Читать книгу Alles beginnt mit der Sehnsucht - Hildegard Aepli - Страница 7

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2. Tag

Gedichte haben für mein Leben eine wichtige Bedeutung bekommen. Es begann damit, dass ich entdeckte, wie einzelne Verse oder Worte meine innere Welt ansprachen. Ich fühlte mich erkannt und verstanden. Einer dieser Sätze taucht immer wieder auf. Interessanterweise findet er sich am Anfang der Adventsgedichte von Rainer M. Rilke:

sehnsuchtgeweiht

durch alle Tage

schweifen

Das Wort »sehnsuchtgeweiht« packte mich. Es gefällt mir noch immer. Ich spüre es geradezu auf meiner Zunge zergehen: mich meiner Sehnsucht hingeben, meiner Sehnsucht geweiht sein, mit ihr umherschweifen, von meiner Sehnsucht aus das Nächste, die Dinge, die Menschen, die Natur betrachten. Ich stelle fest, wie sich die Beziehung zu allem dadurch veränderte und noch verändert – wie verwandelt, intensiver, weiter, beglückender ich mein Leben aus diesem Blickwinkel wahrnehme.

Kürzlich las ich das Buch »Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry«. Es ist ein Pilgermärchen, eine fesselnde Geschichte von zwei älteren Menschen. Weil der eine etwas tut, das ihn selber und den anderen völlig überrascht, geschieht ganz Neues. In dieser Geschichte stieß ich auf den Satz, dass es darum geht, »das Offensichtliche zu ignorieren und an etwas Größeres und unendlich Schöneres als das real Sichtbare zu glauben«.

Es ist die Sehnsucht im Menschen. Sie nimmt mich an der Hand, weitet mein Herz, meine Möglichkeiten und meinen Blick. Sie lässt mich an etwas denken, das richtig Freude bereitet, was ich mir gönnen, wünschen, was ich lernen, ausprobieren, entdecken, kennenlernen will. Sie lässt mich an etwas Großes und Schönes, was das Leben für mich bereithält, glauben.

Zu wagen, von der eigenen Sehnsucht aus ins Leben zu sehen, ist nicht nur etwas für Paare oder für Familien. Es ist das Privileg von Singles und natürlich etwas jedem Menschen Eigenes. Die Sehnsucht hält lebendig, sie erfrischt, sie lockt, sie zieht ins Unbekannte, Geheimnisvolle, Verborgene. Sie nennt nicht das Ziel der Reise. Sie verlangt nach dem Mut, einfach mitzukommen und eigene Erfahrungen zu wagen.

Schwester Ruth Nussbaumer hat die Sehnsucht als geflügeltes Wesen dargestellt. Die Gestalt ist nach oben und nach unten ausgestreckt. Sie reicht über den Rand hinaus. Sie greift ins Offene. Sie wurzelt in der Tiefe. Die Gestalt ist in Bewegung.

Alles beginnt mit der Sehnsucht

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