mal trägt sie einen neuen Wunsch in sich. Wir wünschen uns, ganz anzukommen, ganz eins zu sein – für immer aufgehoben, geborgen, geliebt. Sehnsucht ist der Boden jeder Menschwerdung. Gott selbst sehnte sich nach dem Menschen. Er selbst sehnte sich danach, Mensch zu werden.

Die Tage des Advents bieten sich mit Blick auf Weihnachten an, die Sehnsucht nach dem eigenen Wesen, der eigenen Wesentlichkeit wahrzunehmen und wahrzuhaben.

Macht der Umstand der unerfüllten Sehnsucht für Singles den Advent zur größeren Herausforderung?

Bricht in diesen Tagen der Schmerz des Allein-Seins mehr auf?

Wird mir in dieser Zeit das Fehlen eines Du besonders bewusst?

Oder ist es eher das Weihnachtsfest, bei dem ich so empfinde?

Es ist für Singles fatal, die Sehnsucht mit Zudecken, Wegarbeiten oder Verdrängen zu beantworten. Das würde aktives Unterbinden der eigenen Lebendigkeit, Sich-Abschneiden vom Größeren, Schöneren, von der eigenen Menschwerdung bedeuten.

EXPERIMENT

Ich schaffe mir in meinen vier Wänden einen Platz, der den Namen Sehnsucht erhält. Hier gestalte, schreibe, sammle, hänge ich auf … Vielleicht ist es auch ein bequemer Stuhl, der während der Zeit des Advents den Namen »Meine Sehnsucht« erhält. Ich schaue, welche Geschichte mir erwächst, wenn ich mich bis Weihnachten täglich ein paar Minuten auf ihn setze und meiner Sehnsucht erlaube, zu mir zu gehören.

Alles beginnt mit der Sehnsucht

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