Читать книгу Die Sühnetochter - Hildegard Burri-Bayer - Страница 11
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Оглавление»Vater kommt zurück!«
Von freudiger Erwartung erfüllt stieg Christine de Pizan die steilen Treppen des Barbeauturms hinunter, bereit sich in Étiennes starke Arme zu stürzen. Sie hatte ihn schrecklich vermisst. Jeden Tag, jede Stunde und besonders in den Nächten, die ihr ohne ihren Gemahl endlos erschienen waren.
In der geöffneten Haustüre standen ihre drei Kinder. Jean, mit seinen sieben Jahren der ältere ihrer beiden Söhne, hatte einen Arm um seinen kleinen Bruder gelegt und hielt sich mit dem anderen an seiner neun Jahre alten Schwester fest. Aus großen Augen starrten die Kinder den Besucher an, bei dessen Anblick sich Christines Magen zusammenzog. Sie stieg die letzten Stufen hinab und spürte ihre Hände feucht werden. Mit hölzernen Bewegungen durchquerte sie die Eingangshalle, bis sie hinter ihren Kindern stand und mit einem unguten Gefühl enttäuscht auf den königlichen Boten blickte, dessen eiserne Rüstung unter dem Wappenrock in der Sonne glänzte.
Was hatte das alles zu bedeuten? Warum hatte Étienne einen Boten geschickt, anstatt selbst zu kommen? Wusste er denn nicht, wie sehnsüchtig sie ihn erwartete?
Der Bote hatte ein scharfkantiges Gesicht und wache, graue Augen, die er wegen des Sonnenlichts leicht zusammenkniff.
Seine Miene verriet nichts von dem, was er fühlte oder dachte.
»Was hat Euer Besuch zu bedeuten? Wo ist mein Gemahl? Ist er aufgehalten worden?« Christines Stimme klang ungewohnt schrill.
»Seid Ihr Christine de Pizan, die Gemahlin des königlichen Notars Étienne du Castel?«, vergewisserte der Bote sich, ohne auf ihre ängstlichen Fragen einzugehen. Für einen winzigen Augenblick trafen sich ihre Blicke.
Christine nickte. »Ja, die bin ich, aber wollt Ihr mir nicht endlich sagen, wo mein Gemahl ist?« Ihre Stimme klang jetzt brüchig. Der Bote senkte seinen Blick. Anstelle einer Antwort zog er einen Brief aus seinem Ärmel und erbrach das Siegel.
Eine dunkle Wolke schob sich vor die Sonne, und Christine begann, am ganzen Körper zu zittern. Sie war unfähig, sich zu bewegen.
Wie durch einen dichten Nebel drang die Stimme des Boten an ihr Ohr.
Wir bedauern sehr, Euch mitteilen zu müssen, dass Unser geliebter Notar, Étienne du Castel, am siebenundzwanzigsten Tag des Oktobers seiner schweren Krankheit erlegen ist.
Der Herr erbarme sich seiner Seele.
Gezeichnet in tiefer Trauer
Seine Majestät Karl VI.
König von Frankreich
Der Bote beugte sich vor und hielt ihr den Brief hin.
Jegliche Farbe wich aus Christines Gesicht, ihre Knie gaben nach, und sie sank ohnmächtig in sich zusammen.
Sie spürte nicht, wie sie von mehreren Armen hochgehoben und in ihre Kammer getragen wurde. Sie sah nicht die verstörten Gesichter ihrer Kinder und die besorgte Miene ihrer Mutter, die neben ihrem Bett saß und ihre Stirn mit Kampfer und Rosenöl betupfte. Schwerelos trieb sie durch die Dunkelheit. Eine seltsame Gleichgültigkeit hatte Besitz von ihr ergriffen. Sie fühlte sich müde, so unendlich müde, und hatte nur noch den Wunsch zu schlafen.
Das kleine Mädchen starrte wie gebannt auf die golden schimmernden Flügeltüren, die von zwei Wachen in glitzernden Rüstungen flankiert wurden, und fieberte dem Augenblick entgegen, an dem sich diese endlich öffnen würden.
Dahinter, hatte ihre Mutter ihr erklärt, erwarte sie der König, und Christine konnte es kaum erwarten, den König zu sehen.
Die Luft war erfüllt von raschelnder Seide und betörenden Duftwässern, die sich gegenseitig zu übertrumpfen suchten, doch Christine hatte keinen Blick für die prächtig gekleideten Edelleute, die sie und ihre Familie umringten.
Sie wollte endlich den König sehen und den Hofknicks, den sie während der langen Reise von Bologna nach Paris unter der Aufsicht ihrer Mutter einstudiert hatte, vor ihm machen.
Der durchdringende Klang einer Fanfare ließ das dahinplätschernde Gemurmel um sie herum verstummen. Erwartungsvolle Spannung breitete sich aus.
Christine hielt den Atem an und sah staunend, wie die Flügeltüren aufschwangen, als wären sie von unsichtbaren Händen bewegt. Dann schritt sie an der Seite ihrer Eltern auf den König zu.
Karl V. saß erhöht auf einem mit tiefblauem Samt ausgeschlagenen Thronsessel unter einem Baldachin, der mit funkelnden Sternen übersät war wie der Nachthimmel in einer lauen Sommernacht, und lächelte ihr freundlich entgegen. Sie hatte nur Augen für ihn, den König, von dem ihr Vater mit einem ehrfürchtigen Klang in der Stimme sprach, den sie bei ihm noch nie zuvor wahrgenommen hatte.
Das Lächeln Karls V. vertiefte sich, als Christine ihren Rock raffte und graziös vor ihm knickste, noch bevor ihre Mutter ihr das vereinbarte Zeichen gegeben hatte. Einen Lidschlag lang verweilte sie in dieser Haltung, dann hob sie ihren Kopf und musterte Karl mit der unverhohlenen Neugier, die nur Kindern zu eigen ist, unverstellt und ohne Arg.
Sie vergaß die Ermahnungen ihrer Mutter, den König von Frankreich auf keinen Fall anzustarren. Fasziniert betrachtete sie den Mann, den sie so oft versucht hatte, sich vorzustellen.
Er war hochgewachsen, hatte einen kräftigen Körperbau und freundliche braune Augen, die ihr jetzt verschwörerisch zublinzelten. Ein glückliches Lächeln legte sich auf ihr Gesicht, während sie weitere Einzelheiten in sich aufnahm: den prächtigen, scharlachroten Mantel mit dem breiten Hermelinbesatz, der ihn umhüllte, die funkelnden Ringe mit den bunten Steinen an seinen Händen und den spitzen, mit schimmernden perlenbesetzten Hut.
Karl V. war ein König, der sein Volk beschützte, und er würde auch sie und ihre Familie in dem fremden Land beschützen, das von nun an ihre Heimat war, davon war sie fest überzeugt.
Karl V. lächelte noch immer, als sich die schwarzen Trauerfahnen auf ihn herabsenkten und ihn verhüllten, bis nur noch seine Augen zu sehen waren.
Ein dumpfes Grollen breitete sich vom Boden her aus und übertönte die erschrockenen Schreie, die sich rhythmisch wiederholten und dabei immer lauter wurden, bis Christine sie nicht länger ertragen konnte und beide Hände gegen ihre Ohren presste.
»Der König ist tot!«
Vier Worte, die so grausam waren, dass sie Christine bis auf den Grund ihrer Seele erschütterten.
Gleißendes Licht drang durch die Dunkelheit um sie herum, dann durchbrachen Geräusche die friedliche Stille.
Christine schlug die Augen auf. Ihr Herz hämmerte wie wild in ihrer Brust. Der König war tot, und es hieß, ihr Vater trüge die Schuld daran.
Sie presste die Hände gegen ihre Schläfen, in dem vergeblichen Versuch, den Schmerz zu lindern, der hinter ihrer Stirn tobte. Bilder wirbelten durch ihren Kopf, doch sie war noch zu schlaftrunken, um unterscheiden zu können, welche davon Traum und welche grausame Wirklichkeit waren.
Der Tod Karls V. vor zehn Jahren war ein Schock für sie und ihre ganze Familie gewesen, ein Schock, von dem ihr Vater sich nie mehr erholt hatte.
Vor drei Jahren war er dem König gefolgt.
Sie sah ihn vor sich: seine dunklen Augen, die zu lächeln schienen, wenn er sie ansah, und sie liebevoll ermunterten, wenn sie etwas nicht gleich verstand. Es war ein tröstliches Bild, das sie nun verzweifelt festzuhalten versuchte, weil sie tief in ihrem Inneren wusste, dass etwas Furchtbares geschehen war. Ihre Gedanken glitten durch die Zeit, von ihrer unbeschwerten Kindheit an den Ufern der Seine zu ihrer Heirat mit Étienne, dem Mann, den sie von ganzem Herzen liebte, zur Geburt ihres ersten Kindes, dem zwei weitere folgten. Danach brach die Erinnerung an die Ereignisse des gestrigen Tages mit aller Macht über sie herein.
Das Trommeln der Pferdehufe auf dem Kopfsteinpflaster und die freudigen Rufe ihrer Kinder klangen ihr noch immer in den Ohren wie das fröhliche Echo aus einer fernen glücklichen Zeit. War es tatsächlich erst zwei Tage her, dass Fortuna sich von ihr abgewandt hatte?
Ihr geliebter Étienne war tot! Gestorben in der Fremde, an einer Seuche, die nicht einmal einen Namen hatte. Sie hatte ihre ganze Kraft gebraucht, um das Leichenbegängnis und die anschließende Bestattung mit Würde zu überstehen, und sich inmitten all der festlich gekleideten Menschen, die dem Leichenzug folgten, so verloren gefühlt wie noch nie.
Wie betäubt starrte Christine durch das schmale Fenster in den silbergrauen Himmel und versuchte gar nicht erst ihre Tränen zurückzuhalten, die ihr wie Sturzbäche über die Wangen strömten. Sie ließ sie fließen, bis sie den furchtbaren Schmerz in ihrem Inneren fortgespült hatten und nur noch dumpfe Trauer zurückblieb.
Gott hatte Frankreich verlassen und dem Tod Tür und Tor geöffnet!
Es hielt sie nicht länger in ihrem Bett. Sie wollte ihrem Gemahl so nah wie möglich sein und musste einfach zu ihm.
In fliegender Hast kleidete sie sich an und verließ das Haus. Den Weg zum Kirchhof rannte sie fast, als hätte sie Angst, ihr Mann könnte sich noch weiter von ihr entfernen, wenn sie nicht schnell genug bei ihm wäre. Es gab so vieles, was sie ihm noch sagen wollte.
Außer Atem erreichte sie den Kirchhof, wo sie ungläubig auf die junge Frau starrte, die am Grab ihres Mannes stand.
Obwohl es viel zu warm für diese Jahreszeit war, begann Christine zu frösteln und zog ihren mit Feh gefütterten Mantel enger um ihre Schultern. Wer war das fremde Mädchen am Grab ihres Mannes, das so versunken in seine Trauer war, dass es gar nichts anderes mehr um sich herum wahrnahm?
Christine konnte ihren Blick nicht von der jungen Frau abwenden, sie vergaß kurzzeitig sogar ihre eigene Trauer, die sie zu Étiennes Grab gezogen hatte, erfüllt von der vagen Hoffnung, ihm dort näher zu sein.
Ein Gedanke drängte sich in ihr Bewusstsein, der so schrecklich war, dass sich ihr Herz schmerzhaft zusammenzog. War es möglich, dass ihr geliebter Étienne eine Mätresse gehabt hatte? Sie wagte nicht, den Gedanken weiterzudenken. Allein schon die Vorstellung, dass ihm eine andere Frau so nahe gewesen war wie sie, war unerträglich.
Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf. Nein, Étienne war anders als die meisten Männer, für die eine Frau nur dazu da war, ihre Triebe zu befriedigen. Étienne hatte sie geliebt und ihr den Respekt entgegengebracht, der einer Frau zustand. Er hätte niemals etwas getan, das sie verletzte.
Und wenn sie sich irrte? Das erste Mal in ihrem Leben spürte sie den giftigen Stachel der Eifersucht, der sich tief in ihr Herz bohrte. Étienne war ein Mann gewesen, der die Blicke der Frauen auf sich zog. Sie war so stolz auf ihren schönen Gemahl gewesen und hatte alles getan, um ihm zu gefallen, und er hatte es ihr gedankt, indem er zärtlich und rücksichtsvoll ihr gegenüber gewesen war. Niemals hatte er seine Stimme gegen sie erhoben oder sie gar geschlagen.
Aber er war ein Mann und in seiner Aufgabe als königlicher Notar viel zu oft von zu Hause fort gewesen, unterwegs mit dem König, den sie beide so verehrt hatten und den der Herr so unerwartet und viel zu früh zu sich genommen hatte. Nach dessen Tod hatte sein Sohn Karl VI. Étiennes Dienste weiterhin in Anspruch genommen, und auch mit diesem neuen König war er durch die königlichen Ländereien gereist.
Das Mädchen am Grab ihres Gemahls war jung und schön wie der Sommer mit seiner hellen Haut und den goldenen Locken, die bis zur Hüfte hinabreichten. Unter seinem Mantel trug es einen fein gefalteten grünen Rock aus flandrischem Tuch und darüber ein mit Stickereien versehenes Mieder, das sich eng um seine schmale Taille und seine Brüste schmiegte, dem prallen Busen einer Jungfrau, deren Schoß noch keine Kinder geboren hatte.
Christine de Pizan unterdrückte den Impuls, sich auf das Mädchen zu stürzen, um die Wahrheit aus ihm herauszuschütteln. Stattdessen atmete sie einige Male tief durch, bis sie wieder klar denken konnte. Es kamen noch andere Möglichkeiten für die Anwesenheit des Mädchens in Betracht. Sie durfte nicht gleich das Schlimmste denken. Das Mädchen war jung und unerfahren und konnte in seiner Trauer Étiennes Grab mit einem anderen verwechselt haben. Schließlich war Étiennes Epitaph noch nicht gesetzt worden und ohne Grabstein sahen alle frisch aufgeschütteten Gräber gleich aus.
Entschlossen ging sie auf das Mädchen zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Anastasia zuckte bei der Berührung zusammen und fuhr erschrocken herum. Christine sah, dass es geweint hatte, und etwas in ihr krampfte sich schmerzhaft zusammen. Der Gedanke, dass dieses Mädchen um Étienne weinte, war kaum zu ertragen.
»Wer seid Ihr, und was habt Ihr am Grab meines Gemahls zu suchen?«, fragte Christine streng und spürte, wie ihre Stimme zitterte.
In den blauen Augen des Mädchens stand ein Ausdruck hilflosen Entsetzens. Es öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Ein gequälter Ausdruck huschte über sein schönes Gesicht.
Christine hielt den Blick des Mädchens fest und wartete mit angehaltenem Atem auf seine Antwort. Sie wünschte sich nichts mehr, als dass es ihr eine simple Erklärung für seine Anwesenheit geben würde.
»Seid Ihr stumm? Ich möchte wissen, was Ihr am Grab meines Gemahls zu suchen habt«, wiederholte Christine. »Hattet Ihr..., ich meine, ward Ihr... seine...«, sie brachte es nicht über sich, die Worte auszusprechen.
Das Aufblitzen in den blauen Augen der jungen Frau hätte sie warnen müssen, danach ging alles so schnell, dass ihr keine Zeit mehr zum Reagieren blieb. Mit einer blitzschnellen Bewegung stieß Anastasia Christine von sich und rannte los, als ob der Leibhaftige hinter ihr her wäre.
Christines Puls begann zu rasen. Sie durfte das Mädchen nicht gehen lassen, nicht bevor sie herausgefunden hatte, was es mit Étienne verband. Sie wusste, dass sie erst zur Ruhe kommen würde, wenn sie die Gewissheit hatte, dass es nichts gab, was ihre Erinnerung an ihren Gemahl trüben konnte. Ohne lange zu überlegen, ging sie Anastasia nach. Diese hatte schon das Ende des Kirchhofs erreicht, hastete über die Grand Pont und bog schließlich in eine der schmalen Gassen ein, in denen überwiegend Handwerker und Händler mit ihren Familien lebten. Christine folgte ihr in vorsichtigem Abstand.
Tatsächlich drehte sich Anastasia einmal um, und es gelang Christine gerade noch, sich in einen schmalen Hauseingang zu ducken. Ihr Puls beschleunigte sich. So muss sich ein Jäger fühlen, der sein Opfer belauert, um es dann aus dem Hinterhalt zu erlegen, dachte Christine und spürte, wie sich die Härchen auf ihren Armen aufrichteten. Sie hatte einmal in einem Buch ihres Vaters über die Jagd gelesen, doch erst jetzt verstand sie, warum die Männer so fasziniert vom Jagen waren. Ihr Körper war angespannt, und ihre Nerven vibrierten wie die Saiten einer Zither. Es war ein berauschendes Gefühl, das sie den Alltag vergessen ließ und sie in einen körperlichen Zustand versetzte, in dem es weder Sorgen und Ängste gab, noch Hunger und Durst eine Rolle spielten.
Ein Rausch, wie sie ihn sonst nur beim Schreiben von Versen empfand und der mit nichts anderem, das sie kannte, vergleichbar war.
Mit flinken Schritten entfernte sich Anastasia vom Kirchhof. Der Schreck angesichts der unerwarteten Begegnung steckte ihr noch in den Knochen, aber noch schlimmer war das schlechte Gewissen, das ihr zu schaffen machte, nachdem sie die fassungslose Trauer in den Augen der vornehm gekleideten Fremden gesehen hatte. Ob sie die Witwe des Verstorbenen war? Sie war so besessen von dem Gedanken gewesen, ihrem Vater seinen letzten Wunsch zu erfüllen, dass sie überhaupt nicht daran gedacht hatte, dass ihr Tun einen anderen Menschen verletzen könnte, einen Menschen, der ebenso um einen Verstorbenen trauerte wie sie.
Bevor sie in das Gewirr der umliegenden Gassen eintauchte, blickte sie sich prüfend um und stellte erleichtert fest, dass ihr niemand folgte. Trotzdem blieb sie wachsam. Ihre Augen huschten in jeden schmalen Toreingang und verborgenen Winkel, in denen sich leicht jemand mit bösen Absichten verbergen und ihr auflauern konnte.
Seit dem Tod Karls V. waren die Straßen nicht mehr sicher.
Nach und nach öffneten sich die Fensterläden der ansehnlichen Steinhäuser, und die Mägde der wohlhabenden Händler und Handwerker traten mit Holzeimern in den Händen aus den Häusern, um Wasser aus dem nahe gelegenen Brunnen zu holen.
Anastasia wich ihnen aus und achtete nicht auf die neugierigen Blicke, die ihr folgten. Sie hatte Angst vor dem leeren Haus, das sie erwartete, und sehnte sich gleichzeitig danach, die schwere Holztüre hinter sich schließen und in der kühlen Stille ihres Elternhauses die schrecklichen Ereignisse der vergangenen Tage vergessen zu können.
Endlich tauchte das schmale Haus mit dem vorkragenden Obergeschoss und dem Schieferdach vor ihr auf, das sich unauffällig in die Häuserreihe einfügte. Die verschlossenen Holzläden im Obergeschoss wirkten abweisend und warfen unwillkürlich die Frage auf, ob die Hausbewohner nicht etwas zu verbergen hatten.
Anastasia beschleunigte ihre Schritte.
Sie streckte ihre Hand nach dem eisernen Türknauf aus und sah im gleichen Moment, dass die Türe offen stand, wenn auch nur einen Spaltbreit. Sie war sich sicher, dass sie die Türe hinter sich zugezogen hatte, bevor sie sich zum Kirchhof aufgemacht hatte. Irgendetwas stimmte nicht! Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Vorsichtig stieß sie die Türe ein winziges Stück weiter auf. Ein knarrendes Geräusch durchbrach die Stille, und Anastasias Hand zuckte zurück, als hätte sie glühendes Eisen berührt. Sie wagte kaum zu atmen. Ängstlich verharrte sie auf der Türschwelle, unschlüssig, was sie tun sollte.
»Na, Mädchen, fürchtest du dich hineinzugehen?«, fragte da eine spöttische Stimme hinter ihr.
Anastasia fuhr herum und starrte in Gastons breit grinsendes Gesicht.
Gaston war der älteste Sohn des Buchbinders, der das Haus neben ihrem bewohnte und es zu einigem Wohlstand gebracht hatte.
»Wenn du willst, begleite ich dich, ich fürchte die Geister der Verstorbenen nicht«, behauptete er großspurig. Seine eng zusammenstehenden, dunklen Augen blieben an ihrem Busen haften, und ein lüsterner Ausdruck löste das breite Grinsen auf seinem Gesicht ab.
Anastasia schüttelte angewidert den Kopf, brachte aber kein Wort heraus. Gaston bewegte sich zielstrebig auf sie zu. Er war groß und kräftig, und der gierige Blick, mit dem er sie musterte, ließ sie nichts Gutes ahnen.
Mit einem Aufschrei floh Anastasia durch die Türe und warf sie krachend hinter sich zu. Ihre Hände zitterten, als sie den schweren Eisenriegel vorschob. Schwer atmend blieb sie in der Diele stehen. »Ich werd dich schon noch erwischen, du dumme Gans«, hörte sie Gastons höhnische Stimme.
Gaston überlegte, ob er die Türe aufbrechen sollte. Wie jedes Mal, wenn er Anastasia sah, begann sein Blut zu kochen, und er wurde von einem wilden Verlangen nach ihrem biegsamen Körper und ihren festen Brüsten gepackt. Nur die Angst vor ihrem Vater hatte ihn bisher davon abgehalten, ihr aufzulauern und sich zu nehmen, was er begehrte, doch nun war der Alte tot und konnte sie nicht länger beschützen.
Sein Atem ging schneller. Wie schön sie war. Der gehetzte Ausdruck in ihren Augen und ihre Hilflosigkeit erregten ihn noch mehr als sonst, und er spürte, wie sein Glied anschwoll.
Ein Schwall kalten Wassers klatschte ihm ins Gesicht, dem ein gackerndes Gelächter folgte. »Dein Vater erwartet dich in seinem Kontor, und wenn ich du wäre, würde ich mich beeilen, denn er befindet sich in einer äußerst gereizten Stimmung.«
Gaston wandte sich laut fluchend ab, und Anastasia dankte Carmina im Stillen. Die Magd ihrer Nachbarn hatte sie nicht zum ersten Mal vor den Zudringlichkeiten Gastons bewahrt. Sie öffnete die Haustüre und winkte Carmina aufgeregt zu.
»Ich war am Grab meines Vaters, und als ich zurückkam, stand die Haustüre offen, obwohl ich ganz sicher bin, dass ich sie geschlossen habe«, rief sie ihr zu.
Carmina nickte beruhigend.
»Ich komm runter, und dann sehen wir gemeinsam nach«, versprach sie, wie Anastasia es gehofft hatte.
Carmina war zehn Jahre älter und einen Kopf kleiner als Anastasia und schnaufte von dem kurzen, schnellen Lauf, als sie bei Anastasia eintraf.
Ihr schwerer Busen bebte, und sie schnappte mit offenem Mund nach Luft.
»Mir war, als hätte ich früh am Morgen Geräusche gehört«, berichtete sie atemlos, »und das habe ich dem Herrn auch erzählt, doch der meinte, ich hätte mir das nur eingebildet. Dabei habe ich einen leichteren Schlaf als er, und meine Kammer liegt zur Straße hin«, fügte sie aufmüpfig hinzu.
»Aber der Herr hat nun einmal recht, und wenn er sagt, dass gebratene Tauben vom Himmel fallen, dann ist das eben so«, seufzte sie.
Anastasia achtete nicht weiter auf Carminas Geplapper. Leichtfüßig lief sie ins Haus, blieb in der Diele stehen und hob lauschend den Kopf.
Carmina folgte ihr und verstummte auf einen Wink Anastasias. Im Haus des Tintenhändlers war es ruhig und eisig kalt.
Der Kamin war irgendwann ausgegangen, weil kein Holz mehr nachgelegt worden war.
Anastasia atmete erleichtert auf. Wahrscheinlich hatte sie doch nur vergessen, die Türe zu schließen. Ihre Anspannung löste sich und wich einer bleiernen Müdigkeit. Sie wollte nur noch schlafen und vergessen, was in den letzten beiden Tagen alles geschehen war.
Aber dann bemerkte sie, dass die Türe zum Arbeitszimmer ihres Vaters offen stand. Pergamente und Bücher waren über den ganzen Arbeitstisch hinweg verstreut. Der Inhalt des silbernen Tintenfässchens ihres Vaters floss über den Tisch, und die unzähligen mit pulverisierter Tinte gefüllten Tiegel und Fläschchen lagen überall auf dem Boden.
»Jemand war in Vaters Arbeitszimmer!« Anastasia rang sichtlich nach Fassung. »Vielleicht sollten wir besser den Herrn holen oder wenigstens einen der Knechte«, schlug Carmina ängstlich vor, doch Anastasia war bereits in das Arbeitszimmer gelaufen und starrte entsetzt auf das heillose Durcheinander, das sich ihr bot. »Heilige Muttergottes«, presste Carmina hervor, die ihr vorsichtig gefolgt war.
»Ich darf gar nicht daran denken, was alles hätte geschehen können, wenn du nicht zum Grab deines Vaters gegangen, sondern hier gewesen wärst.«
Anastasia zuckte bei Carminas Worten zusammen, erinnerten sie diese doch erneut an das, was sie getan hatte. Ja, sie war am Grab ihres Vaters gewesen, nur dass sich dieses keineswegs auf dem großen Friedhof mit dem überfüllten Beinhaus am Rande der Stadt befand, dessen Gestank an manchen Tagen kaum zu ertragen war und wo alle die sterblichen Überreste ihres Vaters vermuteten.
Es war Vaters letzter Wunsch, dachte sie und versuchte, ihr Handeln vor sich selbst zu entschuldigen, obwohl sie genau wusste, dass es nichts gab, was ihre Tat rechtfertigte.
Sie wusste, dass sie eine schwere Schuld auf sich geladen hatte, indem sie gegen Gottes Ordnung verstieß, die nicht vorsah, dass ihr Vater zwischen Fürsten und Grafen begraben wurde. Aber sie hatte keine Ahnung, wie schwer diese Schuld tatsächlich wog. In der Hoffnung, ihr Gewissen zu erleichtern, war sie nach der offiziellen Beerdigung in die Heilige Kapelle gegangen, um ihre Sünde zu beichten, doch vor dem Beichtstuhl hatte sie der Mut verlassen, und sie war aus der Kirche geflohen, so, wie sie vor dem entsetzten Blick der vornehmen Fremden am Grab ihres Vaters geflohen war. Würde sie von nun an immer auf der Flucht sein? Ihr Kopf schmerzte vom vielen Denken. Sie schloss die Augen und presste die Hände gegen ihre Schläfen, hinter denen es unablässig hämmerte. Tatsächlich ließ der Schmerz daraufhin ein wenig nach, und sie wurde ruhiger.
»Was geschehen ist, ist geschehen«, hatte ihr Vater immer gesagt, wenn er davon überzeugt war, dass sich eine Sache nicht mehr ändern ließ und es aus diesem Grund auch nicht mehr lohnte, sich weiter damit zu befassen.
»Was geschehen ist, ist geschehen«, wiederholte Anastasia laut. Carmina sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren.
»Macht es dir denn gar nichts aus, dass jemand in euer Haus eingedrungen ist?«, fragte sie ungläubig.
Anastasia riss die Augen wieder auf. Das Regal mit den Werkstattbüchern und den wertvollen Rezepturen ihres Vaters war leer, ebenso alle anderen Regale und die beiden Bücherkisten. »Die Rezepturen sind fort«, stieß sie tonlos hervor. Sie waren das Wertvollste, was ihr Vater besessen hatte, denn sie enthielten die genauen Mengenangaben der Zutaten, mit denen sich die farbenprächtigen Tinten herstellen ließen, auf die ihr Vater so stolz gewesen war.
»Wer tut so etwas?«, sagte Anastasia und sprach damit aus, was beide Frauen dachten.
Eine grenzenlose, unerträgliche Leere breitete sich in ihr aus, und sie fühlte sich einsam wie noch nie in ihrem Leben.
Carmina war ebenso ratlos wie sie selbst. Die Tatsache, dass es Menschen gab, die den Tod des Tintenhändlers gezielt nutzten, um in sein Haus einzubrechen und dort zu wüten, erschütterte sie bis ins Innerste. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Doch es wäre bestimmt besser, wenn du in den nächsten Tagen bei mir in der Kammer schlafen würdest. Sie ist zwar klein, aber wenigstens wärst du dort in Sicherheit«, bot sie ihr nicht ohne Hintergedanken an. Denn aus Angst vor Einbrechern und anderem Gesindel würde sie die nächsten Nächte ganz sicher kein Auge zutun. Aber wenn Anastasia bei ihr wäre, würde sie immerhin nicht ganz alleine in ihrer fensterlosen Kammer mit den unheimlich knarrenden Geräuschen im wurmstichigen Gebälk sein.
Ein Scharren durchbrach die Stille. Es kam aus der Küche. Anastasia erstarrte, und Carmina presste erschrocken eine Hand vor den Mund.
Ihr Blick flog zur Türe. »Sie sind noch im Haus«, stieß sie mit zitternder Stimme hervor und klammerte sich ängstlich an Anastasia, die ebenfalls wie gebannt auf die offene Türe starrte. Jetzt hörten sie in der Küche auch gedämpfte Männerstimmen, die lauter wurden und näher kamen. Anastasia stockte der Atem, als plötzlich ein hochgewachsener, dunkelblonder Mann mit einem Talglicht in der Hand im Türrahmen erschien. Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung. Das war doch nicht möglich! »Vater«, stammelte sie und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er nicht tot war und sie alle sich geirrt hatten. Doch es war nicht ihr Vater, der ohne ein Wort des Grußes hereinkam, sondern sein jüngerer Bruder. Raimund Braques’ Züge glichen denen ihres Vaters so sehr, dass sich Anastasia einen Moment lang hatte täuschen lassen. Die lange gerade Nase, die hohe Stirn, die dichten Brauen und das breite Kinn. Er sah aus wie ihr Vater, als er noch gesund gewesen war, aber sie hatte ihn so lange nicht mehr gesehen, dass sie fast vergessen hatte, dass es ihn gab.
Sie schluckte. »Ich bin froh, dass Ihr gekommen seid, Onkel«, sagte sie erleichtert.
Raimund Braques gab ihr keine Antwort, stattdessen wandte er sich an seinen Begleiter, der abwartend in der Türe stehen geblieben war.
Ein grüner Mantel mit Pelzbesatz umhüllte seine hagere Gestalt, und Anastasia fiel auf, dass er spitze, goldverbrämte Tuchschuhe trug.
Farben, die allein dem Adel und dem hohen Klerus vorbehalten waren. Was hatte das zu bedeuten?
»Meine Nichte«, erklärte ihr Onkel gleichgültig.
Die Gesichtszüge des hageren Mannes entspannten sich.
Raimund Braques’ Blick wanderte zu Anastasia, die vor der Kälte in seinen Augen zurückschreckte.
»Wo bist du gewesen?« Die Schärfe in seiner Stimme trieb ihr die Tränen in die Augen.
Hilflos hob sie ihre Hände. »Ich war an Vaters Grab, und als ich zurückkam...« Sie sah zu ihm auf. Die Wut in seinen Augen ließ sie verstummen.
»So früh am Morgen?« Seine Augen verengten sich misstrauisch. »Steckt da etwa ein Kerl dahinter?«
Anastasia spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg, worauf sich die Miene ihres Onkels verächtlich verzog. Er hatte mit seiner Vermutung also recht gehabt.
Sie begann zu zittern.
»Es ist nicht so, wie Ihr denkt. Ich wollte Vater nur nicht alleine lassen in seiner ersten Nacht«, flüsterte sie und hoffte inbrünstig, dass er ihr glauben würde. Doch Raimund Braques dachte nicht daran, ihr diesen Gefallen zu tun. Ein bitterer Zug legte sich um seinen Mund.
»Mein Bruder ist tot.« Ein unüberhörbarer Vorwurf klang in seiner Stimme mit. Als wäre Vater freiwillig in den Tod gegangen, dachte Anastasia, und ein beklemmendes Gefühl legte sich wie ein eiserner Ring um ihre Brust.
»Als sein nächster männlicher Verwandter bin ich gekommen, um seine Angelegenheiten zu regeln«, fuhr ihr Onkel in scharfem Ton fort, während sich seine Augen weiterhin unbarmherzig in die ihren bohrten. »Und jetzt zeig mir, wo er seine Aufzeichnungen aufbewahrt hat.«
Anastasia senkte schuldbewusst ihren Blick. »Sie waren dort in dem Regal«, gab sie zurück.
Ihr Onkel sah sie an, als wäre sie schwachsinnig.
»Das weiß ich selbst«, zischte er ungeduldig. »Ich habe sie alle durchgesehen, ich spreche von den anderen.«
»Welchen anderen?«, entfuhr es Anastasia. Sie war so verwirrt, dass sie nicht mehr wusste, was sie denken sollte. Hatte ihr Onkel tatsächlich gerade zugegeben, für das heillose Durcheinander im Arbeitszimmer ihres Vaters verantwortlich zu sein? Erleichterung machte sich in ihr breit, als ihr klar wurde, dass die Rezepturen ihres Vaters nicht verschwunden waren, wie sie im ersten Moment angenommen hatte.
Raimund Braques dachte einen Augenblick nach. Ein lauernder Ausdruck trat in seinen Blick.
»Ich bin davon überzeugt, dass er ein Versteck hatte, in dem er die Dinge aufbewahrte, die nur ihn etwas angingen. Mein Bruder war schon immer ein Geheimniskrämer.« Es klang so verächtlich, dass Anastasia vor Empörung tief Luft holen musste, um ihm nicht dementsprechend zu antworten. Sie hatte das Gefühl, ihren Vater verteidigen zu müssen, aber sie wollte ihren Onkel nicht noch mehr gegen sich aufbringen. Hilflos presste sie die Hände gegen ihre Stirn. Sie war vom Sturm der Gefühle, der in ihrem Inneren tobte, vollkommen durcheinander.
»Davon weiß ich nichts«, erwiderte sie schließlich mutlos.
Die Kälte, die von ihrem Onkel ausging, ließ sie frösteln. Sie hatte Raimund Braques nicht mehr gesehen, seitdem er vor vielen Jahren nach einem heftigen Streit mit ihrem Vater wütend das Haus verlassen hatte. Damals war sie noch ein Kind gewesen.
Anastasia sah, wie es hinter seiner hohen Stirn arbeitete. Plötzlich fiel sein Blick auf Carmina, und seine dunklen Brauen schoben sich drohend zusammen.
»Was stehst du hier herum?«, blaffte er die Magd an, die schweigend hinter Anastasia stand und mit großen Augen dem Gespräch lauschte. »Mach uns etwas zu essen und bring uns Wein«, befahl er ihr. Carmina sah Anastasia Hilfe suchend an, die sich daraufhin beeilte, ihn aufzuklären.
»Sie ist nicht unsere Magd, Onkel, sondern die unseres Nachbarn«, erklärte sie eingeschüchtert von seinem barschen Tonfall. Sie fühlte sich unbehaglich unter seinem Blick und schuldig. »Ich werde Euch etwas zu essen machen«, erbot sie sich, in der Hoffnung, seinem durchdringenden Blick damit für eine Weile zu entkommen. »Das habe ich für Vater auch immer getan. Er wollte keine Dienstboten im Haus.«
Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern griff nach Carminas Hand und zog sie an dem hageren Mann mit den goldverbrämten Schuhen vorbei aus dem Zimmer. Sie hörte, wie die Türe hinter ihnen zugezogen wurde, und blieb so abrupt stehen, dass Carmina gegen sie prallte und unruhig an ihrer mit Mehl bestäubten Schürze herumzupfte.
»Was hat das alles zu bedeuten?«, flüsterte sie eingeschüchtert.
Anastasia seufzte traurig. »Ich weiß es nicht. Zuerst war ich erleichtert, den Bruder meines Vaters zu sehen, doch nun bin ich mir nicht mehr sicher. Er kommt mir vor wie ein Fremder.«
Carmina nickte heftig und zog eine Grimasse. Ihre Meinung über Anastasias Onkel stand längst fest. »Er ist kalt wie ein Barsch, und ich hoffe nur für dich, dass er bald wieder dahin verschwindet, wo er hergekommen ist. Davon abgesehen hat er mir nicht den Eindruck gemacht, als wolle er dich beschützen, und ich glaube fast, dass du ohne ihn besser dran wärest.« Sie biss sich auf die Lippen. Die letzten Worte waren ihr einfach so herausgerutscht, obwohl sie Anastasia nicht noch mehr ängstigen wollte.
Anastasia sagte nichts, doch Carmina sah, wie es in ihr arbeitete. Plötzlich fiel ihr etwas ein, und sie schlug sich erschrocken mit der Hand gegen die Stirn.
»Jesus und Maria, ich habe das Brot im Backofen vergessen. Hoffentlich ist es noch nicht verbrannt«, rief sie aus und eilte zur Türe.
Anastasia zuckte zusammen, als die Haustüre laut hinter ihr ins Schloss fiel.
Seufzend ging sie in die Küche, wo sie der vertraute Geruch von geräuchertem Schinken und getrockneten Kräutern empfing. In dem niedrigen rußgeschwärzten Raum war alles noch so, wie es vor dem Tod ihres Vaters gewesen war, und für einen Moment genoss sie die behagliche Atmosphäre, die der Raum ausstrahlte. Sie stellte sich vor, wie sie Brot für ihren Vater aufgeschnitten und seinen Wein auf dem gemauerten Herd erhitzt hatte, bevor sie den süßen Honig und die Kräuter in ihn hineingab, die ihm halfen, seine zitternden Hände zu beruhigen.
Eine Maus huschte über ihre Füße und holte sie in die Wirklichkeit zurück.
Der Backofen war kalt. Ihn vorzuheizen, um Brot backen zu können, würde zu lange dauern. Ihr Onkel würde sich daher mit Fladen aus Haferflocken begnügen müssen. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis sie das Feuer im Herd geschürt hatte. Sie legte noch einige Holzscheite nach. Dann nahm sie einen dickbäuchigen Krug und eine Holzschüssel aus dem Regal, öffnete die Falltüre und stieg die wenigen Holzstufen zum Vorratskeller hinab.
Wie verächtlich die Stimme ihres Onkels geklungen hatte, als er behauptet hatte, ihr Vater wäre ein Geheimniskrämer gewesen.
Wieder stieg Empörung in ihr auf. Ob ihr Vater jetzt im Himmel war und sie von dort aus beobachtete? Sie schüttelte den Kopf über diesen närrischen Gedanken. Wie sollte er wohl durch das Dach und die Decken bis in den Keller hinunterschauen können?
Sie dachte an ihre Mutter, die der Herr so früh zu sich gerufen hatte und die sie noch immer schmerzlich vermisste.
Damals war sie wütend auf Ihn gewesen, und wenn sie ehrlich war, war sie selbst jetzt noch wütend auf Ihn, auch wenn sie jedes Mal ein furchtbar schlechtes Gewissen dabei hatte. Bestimmt war ihre Mutter glücklich darüber, ihren Vater endlich bei sich zu haben, und sie wollte doch, dass ihre Mutter glücklich war, oder nicht? Nur war sie deshalb jetzt ganz allein mit ihrem Onkel, der sie und ihren Vater verachtete. Wenn sie nur wüsste, was damals geschehen war? Worum es in dem furchtbaren Streit gegangen war, der die beiden Brüder für immer entzweit hatte. Ob sie es wagen konnte, ihren Onkel danach zu fragen?
Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf, als sie seine kalten unbarmherzigen Augen vor sich sah.
Sie nahm den Deckel von dem Vorratsgefäß mit den Haferflocken und blickte hinein. Es war fast leer. Auch ihre anderen Vorräte waren fast aufgebraucht, weil sie sich in den letzten Wochen geweigert hatte, mit Carmina auf den Markt zu gehen und ihren kranken Vater allein zu lassen. Sie beugte sich über das Vorratsgefäß und füllte die Schüssel mit Haferflocken. Zusammen mit dem restlichen Mehl würde es noch für ein paar Fladen reichen. Anschließend füllte sie den Krug mit Wein und stellte fest, dass das Fass ebenfalls beinahe leer war. Auf dem kurzen Weg zurück zur Kellerstiege fiel ihr Blick auf das grob zusammengezimmerte Holzregal an der Wand, hinter dem sich der Eingang zu einem weiteren Raum verbarg. Das Regal war verrückt worden und stand einen Spalt weit von der Wand ab.
Ihr Onkel hatte also von dem heimlichen Zimmer im Keller gewusst und war hier unten gewesen, als sie nach Hause gekommen war! Wahrscheinlich hatte er es ebenfalls durchwühlt. Sie stellte den Weinkrug und die Schüssel ab und schob das Regal ein Stück weiter von der Wand weg, sodass die Öffnung groß genug war, um in den Raum hineinzusehen. Nächtelang hatte ihr Vater hier drin an seinen Rezepturen gearbeitet, und niemand außer ihnen beiden hatte von dem Zimmer gewusst, zumindest hatte sie das bislang geglaubt. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie einen Blick in den niedrigen Raum warf. Der faulige Geruch von Schwefel schlug ihr entgegen, und sie hielt sich die Hand vor die Nase. Das wenige Licht, das von der gegenüberliegenden Stiege in den Keller fiel, reichte nicht aus, um viel erkennen zu können.
Mit einem Ruck schob Anastasia das Regal wieder zurück an die Wand. Sie würde sich später darum kümmern.
Von oben drangen klopfende Geräusche in den Keller. Sie nahm den Krug und die Schüssel und beeilte sich zurück in die Küche zu kommen. In der Küche war alles still, und sie glaubte schon, sie hätte sich geirrt, als es erneut zu klopfen begann. Es hörte sich an, als wenn jemand die Wände abklopfte.
Anastasia spürte, wie der Zorn in ihr hochstieg. Auch wenn ihr Onkel das Recht besaß, sich um den Nachlass ihres Vaters zu kümmern, hieß das noch lange nicht, dass er sich an seinen Sachen zu schaffen machen konnte, wie er wollte. Sie stellte die Holzschüssel und den Weinkrug auf dem Tisch ab und lief so schnell sie konnte zum Arbeitszimmer ihres Vaters.
Ihr Onkel stand neben seinem Begleiter vor der dunklen Holzvertäfelung, mit der das gesamte Zimmer verkleidet war, und hielt lauschend ein Ohr an die Wand, während er mit den Fingerknöcheln das Holz abklopfte. Sein Begleiter stand neben ihm und sah ihm mit angespannter Miene dabei zu.
Ihr Vater war kein Geheimniskrämer gewesen, sondern ein ehrlicher Mann, der sein Geld mit ehrlicher Arbeit verdient hatte.
»Vater hatte nichts zu verbergen«, brach es trotzig aus ihr heraus.
Ihr Onkel warf ihr einen drohenden Blick zu.
»Verschwinde und stör uns nicht länger«, befahl er, ohne seine Arbeit zu unterbrechen.
Anastasia bewegte sich nicht von der Stelle.
Irgendetwas in ihr sträubte sich dagegen, ihrem Onkel zu gehorchen.
Raimund Braques’ Augen verengten sich zu glitzernden blauen Schlitzen, doch Anastasia sah trotz der Kälte, die sie ausstrahlten, Angst in ihnen stehen. Angst, die er durch sein kaltherziges Auftreten zu verbergen suchte, damit niemand bemerkte, wie angreifbar er in Wirklichkeit war. Auf seiner Stirn hatten sich feine Schweißperlen gebildet, und sein Blick wirkte gehetzt. Anastasias Augen huschten über das Gesicht seines Begleiters, in dessen Augen ein fiebriger Glanz getreten war.
Schauer rannen ihr den Rücken hinab, und sie begann zu frösteln.
Was ging hier vor sich? War es möglich, dass ihr Onkel recht hatte und ihr Vater doch etwas vor ihr und der Welt verborgen hatte? Bilder aus der Vergangenheit stiegen auf einmal vor ihr auf. Sie versuchte sich zu erinnern, versuchte den Sinn der Wortfetzen zu begreifen, die wie aus weiter Ferne an ihr Ohr drangen.
»... Rezepturen vernichtet ... ›Der Grüne Löwe‹ lässt sich nicht bezwingen ... verändert sich ... wie Gestirne sich verändern ... muss erst den richtigen Zeitpunkt finden«, hörte sie die Stimme ihres Vaters erneut. »Der Grüne Löwe« hatte sie damals neugierig gemacht. Auf dem Jahrmarkt hatte sie einmal einen Löwen gesehen, aber der war gelb gewesen, und sie hatte nicht gewusst, dass es auch grüne Löwen gab.
Sie hatte versucht, sich einen grünen Löwen vorzustellen. War er so grün wie das Gras an den Ufern der Seine oder so dunkelfarben und glitzernd wie der längliche Kristall, den sie einmal auf dem Schreibtisch ihres Vaters gesehen hatte? Der Gedanke an einen glitzernden Löwen gefiel ihr besser. Während sie von einem grünen Kristalllöwen geträumt hatte, war die Stimme ihres Onkels immer lauter geworden.
»Was hast du denn gedacht, wofür du das viele Gold erhalten hast? Allein für das Farbfläschchen? Deine Reue kommt ein wenig zu spät, der König ist tot.«
»Du hast mich belogen, hast mich nur benutzt.« Die Stimme ihres Vaters klang mit einem Mal dünn wie gebrochen.
»Aber nur, weil du belogen werden wolltest. Bist du wirklich so dumm? Was macht es denn für einen Unterschied, wer durch dein Gift ums Leben gekommen ist? Vor Gott sind alle Menschen gleich, so steht es geschrieben.«
Warum war Onkel Raimund auf einmal so böse zu ihrem Vater? Das durfte er nicht. Sie hatte die Ohren gespitzt und war bereit gewesen, aufzuspringen und ihrem Vater zu helfen, wenn es nötig werden sollte.
»Wie kannst du es wagen, Seinen Namen auszusprechen, nach dem, was du getan hast«, erwiderte ihr Vater tonlos.
Die Stimme ihres Onkels hatte sich daraufhin verändert, einen beschwörenden Tonfall angenommen, und er hatte versucht, ihren Vater zu überzeugen.
»Es geht um eine höhere Sache, das Seelenheil der gesamten Christenheit ist gefährdet. Für ein solches Ziel muss man eben Opfer bringen, denk doch nur an die Kreuzzüge. Tausende haben ihr Leben gegeben, um die Heilige Stadt aus den Händen der Ungläubigen zu befreien. Was ist dagegen das Leben eines Einzelnen? Ich brauche nur das Rezept, dann kannst du deine Hände in Unschuld waschen.«
»Du bist wahnsinnig. Ich wünsche, dass du mein Haus sofort verlässt und dich nie wieder hier blicken lässt. Ab heute habe ich keinen Bruder mehr.« Anastasias Augen füllten sich mit Tränen. Die Stimme ihres Vaters hatte so traurig geklungen, dass auch sie ganz traurig geworden war.
Die plötzliche Stille im Raum machte ihr siedend heiß bewusst, dass sie beobachtet wurde. Die beiden Männer hatten ihre Arbeit unterbrochen und starrten sie an. Und noch bevor sie wusste, wie ihr geschah, war Raimund Braques bei ihr und packte sie an den Schultern. Er schüttelte sie so heftig, dass ihr Kopf nach hinten flog und sie sich vor Schreck auf die Zunge biss. Sie spürte das warme Blut in ihrem Mund. Es schmeckte salzig.
»Sag uns, was du weißt, Mädchen«, forderte ihr Onkel. Der Glanz in seinen Augen erlosch, und ein flehender Unterton schwang in seiner herrischen Stimme mit.
Anastasia hob die Schultern und ließ sie wieder sinken, schließlich schüttelte sie hilflos den Kopf. »Ich weiß nichts«, erwiderte sie leise. »Ich dachte, ich hätte mich an etwas erinnert, aber es ist zu lange her.« Die letzten Worte hatte sie nur noch geflüstert. Aus ihrem Gesicht war jede Farbe gewichen.
Über ihren Kopf hinweg tauschte Raimund Braques einen Blick mit seinem Begleiter. Dann ließ er sie los. Anastasia spürte den Blick des hageren Mannes mit den Tuchschuhen in ihrem Rücken, als sie mit hölzernen Bewegungen das Arbeitszimmer ihres Vaters verließ.
Zurück in der Küche nahm sie die Schüssel mit den Haferflocken und gab etwas Salz und Mehl dazu, als ihr einfiel, dass sie weder gestern noch heute am Brunnen gewesen war, um Wasser zu holen. Der Gedanke, das Haus zu verlassen, um Wasser zu holen, widerstrebte ihr. Weder wollte sie Gaston begegnen noch ihrem Onkel und seinem merkwürdigen Begleiter das Haus ihres Vaters überlassen. Auf der Fensterbank fand sie eine Schale mit einem Rest ausgeflockter Milch, auf der sich eine gelbliche Haut gebildet hatte. Sie schöpfte den Rahm ab, gab die Molke anstelle von Wasser in die Schüssel und verrührte alles zu einem dickflüssigen Brei.
Die Decke über ihr knarrte unter den Schritten der beiden Männer. Ihr Onkel durchsuchte die Schlafkammern im Obergeschoss.
Das, wonach er suchte, musste von großer Bedeutung für ihn sein.
Als die Fladen fertig waren, schnitt sie zwei Scheiben vom Schinken ab, richtete alles auf einer Zinnplatte an und deckte den Tisch mit einem weißen Leinentuch. Durch die geöffnete Küchentüre hörte sie, wie die beiden Männer die Treppe wieder herabstiegen. Sie ging zur Türe, um sie zum Essen zu rufen, hielt dann aber mitten in der Bewegung inne.
»Eure Nichte ist eine Gefahr für unser Unternehmen«, sagte der Begleiter ihres Onkels gerade.
Raimund Braques schnaubte unwillig. »Sie weiß nichts. Hätte mein Bruder außerdem vorgehabt, etwas gegen uns zu unternehmen, hätte er das schon vor Jahren getan.«
Der Hagere schien nicht überzeugt.
»Und was ist mit der Rezeptur? Wir können es uns nicht leisten, ein Risiko einzugehen.«
»Er hat sie vernichtet, sonst hätten wir sie gefunden.« Die Schritte waren jetzt kurz vor der Türe. Anastasia lief rasch zum Tisch zurück, nahm den Krug mit dem Wein und füllte die Becher. Sie wäre weniger ruhig gewesen, hätte sie den Rest des Gespräches ebenfalls noch mit angehört.
»Ich werde ihr einen Ehemann außerhalb der Stadt suchen, wenn Euch das beruhigt«, fügte Raimund Braques noch hinzu. Doch der Ausdruck in den Augen seines Begleiters ließ sein Innerstes gefrieren. Anastasia war seine Nichte, seine letzte lebende Verwandte. In ihren Adern floss das gleiche Blut wie in seinen.
»Ich werde das Problem auf meine Art lösen, und Ihr werdet mich nicht daran hindern.« Chrétien hatte seine Stimme nicht erhoben, dennoch hatte Raimund Braques den drohenden Unterton, der in ihr lag, deutlich vernommen. Er begann zu schwitzen und verfluchte sich dafür, sich jemals auf diese Geschichte eingelassen zu haben. Doch damals war seine Gier größer gewesen als seine Angst, und jetzt gab es keinen Weg mehr zurück. Denn Chrétien würde nicht zögern, auch ihn zu beseitigen, sollte er es wagen, sich ihm in den Weg zu stellen.
Die beiden Männer betraten die Küche und setzten sich. Während sie aßen, dachte Anastasia über das Gehörte nach. Sie sei eine Gefahr für ihr Unternehmen, hatte der Hagere gesagt. Was hatte er damit gemeint? Sie wusste es nicht, ahnte jedoch, dass es nichts Gutes bedeuten konnte.
Ihr Onkel wirkte mit einem Mal unruhig und gereizt.
»Ich muss jetzt gehen«, sagte er knapp, trank seinen Weinbecher in einem Zug leer und erhob sich. Der Hagere stand ebenfalls auf.
Anastasia schlug rasch die Augen nieder, um ihre Erleichterung zu verbergen. Sie wünschte nichts mehr, als dass die beiden endlich gehen und sie in Ruhe lassen würden.
Aber Raimund Braques war noch nicht fertig.
»Unter diesen Umständen wird es das Beste sein, wenn ich so schnell wie möglich einen Ehemann für dich suche«, meinte er, ohne ihr näher zu erklären, von welchen Umständen er sprach. Ob diese etwas mit den geheimnisvollen Aufzeichnungen zu tun hatten, deretwegen er das gesamte Haus durchwühlt hatte? »Dein Vater hat wahrscheinlich nicht einmal bemerkt, dass du das heiratsfähige Alter längst erreicht hast«, fügte er hinzu, in der Hoffnung, seinen Begleiter doch noch zu überzeugen, aber ein Blick in dessen Gesicht zeigte ihm, dass sein Versuch vergeblich war. Er hatte getan, was er konnte. Es wäre die Aufgabe seines Bruders gewesen, Anastasia zu beschützen. Schließlich trug er auch die Schuld daran, dass es überhaupt so weit gekommen war.
Auf dem Weg zur Haustüre zog ein leichter Schwefelgeruch in Raimund Braques’ Nase, und plötzlich hatte er es sehr eilig, das Haus seines Bruders zu verlassen. Seine Hände zitterten, als er die Haustüre öffnete. Er wusste, dass er feige war, und er hasste sich dafür. Aber es lag nicht in seiner Macht, das weitere Geschehen zu ändern, und deswegen war es sinnlos, noch länger darüber nachzudenken. Wenn er sich gegen Chrétien stellte, konnte er sich genauso gut in die Seine stürzen. Es war ein Fehler gewesen, sich in dessen ehrgeizige Pläne mit hineinziehen zu lassen. Sein Bruder war schuld daran. Warum musste er auch versuchen, Dinge zu verändern, von denen man besser die Finger ließ? Er fluchte lautlos in sich hinein. Sein Bruder war schon immer ein Sturkopf gewesen, der seine Aufzeichnungen niemals verbrannt hatte, so, wie er es Chrétien gegenüber behauptet hatte. Nein, er hatte sie versteckt. Irgendwo, wo niemand sie finden würde. Vielleicht sollte er das Haus noch einmal genauer untersuchen. Alle Wände, Nischen und jede verdammte Ritze, bis er gefunden hatte, wonach er suchte.
»Ich habe noch eine Angelegenheit zu regeln und möchte Euch bitten, mich zu begleiten«, sagte Chrétien mitten in seine Gedanken hinein, und etwas in seinem Tonfall beunruhigte Raimund Braques. Er musterte Chrétien heimlich von der Seite. Der wirkte beherrscht und kühl wie immer, aber in seiner Stimme hatte etwas mitgeschwungen, das ihn warnte.
Und plötzlich wusste er, dass Chrétien sich nicht damit begnügen würde, nur seine Nichte umzubringen.
Anastasia hörte die Haustüre zufallen. Sie war allein, allein mit ihren Gedanken, in denen immer wieder die Rezepturen auftauchten, von denen ihr Onkel gesprochen hatte. Die Ereignisse hatten sie stärker verwirrt, als sie sich eingestehen wollte. Sie sank auf einen Stuhl und starrte auf das grün schimmernde, blinde Küchenfenster. Ihre Knie zitterten, und es dauerte eine Weile, bis ihre Anspannung nachließ. Vom Boden stieg kalte Feuchtigkeit in ihre Glieder, doch sie merkte es nicht. Ihre Gedanken kehrten zurück in ihre Kindheit, die mit dem Tod ihrer Mutter ein so jähes Ende gefunden hatte. Immer mehr Bilder tauchten vor ihrem inneren Auge auf, und mit ihnen kam die Erinnerung Stück für Stück zurück. Es war, als würde sie malen und dabei zusehen, wie die feinen Federstriche sich Strich für Strich zu einem Gemälde zusammenfügten. Anastasia stockte der Atem, sie hatte das Gefühl, vor einem tiefen Abgrund zu stehen. Damals war sie zu jung gewesen, um die Zusammenhänge zu begreifen, und sie wünschte, sie wäre es noch. Der Gedanke, dass ihr Vater etwas mit dem Tod des Königs zu tun gehabt haben könnte, war unvorstellbar. Ihr Vater war kein Mörder, und der König war so weit von ihrem Leben entfernt wie der Abendstern vor ihrem Fenster.
Sie hatte Karl V. nur ein einziges Mal gesehen.
Am Tag der Heiligen Drei Könige war er durch die Stadt bis zur Porte Saint-Honoré geritten, um dort den Kaiser zu empfangen. Auf seinem mächtigen weißen Zelter ragte er über die Menge hinweg, umweht von einem blutroten Mantel mit einem Saum aus Hermelin.
Die Mörder Karls V. waren mehrere Jahre später öffentlich enthauptet worden, ihre kopflosen Körper hatte man an den Galgen gehängt und ihre abgetrennten Gliedmaßen an die Tore von Paris. In Wirtshäusern, auf Marktplätzen und an den Brunnen war tagelang von nichts anderem mehr geredet worden.
Nur die wahren Drahtzieher hatte man nie gefasst!
Und jetzt war ihr Onkel auf der Suche nach dem Rezept, das dem König von Frankreich den Tod gebracht hatte. Wollte er damit jeden Beweis vernichten, der auf seine Mitbeteiligung an der Tat hinwies, nachdem sein Bruder verstorben war? Oder wollte er wieder jemanden vergiften? Eine eisige Kälte stieg in Anastasia hoch. Sie begann am ganzen Körper zu zittern und konnte nicht mehr damit aufhören.
Christine stand im Schatten eines Mauervorsprungs und starrte auf das Haus, in dem Anastasia verschwunden war. Es war aus gelbem Sandstein gebaut und hatte als einzige Verzierung einen Rundbogen über dem Eingang. Es wies keinen einzigen Hinweis auf seine Bewohner auf, wie dies bei einigen der anderen Häuser der Fall war, an denen Nasenschilder mit den jeweiligen Zunftzeichen der Handwerker prangten. Und obwohl Christine beobachtet hatte, wie das Mädchen, gefolgt von einer rundlichen Magd, in dem Haus verschwunden war, machte es einen unbewohnten, fast schon abweisenden Eindruck auf sie.
Aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein, weil sie eigentlich gar nicht hier, sondern an Étiennes Grab sein sollte, um für seine Seele zu beten, wie es sich für eine trauernde Witwe gehörte.
Doch sie war hier, war gekommen, um das Mädchen zur Rede zu stellen. Warum zögerte sie dann noch? Sie konnte nicht ewig vor dem Haus stehen bleiben und es anstarren. Eine magere schwarze Katze schlich lautlos an ihr vorbei. Christine sah ihr nach, wie sie in einer gepflasterten Einfahrt verschwand, die gerade breit genug für einen Wagen war.
Nicht weit von ihr entfernt begann eine Glocke zu läuten. Andere Glocken fielen in ihr Läuten mit ein, rhythmisch und dumpf. Der ohrenbetäubende Lärm riss Christine aus ihren Gedanken. Totenglocken, dachte sie. Tag und Nacht läuten die Totenglocken. Hatten sie vor Étiennes Tod ebenso häufig geläutet und sie hatte sie nur nicht wahrgenommen, weil der Tod so weit von ihrem Leben entfernt war? Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf. Nein, der Tod war allgegenwärtig, er war es auch, der sie hierhergetrieben hatte.
Entschlossen ging sie auf das Haus zu. Sie streckte ihre Hand nach dem Türklopfer aus, einem gedrehten eisernen Ring, der in einen grimmig aussehenden Löwenkopf überging. Im gleichen Moment wurde die Türe von innen aufgerissen, und der schwere Eisenring entglitt Christines Hand. Vor ihr stand die Magd, die dem Mädchen ins Haus gefolgt war, und starrte sie mit offenem Mund an.
Carmina sah eine fremde Dame vor sich, deren hohe Stirn von einem weißen, fast durchsichtigen Schleier umrahmt wurde. Dunkle Augen unter sanft geschwungenen, ausgedünnten Augenbrauen beherrschten ein ovales Gesicht mit einer schmalen Nase und einem fein gezeichneten Mund.
»Ihr habt mich aber erschreckt«, stotterte Carmina und versuchte, sich an Christine vorbeizuschieben, doch Christine machte keine Anstalten, zur Seite zu treten. »Kannst du mir sagen, wer in diesem Haus wohnt?« Es war mehr ein Befehl als eine Frage.
Carmina hatte von klein auf gelernt, Befehle zu befolgen.
»Der Tintenhändler Jacob Braques, aber der ist gestorben. Bitte lasst mich vorbei, ich muss das Brot aus dem Ofen holen, bevor es verbrannt ist.« Ihre Stimme klang gehetzt.
»Ich habe ein Mädchen in das Haus gehen sehen.«
»Anastasia, seine Tochter«, Carmina hob bittend die Hände. »Ich werde großen Ärger bekommen, wenn das Brot verbrennt.«
Christine trat zur Seite. Die Magd setzte sich in Bewegung, blieb dann aber stehen. Es ist schon merkwürdig, wie viele Leute sich plötzlich für Anastasia interessieren, dachte sie und musterte die fremde Frau genauer.
Sie trug ein blaues Gewand aus weichem Tuch, darüber einen mit Eichhörnchenfell besetzten Mantel und war eindeutig vornehmer Abstammung.
Carmina vergaß das Brot.
»Was wollt Ihr von Anastasia? Sie hat schon genug Ärger mit ihrem Onkel«, platzte sie heraus und biss sich im gleichen Moment auf die Lippen. Dass sie aber auch nie ihren Mund halten konnte.
Die Frau schien über ihre Frage nachzudenken, denn sie antwortete nicht sofort. Carmina fand, dass sie traurig aussah und eigentlich nichts Bedrohliches von ihr ausging. Vielleicht war sie ja gekommen, um Anastasia ihre Hilfe anzubieten?
»Was meinst du damit?«, fragte Christine schließlich.
Ihre Frage bewies Carmina, dass sie mit ihrer Vermutung richtig lag. Die vornehme Dame schien sich tatsächlich um Anastasia zu sorgen. Sonst hätte sie sich nicht dafür interessiert, was eine einfache Magd wie sie zu sagen hatte.
»Ihr Onkel, den sie jahrelang nicht gesehen hat, ist zu Besuch, und ich fürchte, er hat nichts Gutes im Sinn. Er hat mit seinem Begleiter das ganze Haus auf den Kopf gestellt. Wir dachten erst, es wären Einbrecher im Haus. Ich mache mir wirklich Sorgen um das arme Kind. Sie hat doch niemanden mehr, jetzt, wo ihr Vater tot ist. Der Herr sei seiner Seele gnädig.« Sie bekreuzigte sich hastig und sah Christine dann neugierig an.
Sie hätte zu gerne gewusst, wer die Fremde war, wagte aber nicht, danach zu fragen.
»Vielleicht solltest du dich besser um dein Brot kümmern«, erinnerte Christine sie. Die Magd schien ihr ein wenig verwirrt zu sein. Hatte sie doch von einem Onkel mit schlechten Absichten gesprochen, der das Haus des Mädchens durchwühlt hatte und den sie zunächst für einen Einbrecher gehalten hatten. Gleichgültig, ob ihre Geschichte stimmte oder nicht: Es war eindeutig der falsche Zeitpunkt für einen Besuch. Und doch musste sie mit dem Mädchen sprechen, wenn sie erfahren wollte, was es mit ihm und Étienne auf sich hatte.
Carmina gehorchte und eilte ins Nachbarhaus, das seinem Zunftzeichen nach – drei gekreuzte Werkzeuge über einer Buchpresse – einem Buchbinder gehören musste. Christine sah ihr nach, während ihr verschiedene Gedanken durch den Kopf gingen. Die Magd hatte ihr erzählt, dass der Vater des Mädchens verstorben war. Wahrscheinlich hatte es in seiner Trauer also nur die Gräber verwechselt. Beschämt erkannte sie, dass sie Étienne zu Unrecht misstraut hatte. »Verzeih mir, mein Geliebter«, flüsterte sie erleichtert. Doch ihre Erleichterung hielt nur kurze Zeit an, dann meldeten sich neue Zweifel. Sie war noch ein Kind gewesen, als ihr Vater sie gelehrt hatte, dass sich die Wahrheit häufig hinter dem Offensichtlichen verbarg.
In der Hand hatte er dabei einen Apfel gehalten, der so prall und rot war und so köstlich duftete, dass ihr das Wasser im Mund zusammengelaufen war. Dann hatte er den Apfel vor ihren Augen aufgeschnitten, und Christine hatte gesehen, dass sich in seinem Inneren kein helles, saftiges Fruchtfleisch, sondern nur noch eine faulige braune Masse befand, in deren Mitte sich ein fetter Wurm wand. »Der äußere Schein ist oft trügerisch. Man muss den Dingen auf den Grund gehen, wenn man die Wahrheit erfahren will«, hatte er ihr erklärt.
Wenn das Mädchen nur die Gräber verwechselt hatte, hätte sie keinen Grund gehabt, so entsetzt zu schauen und vor ihr zu fliehen. Irgendetwas passte da nicht zusammen, und es dauerte nicht lange, bis Christine daraufkam, was es war. Der Verstorbene war ein Tintenhändler gewesen, und Händler wurden nicht auf dem Kirchhof Unserer Lieben Frau begraben, weil dieser allein dem Königshaus und dem Adel vorbehalten war. Aber wenn er nicht dort begraben lag, warum hatte das Mädchen dann an Étiennes Grab gestanden? Oder war es so verwirrt gewesen, dass es die Begräbnisstätten verwechselt hatte? Nein, beantwortete sie sich die Frage selbst, dafür hatte das Mädchen, nachdem sie es angesprochen hatte, eindeutig zu schuldbewusst gewirkt.
Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Es hatte keinen Sinn, weitere Vermutungen aufzustellen, die nur immer noch mehr Fragen aufwarfen. Sie beschloss das Grab ihres Gemahls aufzusuchen, was sie längst hätte tun sollen, und für das Heil seiner Seele zu beten.
Mittlerweile hatte sich die enge Gasse weiter gefüllt. Nicht weit von ihr versuchte ein Holzkohlenhändler mit seinem schwer bepackten Maultier an einem Träger vorbeizukommen, der gebückt unter seiner schweren Holztrage ging. Das Ausweichmanöver des Trägers wurde durch das Ladenschild eines Handschuhmachers behindert, das in Form eines Handschuhs mit Fingern so lang wie ein Schwert weit in die Gasse hineinragte. Die im Wind klappernden Ladenschilder nahmen immer größere Ausmaße an, weil die Geschäftsinhaber glaubten, dadurch leichter Käufer anlocken zu können, seitdem es ihnen nur noch erlaubt war, etwaigen Kunden zuzurufen, wenn diese einen der benachbarten Läden verließen.
Auf dem Hinweg war Christine gar nicht aufgefallen, wie eng, schlammig und übel riechend es in der Gasse war. In der Mitte flossen die Abwässer aus den einzelnen Häusern träge in Richtung Seine, wobei sie sich in kleinen Rinnsalen um unzählige Haufen von Unrat schlängelten, der von den Anwohnern einfach aus den Fenstern geworfen und dort liegen gelassen wurde, obwohl die Hausbesitzer durch Verordnungen immer wieder ermahnt wurden, alle Abfälle zu den Sammelgruben vor der Stadt zu schaffen.
Christine sah an sich herunter. Ihre feinen Lederschuhe waren feucht und ebenso wie der Saum ihres Gewandes von einer braunen Dreckkruste überzogen.
In der Gasse waren die Trittsteine nur sehr schwer unter der dicken Laubschicht zu erkennen, und Christine hatte auf dem Hinweg nicht auf sie geachtet. Doch nun, auf dem Weg zurück zum Kirchhof, hielt sie ihren Blick gesenkt, um ihre Schuhe nicht vollständig zu ruinieren.
Von der frisch aufgeschütteten Erde über Étiennes Grab stieg ein feuchter modriger Geruch auf. Der Geruch des Todes, dachte Christine und schauderte.
Sie versuchte, sich vorzustellen, wie es sein würde, tot zu sein, nicht mehr zu atmen und in schwarzer kalter Erde zu liegen. Es war eine schreckliche Vorstellung. Ihr wurde schwindelig, und ihre Lungen schienen zu bersten. Gierig schnappte sie nach Luft. Ohne es zu bemerken, hatte sie den Atem angehalten.
»Wie konntest du mich nur verlassen, mein Geliebter?«, flüsterte sie, bekam jedoch keine Antwort. Sie rief sich Étiennes Gesicht in Erinnerung, seine Stimme, seinen Geruch, und ließ all die kostbaren Momente, die sie mit ihm verbracht hatte, noch einmal an sich vorüberziehen.
Die Sonne stand schon tief, als Christine den Kirchhof verließ. Vor den Garküchen herrschte großer Andrang, und der verlockende Geruch von Gebratenem stieg Christine in die Nase und erinnerte sie daran, dass sie den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Sie ging weiter. Irgendwo weinte ein Baby.
Das schwindende Tageslicht erreichte die Tiefen der Gassen nicht mehr. Hinter den Fenstern wurden die ersten Lampen entzündet und verwandelten ihre Umgebung in eine flackernde Schattenwelt. Eilig lief Christine weiter. Nur wenige Menschen kamen ihr entgegen. Aus den Schenken und Tavernen, die sie passierte, drangen Lärm und Gelächter. Sie war erleichtert, als sie die Rue Vieille du Temple erreichte. Von hier aus konnte sie den Barbeauturm sehen, der wie ein Wächter über die einst von Philipp August errichtete Stadtmauer ragte.
Anna, eine unverheiratete Schwester ihres Vaters, die bei ihnen lebte, schien sie bereits erwartet zu haben, denn sie riss das Tor auf, kaum dass sie in Sichtweite war, und stürzte ihr entgegen. »Wo bist du bloß gewesen?«, fragte sie, und Christine hörte die Erleichterung in ihrer Stimme. »Wir sind fast umgekommen vor lauter Sorge.« Sie musterte Christine mit einem raschen Blick, um zu sehen, ob auch wirklich alles mit ihr in Ordnung war, dann fuhr sie mit gesenkter Stimme fort.
»Es sind Leute hier gewesen, die behauptet haben, dein Gemahl würde ihnen Geld schulden. Sie werden morgen wiederkommen. Sie haben damit gedroht, die Büttel gleich mitzubringen. Deine Mutter ist vor Schreck ganz blass geworden und hat sich in ihre Kammer zurückgezogen. Sie liegt in ihrem Bett und weigert sich aufzustehen.«
Fragend sah sie Christine an. »Was werden wir tun, wenn diese Leute wiederkommen? Haben wir überhaupt genügend Geld, um sie zu bezahlen?«
Étienne ist erst einen Tag unter der Erde, und schon kommen die Ratten aus ihren Löchern gekrochen, um über sein Vermögen herzufallen, dachte Christine wütend. Aus der Küche drangen die Stimmen ihrer Kinder, die wie jeden Abend versuchten, der alten Babette einige zusätzliche Leckerbissen abzuschwatzen. Sie waren noch zu klein, um zu begreifen, dass sie ihren Vater nie mehr wiedersehen würden. Konnte sie ihnen einen Vorwurf daraus machen? Christine sah ihre Tante an.
»Wir werden schon eine Lösung finden«, sagte sie vage. Ihre Tante wirkte erleichtert. »Du musst etwas essen«, bestimmte sie und nahm Christine den Mantel ab, als wäre alles wie immer. Doch es war nicht so wie immer, würde es nie wieder sein. Étienne war tot. »Ich habe keinen Hunger«, sagte Christine, ließ Anna stehen und stieg die gewundene Treppe hinauf. Sie fühlte sich entsetzlich elend bei dem Gedanken, dass sie Étienne nie wiedersehen sollte, nie mehr in seinen Armen liegen und das Gefühl seiner Lippen spüren würde und seinen Körper, der sich eng an den ihren presste.
Ihr jüngerer Bruder Paolo kam ihr auf der Treppe entgegen und riss sie aus ihren Erinnerungen. Ein vorwurfsvoller Blick aus seinen strahlend blauen Augen traf sie. »Mutter sagt, wir haben kein Geld mehr, dabei brauche ich dringend ein neues Pferd, oder soll ich etwa zu Fuß hinter den Truppen des Königs herlaufen?« Paolos Hengst hatte sich letzte Woche bei einem Übungskampf das rechte Hinterbein gebrochen und war geschlachtet worden.
»Wir reden morgen darüber«, versprach Christine geistesabwesend, doch so leicht ließ sich Paolo nicht abwimmeln.
»Aghinolfo braucht neue Stiefel, und meine eigenen sind auch schon öfter geflickt als die Lumpen eines Bettlers.« Ein lauernder Blick trat in seine Augen. »Uns steht ein Anteil von Vaters Erbe zu, und wir werden uns nicht länger vertrösten lassen«, fügte er grimmig entschlossen hinzu.
Ungläubig starrte Christine ihren Bruder an. Wie konnte er an neue Stiefel denken, wo sie gerade erst ihren Gemahl begraben hatte? Kühl erwiderte Paolo ihren Blick. In seinen Augen war kein Mitgefühl.
Würde Étienne noch leben, würde Paolo nicht so mit mir reden, dachte Christine traurig. Sie waren sich fremd geworden, Paolo und sie, und sie hatte es nicht einmal bemerkt.
Ihr Kopf war leer. Sie war müde, traurig und verwirrt. Zu viel war in den letzten beiden Tagen über sie hereingebrochen. Und tief in ihrem Inneren ahnte sie, dass dies erst der Anfang war.
Das schleifende Geräusch hinter ihr drang nur langsam in Anastasias Bewusstsein. Erst als sie einen warmen Atem an ihrem Ohr spürte, schrak sie zusammen. Vor ihr stand ein unrasierter, breitschultriger Kerl mit strähnigen, dunklen Haaren und einer schiefen Nase, die so aussah, als wäre sie mehr als nur einmal gebrochen worden. Ein grausamer Zug lag um seinen Mund. In der rechten Hand hielt er ein Messer.
Anastasia erstarrte. Er war gekommen, um sie zu töten. Sie konnte es in seinen blassen, kalten Augen lesen, und sie hatte keine Chance gegen ihn. Er war größer und stärker als sie, und er besaß ein Messer. Sie wollte aufspringen und weglaufen, war aber unfähig, sich zu bewegen. Anastasia hatte das Gefühl, als würde die Zeit sich verlangsamen, doch dann ging alles rasend schnell.
Mit einer blitzschnellen Bewegung packte sie der Kerl an den Haaren und zog ihren Kopf brutal nach hinten über die Rückenlehne des Stuhls. Die Wut kam so unerwartet und schnell wie der Schmerz. Sie wollte noch nicht sterben. Ihre Hand ertastete den Weinkrug, der vor ihr auf dem Tisch stand. Ohne zu überlegen, griff sie nach ihm und schlug ihn mit aller Kraft ihrem Angreifer ins Gesicht. Der Krug zerbrach. Anastasia ließ den Henkel, den sie immer noch fest in ihrer Hand hielt, fallen. Aus den Augenwinkeln heraus sah sie ihren Angreifer wanken. Blut rann ihm über das Gesicht, oder war es der restliche Wein, der sich noch in dem Krug befunden hatte? Ihr Herz raste, sie sprang auf und hastete an ihm vorbei. Sie hatte die Türe schon fast erreicht, als sie an der Schulter brutal von einer Hand zurückgerissen wurde. Sie trat nach ihrem Verfolger und traf ihn am Schienbein. Er fluchte und ließ ihre Schulter los. Gehetzt suchte sie nach einer Möglichkeit zu entkommen. Der Mann versperrte ihr den Weg zur Türe. Sie hatte keine Chance, an ihm vorbeizukommen. Schon setzte er sich in Bewegung, das Gesicht wutverzerrt. Als letzter Ausweg blieb ihr nur noch der Vorratskeller. Sie rannte los, geriet wegen der nassen Scherben auf dem Boden aber ins Rutschen und suchte nach Halt. Er bekam sie gerade noch am Ärmel zu fassen und versuchte, sie mit einem Ruck an sich heranzuziehen. Anastasia wehrte sich und drängte so lange in die entgegengesetzte Richtung, bis der Stoff entzweiriss. Dabei geriet sie erneut aus dem Gleichgewicht und stolperte auf die offene Falltüre zu. Ihr Fuß trat ins Leere, und sie spürte, wie sie fiel, fühlte einen dumpfen Schmerz, als ihr Kopf auf dem festgestampften Lehmboden im Keller aufschlug, dann verlor sie das Bewusstsein.
Gilles fluchte leise und betastete vorsichtig sein Gesicht. Er hatte die Kleine unterschätzt und sich davon täuschen lassen, dass sie mit entblößter Kehle vor ihm gelegen und sich scheinbar in ihr Schicksal ergeben hatte. Doch plötzlich hatte sie ihm ohne jede Vorwarnung den Weinkrug ins Gesicht geschmettert. Vorsichtig befühlte er die Schnittwunden in seinem Gesicht. Sie taten höllisch weh. Wütend tupfte er sich mit dem Ärmel das Blut aus dem Gesicht und beugte sich über die Luke. Das Mädchen lag reglos auf dem Boden. Ihre Haare umflossen ihr schönes Gesicht wie geschmolzenes Gold. Sie sah aus wie ein Engel, war aber keiner. Sie war ebenso hinterhältig wie alle anderen Weiber auch. Ob sie tot war? Wenn nicht, würde sie sich jedenfalls wünschen es zu sein, sobald er mit ihr fertig war. Er richtete sich wieder auf und wollte gerade die Stiege hinabsteigen, als er ein Geräusch in der Diele hörte.
Verdammt, er durfte sich nicht erwischen lassen. Chrétien verzieh keine Fehler. Behutsam schlich Gilles zurück und drückte sich eng an die Wand hinter der Türe, die Hand mit dem Messer kampfbereit erhoben.
Ein kräftiger, junger Bursche mit rötlichen Haaren betrat die Küche.
Gilles packte die Klinge fester, sein Körper spannte sich, bereit zum Angriff. Doch der Junge schien ihn nicht zu bemerken. Ohne sich auch nur einmal umzusehen, legte er die wenigen Schritte zu der offenen Luke zurück und stieg sie hinab.
Gilles handelte sofort. Der Bursche war jung und kräftig und würde sich nicht kampflos überwältigen lassen. Trotzdem musste er ganz sichergehen, seinen Auftrag erfüllt zu haben. Er öffnete den Herd, nahm einige glühende Holzscheite heraus und ließ sie auf den Boden fallen. Dann riss er die Tischdecke vom Tisch, tränkte sie mit dem Lampenöl, das er in einem Krug auf dem Fenstersims fand, und legte sie in das brennende Holz. Der Junge konnte jeden Augenblick wieder aus dem Keller auftauchen. Er musste sich beeilen. Das Messer in der Hand beugte er sich über die Klappe zum Keller und sah vorsichtig hinunter. Ein hässliches Grinsen überzog sein Gesicht. Er hatte sich geirrt, es gab nicht den geringsten Grund zur Eile. Die beiden würden sich noch wundern. Nicht mehr lange und sie würden einen Vorgeschmack auf die Hölle bekommen, bevor sie von ihr verschlungen würden. Er knallte die Klappe zu, verriegelte sie und verließ dann eilig das Haus, wobei er sein Gesicht unter der Kapuze verbarg.
Gaston war voller Vorfreude die Stufen zum Vorratskeller hinabgestiegen. Er war sich sicher, dass Anastasia ihn gehört und sich unten vor ihm versteckt hatte, aber das würde ihr nichts nutzen. Niemand würde sie hören, wenn sie um Hilfe schrie. Sie war selbst schuld. Warum hatte sie auch die Haustüre offen gelassen? Er konnte es kaum erwarten, ihr die Kleider vom Leib zu reißen. Allein der Gedanke an ihren warmen, weichen Körper hatte ihn in den letzten Nächten keinen Schlaf finden lassen. Immer wieder hatte er sich vorgestellt, wie sie sich unter ihm winden würde, wenn er sie bestieg. Er würde es ihr ordentlich besorgen. Die Hitze in seinen Lenden stieg ihm bis in den Kopf, und er hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Bis er auf einmal glaubte, ein Geräusch zu hören. Er blieb stehen und lauschte nach oben, kam dann aber zu dem Schluss, dass er sich getäuscht hatte. Es war niemand hier außer ihm und Anastasia.
Und dann sah er sie. Ihre Augen waren geschlossen, und sie lag auf dem Boden, als wäre sie tot. Der Schreck fuhr Gaston in die Glieder. Sie durfte nicht tot sein. Er beugte sich zu ihr hinab und rüttelte sie an einer Schulter. Als sie nicht reagierte, brachte er sein Ohr ganz nah an ihren Mund. Ihr Atem war schwach, aber sie lebte, und wenn er genau hinsah, konnte er auch sehen, wie ihr Busen sich unmerklich hob und wieder senkte. Ihr Rock war durch den Sturz so weit nach oben gerutscht, dass er einen Blick auf ihre schlanken, weißen Beine freigab. Der Anblick erregte ihn noch mehr, und es war ihm unmöglich, sich länger zu beherrschen.
Mit zitternden Händen zerrte er an seiner Bruche und fluchte laut, weil er die Schnüre am Bund nicht sofort aufbekam. Endlich hatte er sich von der störenden Hülle befreit und ließ sie achtlos zu Boden fallen.
Ein dumpfer Schmerz hämmerte in Anastasias Kopf, als sie langsam wieder zu sich kam. Mühsam öffnete sie die Augen und starrte auf Gaston, der mit entblößtem Unterleib breitbeinig über ihr stand. Sie musste träumen, ein Albtraum, wie er schlimmer nicht sein konnte. Die Augen fielen ihr wieder zu. Das Hämmern in ihrem Kopf wurde unerträglich, und sie sehnte sich zurück in die Dunkelheit, in der sich der Schmerz verlor. Da holte sie ein ratschendes Geräusch, als würde jemand Stoff zerreißen, wieder zurück, und gleich darauf spürte sie ein Gewicht auf ihrer Brust, das ihr den Atem nahm. Hände betatschten ihre Brüste, strichen über ihre Schenkel. Anastasia rang nach Luft, versuchte die Hände wegzustoßen, doch es gelang ihr nicht. Erneut schwanden ihr die Sinne und verloren sich in der Schwärze, in der alles um sie herum seine Bedeutung verlor.
Sie hörte nicht mehr, wie die Klappe über ihnen zugeschlagen wurde, sah nicht das Entsetzen in Gastons Augen, als ihm in der Dunkelheit auf einmal beißender Qualm in die Nase stieg.
Wie er aufsprang, die Stiege hinaufrannte, verzweifelt versuchte, die Klappe zu öffnen, und zuletzt wild dagegenhämmerte und nach Hilfe schrie.
Nach der Schwertleite hatte Bernard von Dreux, der dritte Sohn des verstorbenen Grafen Arnaud von Dreux, eine eigene Kammer im Schloss erhalten. Ein Privileg, das außer Adeligen und hohen Kirchenträgern nun auch Rittern gewährt wurde, seitdem der König es so beschlossen hatte. Anfangs war es ein ungewohntes Gefühl gewesen, ohne die vertrauten Schlafgeräusche seiner Kameraden einzuschlafen, doch mit der Zeit hatte er sich daran gewöhnt. Bernard steckte sein Schwert in die lederne Scheide und schnallte den Gurt enger, dann verließ er gut gelaunt seine Kammer. Schon seit Wochen trainierte er beinahe täglich für die bevorstehende Turniersaison, denn dieses Mal wollte er Ludwig von Orléans besiegen und dafür bis zur Erschöpfung üben. Sobald das Wetter umschlug, spürte er jedes Mal die Narbe auf seiner Stirn, die Ludwig ihm im vergangenen Jahr mit seinem Schwert zugefügt hatte. Ludwig von Orléans hatte ihn für immer gezeichnet, und Bernard hatte nicht vor, diese Schmach noch länger ungesühnt zu lassen.
Der Übungsplatz lag direkt hinter den lang gezogenen Stallungen. Auf dem Weg dorthin traf er auf den grauhaarigen Simon, den Zuchtmeister des Königs, der auch ihn den Umgang mit den Waffen gelehrt hatte. »Ein schöner Tag zum Üben«, bemerkte Simon und lächelte seinem ehemaligen Schüler freundlich zu. Dann beugte er sich vertraulich vor.
»Vergiss nicht, was ich dich gelehrt habe. Es kommt nicht auf die Kraft an, auch nicht auf die Schnelligkeit, sondern auf den richtigen Moment und das Gefühl am Schwert.« Der Zuchtmeister wollte noch zu weiteren Erklärungen ausholen, als auf der anderen Seite des Platzes plötzlich ein Trupp von Männern auftauchte. In ihrer Mitte schritt der König umgeben von seinen Hunden. Bedienstete schafften Bänke herbei und beeilten sich, ihrem Herrn und seinem Geleit Becher mit Wein zu reichen.
Das durchdringende Krächzen eines Raben schreckte Bernard auf. Schaudernd blickte er in den blassgrauen Himmel, doch er konnte nirgendwo einen der Vögel entdecken, bis sein Blick auf die mächtige Eiche am Rande des Turnierplatzes fiel, deren weit ausladende Krone schwarz vor Raben war. Jahrelang hatte ihn das Krächzen dieser Tiere bis in seine Träume hinein verfolgt. Nie würde er den Tag vergessen und das Grauen, das ihn beim Anblick seiner toten Geschwister ergriffen hatte. Er war gerade noch rechtzeitig gekommen, um zu verhindern, dass das verfluchte, gierige Federvieh seiner Schwester und seinem kleinen Bruder die Augen aushacken konnte. Aber nicht rechtzeitig genug, um sie vor den Briganten zu retten.
Er beschleunigte seinen Schritt und starrte entsetzt auf die mächtige, alte Eiche voller Raben. Wilder Hass stieg in ihm hoch. Am liebsten hätte er jedem einzelnen Vogel den Hals umgedreht, doch sie saßen zu hoch und waren unerreichbar für ihn. Zornig starrte er zu den Tieren nach oben und wünschte sich, er hätte Pfeil und Bogen bei sich gehabt.
Er hörte Schritte hinter sich, dann legte sich eine kraftlose Hand auf seine Schulter. Er wandte sich um und sah in das blasse Gesicht Karls VI., dessen braune Augen einen merkwürdig leeren Ausdruck hatten. Karls Hand rutschte von Bernards Schulter. Mit hängenden Armen stand er da und starrte die Raben an. »Der Tod hat sie geschickt, sie wollen meine Seele!«, kreischte er plötzlich und presste beide Hände auf sein Herz, wo er offensichtlich auch seine Seele vermutete.
Sein Gesicht verzerrte sich vor Angst. Einen Herzschlag lang stand er starr, dann zog er mit einem Ruck sein Schwert, stürmte auf den Baum zu und hieb mit wilden Bewegungen auf ihn ein.
Immer mehr Ritter und Knappen betraten den Turnierplatz und blickten zwischen dem rasenden König und den Raben hin und her, die unbeeindruckt von dem Geschehen unter ihnen auf ihren Ästen hockten. Karl VI. war schweißüberströmt, sein Gesicht vor Anstrengung puterrot. Wie ein Besessener sprang er um den Baum herum, tobte und schrie. Dann holte er unverhofft aus und schleuderte sein Schwert in die Baumkrone hinauf.
»Er hat den Verstand verloren«, murmelte eine Stimme hinter Bernard. Sie gehörte Lucien, Bernards Knappen, der mit weit aufgerissenen Augen auf den König starrte. Für seine respektlosen Worte hätte er eine Ohrfeige verdient, aber nach einem kurzen Blick in das entsetzte Gesicht seines Knappen ließ Bernard die Sache auf sich beruhen.
Die Raben erhoben sich unter protestierendem Krächzen. Ihre Schwingen verdunkelten für einen Moment den Himmel, dann entfernte sich das schrille Gekreische und wurde allmählich leiser, bis es schließlich ganz verstummte. Die Raben waren fort. Karl VI. war wie angewurzelt stehen geblieben. Sein Schwert hatte sich nur einen Fußbreit neben ihm in den Erdboden gebohrt.
Seine Glieder zuckten, als wäre er plötzlich von der Kribbelkrankheit befallen, schließlich brach er zusammen, noch bevor ihn jemand auffangen konnte.
Lähmendes Schweigen breitete sich aus. Bernard tauschte einen Blick mit dem vier Jahre jüngeren, blassblonden Raimund, der einer seiner bevorzugten Übungsgegner beim Schwertkampf war.
»Das war gerade echt unheimlich«, meinte der und schüttelte sich. »Meine Großmutter hat immer gesagt, dass die Köpfe der Rabenjungen so hässlich sind, dass sie mit dem Schwanz zuerst aus dem Ei kriechen, und ich glaube, sie hatte recht.«
Bernard gab ihm keine Antwort. Er blickte auf Karl VI. hinab, der wie tot dalag. »Lauf und hol den Medikus«, befahl er seinem Knappen. Dann kniete er sich neben den König und beugte sich über ihn.
Es war nicht der erste Anfall, den er miterlebt hatte, trotzdem war sein Herz schwer, als er Karl VI. so hilflos am Boden liegen sah. Klein und dünn, mit blutleerem Gesicht und spitzer Nase. Ob es stimmte, dass der Herr die Sünden eines Volkes seinem jeweiligen Herrscher auflud? Musste Karl VI. wegen der Sünden seines Volkes büßen? Viele Menschen glaubten fest daran, dass dem so war, und liebten ihren jungen König für all das Leid, das er auf sich nahm, um ihre Seelen zu retten, seitdem die Kirche sie verlassen hatte.
Nur Bernard konnte ihn nicht lieben, jedenfalls nicht, wenn er ehrlich zu sich war. Zu oft schon hatte er Karls VI. rasende Unbeherrschtheit und seine Verrücktheiten erlebt, sodass er sich manchmal sogar dazu zwingen musste, ihn nicht zu verachten. Es war ein ständiger Zwiespalt. Manchmal wechselte seine Verachtung in Mitleid, und Bernard dachte darüber nach, ob es für ihn nicht besser gewesen wäre, Karl VI. nie kennengelernt zu haben. Für andere mochte es ein Glück sein, den König hautnah zu erleben, für ihn war es geradezu ein Fluch.
Und wie immer, wenn er an diesem Punkt seiner Überlegungen angelangt war, zog es ihn zu seinem Vormund und Ziehvater Bureau de la Rivière.
Bureau de la Rivière war ein enger Freund seines Vaters gewesen, der sich nach dessen Tod um seine Familie gekümmert hatte. Auch dass Bernard am französischen Hof erzogen worden war, verdankte er allein Rivière. So war er mit Karl VI. und seinem Bruder Ludwig aufgewachsen, hatte gemeinsam mit ihnen reiten und kämpfen gelernt und über lateinischen Verben geschwitzt. Als er seine Schwertleite und Karl die Krone erhalten hatte, hatte er ihm Treue geschworen bis in den Tod.
Aber seine Liebe gehörte Rivière, der ihm den Vater ersetzt hatte. Rivière war sein Vorbild und hatte ihn nie enttäuscht.
Neben seinem bemerkenswerten Scharfsinn besaß Rivière die seltene Gabe, die Menschen zu durchschauen, wobei er sich niemals anmerken ließ, was er fühlte oder dachte. Seine unerschütterliche Loyalität Karl V. gegenüber hatte dieser mit uneingeschränktem Vertrauen erwidert.
Bernard hatte immer geglaubt, dass seinen Ziehvater nichts erschüttern könnte, aber an diesem Morgen wirkte Rivière aufgewühlt. Seine schmalen, grauen Augen blickten besorgt, und um seinen Mund lag ein bitterer Zug, den Bernard noch nie zuvor an ihm gesehen hatte.
Rivière bedeutete ihm mit einem Wink, sich zu setzen.
Bernard folgte seiner Aufforderung und ließ sich auf dem mit Leder bezogenen Faltstuhl neben dem dunklen Schubladentisch nieder, in dem Rivière seine kostbarsten Handschriften aufbewahrte.
»Der König hat wieder einen Anfall gehabt«, presste er hervor. »Er hat auf dem Übungsplatz gekämpft und sein Schwert nach den Raben geworfen, die dort in Ästen saßen. Es fehlte nicht viel, und er hätte sich selbst umgebracht.«
Rivière runzelte die Stirn. »Man sagt, die Raben seien die Vorboten des Todes«, bemerkte er nachdenklich. »Ein böses Omen, und der Zeitpunkt könnte nicht ungünstiger sein.«
Rivières Worte verrieten Bernard, dass etwas geschehen sein musste. Doch er unterdrückte seine Ungeduld und wartete schweigend, bis sein Vormund fortfuhr.
Rivière sah an ihm vorbei aus dem Fenster.
»Nicht jedes Volk hat das Glück, von einem so weisen König regiert zu werden, wie wir es lange Jahre hatten. Aber auch wenn Karl VI. nur wenig mit seinem Vater gemein hat, ist unser aller Schicksal eng mit dem seinen verknüpft. Wir sind eins mit dem König. Der König ist die Stadt, die Stadt ist das Land, das Land ist das Reich. Das Volk hat das immer gewusst, es steht hinter seinem König, weil es untergeht, wenn er untergeht. Es ist nicht wichtig, wie stark oder schwach er ist, weil der Herr ihn auserwählt hat«, sagte er.
Bernard hörte diese Worte nicht zum ersten Mal. Sie waren zu einem vertrauten Ritual zwischen ihnen beiden geworden, wenn Karl VI. seine seltsamen Anwandlungen überkamen und Bernard sich Trost suchend an seinen Vormund wandte, weil er es nicht länger ertragen konnte, seinen König in Frauenkleidern durch das Schloss springen zu sehen wie einen Narren, die rot bemalten Lippen zu einem irren Lachen verzogen, oder zu erleben, wie er die Lilien auf den königlichen Wappen bespuckte und sich anschließend schreiend auf dem Boden wand. Doch dieses Mal fehlte Rivières Stimme die Überzeugung, weshalb sich Bernard nun ganz sicher war, dass etwas Bedeutsames geschehen sein musste.
Rivière legte die Hände übereinander, schmale und doch starke Hände, die es gewohnt waren, die Zügel eines Pferdes zu halten und das Schwert zu führen.
»Du hast dich gut entwickelt, und ich bin sehr stolz auf dich«, sagte er und musterte Bernard prüfend.
»Ich hatte den besten Lehrer«, verbarg Bernard seine Verlegenheit über das Lob, so gut er konnte.
Rivière beugte sich zu ihm vor, und Bernard sah die feinen Fältchen, die sich tief um seine Augen und seinen Mund herum eingegraben hatten, die Müdigkeit in seinem Gesicht. Ihre Augen trafen sich und Bernard stellte erleichtert fest, dass Rivières Blick scharf und klar war.
»Es scheint, als wäre eine Verschwörung gegen den König im Gange. Es kommt mir vor wie ehemals bei seinem Vater, so als hätte jemand das Rad der Zeit zurückgedreht. Viele konnten das Unheil damals spüren, aber es ließ sich nicht aufhalten, und dann war es zu spät.«
Rivière hielt unvermittelt inne.
Wie vor vielen Jahren bei Karl V. beschlich ihn das Gefühl, etwas Wesentliches übersehen zu haben. Er sah die durchdringenden, schwarzen Augen des Astronomen aus Bologna vor sich. Es war der Neid, der unseren König das Leben gekostet hat. Mit Kain ist er in die Welt gekommen, und jede Generation, die geboren wurde, hat ihn seitdem stärker gemacht.
Thomas de Pizan hatte die Worte vor sich hin gemurmelt, als würde er zu sich selbst sprechen. Niemand hatte ihn beachtet. Er hatte abseits der anderen Höflinge gestanden, und der Ausdruck in seinem Gesicht war furchtbar. Die Mörder Karls V. waren rasch gefunden worden. Sie standen im Dienste des Königs von Navarra. Gervais Chrétien hatte sie überführt und auch den Vorsitz in dem Prozess übernommen, der ihnen gemacht wurde. Er hatte dafür gesorgt, dass die Verurteilten ihrer gerechten Strafe zugeführt worden waren.
Chrétien hatte Thomas de Pizan gehasst, weil er die Liebe des Königs mit ihm hatte teilen müssen. Aber Chrétien hatte den König auch geliebt und war damit über jeden Zweifel erhaben gewesen.
Zumindest hatte Rivière das immer geglaubt, bis er an diesem Morgen erfahren hatte, dass Chrétien heimliche Beziehungen zu Urban VI. unterhielt. Ein Umstand, über den er sich so schnell wie möglich Gewissheit verschaffen musste.
»Thomas de Pizan, der Medikus, den Karl V. einst aus Bologna an seinen Hof geholt hat, hat Chrétien damals verdächtigt, etwas mit dem Tod des Königs zu tun zu haben, aber niemand hat ihm geglaubt, weil er sich nicht nur als Arzt, sondern auch als Astrologe in Verruf gebracht hat, indem er die vollständige Genesung Karls V. voraussagte. Stattdessen starb der König jedoch, und Chrétien erhob daraufhin schwere Anschuldigungen gegen Pizan und warf ihm vor, schuld am Tod des Königs zu sein.«
Bernard verstand immer noch nicht, worauf Rivière hinauswollte, der ihn sicher nicht zu sich hatte rufen lassen, um mit ihm über alte Geschichten zu plaudern. Trotzdem hörte er ihm geduldig zu.
»Le Coq war bei mir und hat mich um Hilfe gebeten.«
Ausgerechnet Robert le Coq, der Bischof von Laon, der für seine Intrigen und seinen brennenden Ehrgeiz bekannt war. Jedermann am Hof wusste, dass er Kanzler werden wollte und gegen Chrétien intrigierte, wann immer sich die Gelegenheit bot, weil dieser den Platz einnahm, der seiner Meinung nach ihm zustand. Um Chrétien zu schaden, war ihm jedes Mittel recht.
Rivière bemerkte den Zweifel in Bernards Augen und versuchte ihn zu beschwichtigen. »Ich traue le Coq ebenso wenig wie du, aber wenn Chrétien tatsächlich heimliche Beziehungen zu Urban VI. unterhält, wie es le Coq behauptet, haben wir einen Verräter in unseren Reihen, der nicht nur gegen die Kirche, sondern auch gegen den König intrigiert. Wir müssen uns Klarheit verschaffen. Le Coq ist ein unangenehmer Mensch, aber wenn er recht hat, stehen wir in dieser Angelegenheit auf der gleichen Seite, und das ist alles, was zählt. Beobachte Chrétien. Ich möchte wissen, mit wem er sich trifft und wer seine Agenten sind. Aber bitte, sei vorsichtig und halte dich so weit es geht im Hintergrund. Er ist gefährlich, und ich würde mir nie verzeihen, wenn dir etwas geschieht.«
Bernard von Dreux verharrte im Schatten einer Feuermauer und betrachtete das Haus, in dem Chrétiens Handlanger verschwunden war. Seit dieser am Mittag Chrétiens hochherrschaftliches Anwesen verlassen hatte, war er ihm heimlich gefolgt.
Mit einem Blick erfasste er die Architektur des schmalen, in die Höhe gebauten Hauses, die geschlossenen Holzläden der Fenster und den Hofeingang zu der gleich danebenliegenden Buchbinderei. Der Eingang öffnete sich weit nach innen zu einem Hinterhof, dessen Mauern sich ziemlich weit hinter das Haus erstreckten und den Hof umschlossen.
Etwas an dem Haus kam ihm merkwürdig vor. Auf den ersten Blick konnte er nichts Auffälliges entdecken, aber als er genauer hinsah, erkannte er, dass das Haus wesentlich älter sein musste als die umliegenden Nachbarbauten. Seine steinerne Fassade war zwar ebenfalls aus gelbem Sandstein, wirkte aber dunkler und verwitterter.
Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte Bernard eine Bewegung. Ein junger Bursche kam die Auffahrt des Buchbinders hoch und lief zielstrebig auf das Haus zu, in dem kurz zuvor Chrétiens Mann verschwunden war. An der Haustüre blickte er sich kurz um, als wolle er sich vergewissern, dass niemand ihn gesehen hatte.
Bernards Neugier war geweckt. Der Junge trug ein knielanges, graues Leinenhemd mit einem gewebten Band als Gürtel. Bernard vermutete einen Lehrling oder vielleicht auch einen Gesellen des Buchbinders in ihm. Er war gespannt, was als Nächstes geschehen würde, und brauchte nicht lange darauf zu warten. Aus seinem Versteck heraus beobachtete er, wie Chrétiens Mann nur wenig später das Haus verließ und eilig die Gasse hochstrebte. Ob der Junge ihn bei seinem Vorhaben gestört hatte? Unwillkürlich schüttelte er den Kopf. Der Mann, der Bernard unter dem Namen Gilles durchaus bekannt war, weil er nicht nur für Chrétien zweifelhafte Aufträge auszuführen pflegte, würde sich ganz sicher nicht von einem jungen Burschen an der Ausführung eines solchen hindern lassen. Deshalb ging Bernard davon aus, dass er seinen Auftrag bereits erfüllt hatte, bevor der Junge erschienen war.
Bernard überlegte nur einen Augenblick, dann hatte er seinen Entschluss gefasst.
Der Junge würde ihm alles sagen, was er wissen musste.
Noch im Laufen zog er sein Schwert aus der Scheide. Geräuschlos bewegte er sich vorwärts. Seine Sinne waren gespannt. Im Inneren des Hauses war es still. Zwei Türen gingen von der holzgetäfelten Diele ab. Eine von ihnen war geschlossen. Die andere stand weit offen und gab den Blick auf einen mit Pergamenten und Büchern übersäten Arbeitstisch frei. Er wandte sich der anderen Türe zu und roch das Feuer, noch bevor er sie geöffnet hatte. Er steckte das Schwert zurück. Gilles, dieser Bastard, schreckt anscheinend nicht einmal davor zurück, Paris in Schutt und Asche zu legen, um sein Ziel zu erreichen, dachte er grimmig und stieß die Tür mit dem Fuß auf. Er sah das Feuer, das sich rasend schnell ausbreitete, und riss seinen Umhang von den Schultern, um es zu ersticken.
Verbissen kämpfte er die Flammen nieder. Er hätte keinen Augenblick später kommen dürfen. Nachdem er das Feuer gelöscht hatte, hörte er ein Hämmern begleitet von wilden Schreien. Es kam aus dem Vorratskeller. Bernard umwickelte seine Hände vorsichtig mit seinem Umhang, schob den Riegel zurück und öffnete die Klappe zum Keller.
Der Buchbindergeselle kam die Stiege hoch. Sein Gesicht war mit Schweiß überzogen, und die Haare klebten ihm feucht am Kopf.
Bernard von Dreux beobachtete ihn aus schmalen Augen. »Mir scheint, ich bin gerade noch rechtzeitig gekommen«, stellte er fest. Ungläubig starrte Gaston den fremden Ritter an, der gegen Ende zwanzig sein mochte und ein Lederwams und Stiefel trug, die ihm bis über die Knie reichten. An seiner Seite hing ein Schwert. Gaston beschlich ein mulmiges Gefühl, als er an Anastasia dachte, die noch immer im Keller lag. Unter dem forschenden Blick des Ritters fühlte er sich immer unbehaglicher. »Ich muss jetzt gehen«, murmelte er und blickte hoffnungsvoll zur Tür.
»Du gehst, wenn ich es dir sage.« Gaston zuckte unter dem scharfen Ton zusammen.
»Du wirst mir jetzt erzählen, was hier geschehen ist, und wage es nicht, mich anzulügen«, befahl Bernard von Dreux.
»Ich wollte zu Anastasia, jetzt wo der Alte tot ist, und dann habe ich das Feuer gerochen und bin zur Klappe, aber die war verschlossen.« Ein verwunderter Ausdruck huschte über sein breites Gesicht und verlieh ihm ein dümmliches Aussehen. »Irgendetwas war merkwürdig«, fuhr er schwerfällig fort. Er runzelte die Stirn, und es schien ihm sichtlich Mühe zu bereiten, gleichzeitig zu reden und zu denken.
»Was war merkwürdig, rede endlich«, befahl Bernard, der langsam ungeduldig wurde.
»Anastasia lag schon da, als ich in den Keller kam. Ich dachte, die dumme Gans wäre gestolpert, aber vielleicht hat sie ja auch jemand hinuntergestoßen, obwohl ich niemanden gesehen habe. Aber es muss jemand da gewesen sein, der Riegel schiebt sich nämlich nicht von alleine vor die Klappe.«
Aus Gastons Worten schloss Bernard, dass dieser Gilles nicht bemerkt hatte. Kein Wunder, dachte er. Ratten wie Gilles fanden immer ein Loch, in dem sie sich verkriechen konnten, sobald Gefahr drohte. Seine Hoffnung, mehr von dem Burschen über Chrétiens Vorhaben zu erfahren, schwand.
»Wer war der Alte, von dem du gesprochen hast, und wer ist diese Anastasia?«, wollte er wissen.
»Anastasia ist die Tochter von Jacob Braques, dem Tintenhändler, der vor zwei Tagen gestorben ist.«
»Und woran ist er gestorben?«
»Das weiß niemand. Der Alte war irgendwie merkwürdig, und man erzählt sich, dass er nicht nur Tinten zusammengemischt hat.«
»Und was hat er deiner Meinung nach sonst noch zusammengemischt?«
Gaston schüttelte den Kopf.
»Weiß nicht, aber die Fensterläden zur Straße hin waren immer zu, und er ging nur selten aus dem Haus. Er hat auch keinen Ehemann für Anastasia gesucht, obwohl ihm mein Vater sogar angeboten hat, ihm dabei zu helfen, weil es nur Unruhe in unser Viertel bringt, wenn ein Mädchen wie Anastasia nicht heiratet und stattdessen allen Männern den Kopf verdreht.«
Die letzten Sätze hörten sich an wie nachgeplappert, und Bernard bekam eine Ahnung davon, was die Nachbarschaft von dem ihm unbekannten Mädchen hielt. Vielleicht würde er ja von ihr mehr über Chrétiens Pläne erfahren.
»Ich werde jetzt dort hinuntergehen«, entschied er und wies mit dem Kinn auf die offene Luke, »und du wirst mich dabei begleiten.« Er packte den sich sträubenden Gaston am Arm und zwang ihn die Stiege hinab.
Kaum nahm er jedoch das zerrissene Kleid des bewusstlosen Mädchens und seine entblößten Schenkel wahr, als etwas in ihm aufbrach, das er schon lange vergessen geglaubt hatte. Sein Gesicht wurde weiß vor Zorn.
Seine Wut füllte den niedrigen Raum und schien ihm die Luft zum Atmen zu nehmen.
Gaston bekam es mit der Angst zu tun. Er war davon ausgegangen, dass Anastasia nach dem Tod ihres Vaters niemanden mehr hatte, den ihr Schicksal kümmerte. Doch nun erschien dieser Ritter wie aus dem Nichts und spielte sich als zorniger Racheengel auf.
»Gnade, Herr, habt Erbarmen«, jammerte er. »Ich konnte doch nicht wissen, dass Ihr Euch für sie interessiert.«
Bernard von Dreux schlug ihm ohne Vorwarnung mit der flachen Hand ins Gesicht. Der Schlag war so heftig, dass Gaston zu Boden ging. Wimmernd krümmte er sich zusammen, aus seiner Nase spritzte Blut.
Bernard von Dreux betrachtete ihn angewidert, dann wandte er sich von ihm ab und beugte sich über die junge Frau. Sie war noch immer ohne Bewusstsein und ihr Atem erschreckend flach. Ihre Hilflosigkeit rührte ihn. Sie sah so zart und unschuldig aus wie seine kleine Schwester, bevor sie während eines Ausrittes einem Trupp herumziehender Gascogner in die Hände gefallen war; marodierende Söldner, die sich an jeden verdingten, wenn er ihnen nur genügend zahlte.
Ihr langes Haar breitete sich auf dem festgestampften Lehmboden aus, und seine Farbe erinnerte ihn an die sonnendurchfluteten Gerstenfelder seiner Kindheit. Er hätte es zu gern berührt, um festzustellen, ob es sich genauso seidig anfühlte, wie es aussah, aber er widerstand der Versuchung, als er Gastons Blick spürte. Es gelang ihm nur mit Mühe, seinen Zorn zu unterdrücken.
»Geh mir aus den Augen, und wenn ich dich noch einmal in der Nähe dieses Mädchens erwische, dann gnade dir Gott.«
Gaston warf ihm einen unsicheren Blick zu und zog unwillkürlich in Erwartung weiterer Schläge den Kopf ein. Dann rannte er stolpernd die Stiege hinauf.
Bernard sah ihm nach. Auch ohne dass er sich dessen Wort hatte geben lassen, war er sicher, dass der Bursche mit niemandem über ihre Begegnung reden würde. Er hob das verletzte Mädchen hoch und vergrub zu seinem eigenen Erstaunen das Gesicht in dessen Haar. Es fühlte sich genauso an wie in seiner Vorstellung. Die junge Frau stöhnte leise. Sicher würde sie bald zu sich kommen. Er trug sie hinauf in ihre Kammer, legte sie aufs Bett und deckte sie sorgfältig zu. Durch das mit Pergament bezogene Dachfenster fiel genug Licht herein, um ihr blasses Gesicht und die dunklen Schatten unter ihren Augen erkennen zu können. »Anastasia«, sprach er leise ihren Namen aus und lauschte dem Klang des Wortes hinterher. Der Name passte zu ihr. Ihre Lider flatterten, dann schlug sie die Augen auf, und ihm war auf einmal, als würde er in den kristallenen Spiegel des Liebesbrunnens blicken, von dem der Dichter Guillaume de Lorris in seinem »Rosenroman« geschrieben hatte. Er glaubte den schweren, süßen Duft zu riechen, den die mit Rosen überladenen Rosenstöcke verströmten, und den wilden, überquellenden Gesang der Vögel zu hören.
Eine unbestimmte Sehnsucht erfasste ihn.
Anastasia schaute verwirrt um sich und versuchte zu begreifen, was geschehen war. Ein ängstlicher Ausdruck trat in ihre Augen, als ihr Blick auf den fremden Mann neben ihrem Bett fiel. Die dunklen Augen des Ritters sahen sie unverwandt an. Sein Gesicht war schmal, markant und dennoch fein geschnitten.
»Du bist in Sicherheit, niemand wird dir etwas tun«, sagte er sanft und schaute sie unverwandt an.
Die Augen fielen ihr wieder zu, und Bernard kam es vor, als wäre es ein wenig dunkler in der kleinen Kammer geworden. Die Vögel verstummten und nahmen den betäubenden Duft der Rosen mit zurück in ihre geheimnisvolle Welt.
Anastasias Blick war ihm noch immer gegenwärtig, als er das Haus des Tintenhändlers verließ, um dem Bischof von Laon seinen Bericht zu erstatten.
Le Coq erwartete ihn in seiner Bibliothek, die vollgestopft mit Büchern war, überwiegend Abhandlungen über ziviles und kanonisches Recht. Er war der Sohn eines Bierbrauers, der es dank seines Ehrgeizes und seiner außergewöhnlichen Rechtskenntnisse bis zum Advokaten des Königs gebracht hatte.
Bei Bernards Eintreten erhob er sich und führte ihn zu einer Sitzgruppe vor dem Kamin, in dem ein schwaches Feuer brannte. Auf einem niedrigen, aus Italien stammenden Tischchen stand ein Krug mit dampfendem Gewürzwein, daneben zwei gläserne Pokale. Le Coq füllte eigenhändig die Pokale und stellte einen davon vor Bernard. Ein feiner Duft von Anis, Fenchel und Honig erfüllte den Raum.
Le Coq rieb sich ungeduldig die Hände.
»Habt Ihr etwas herausgefunden?«, fragte er und bemühte sich gar nicht erst, seine Ungeduld zu verbergen.
Bernard nickte.
»Es scheint, als hätte Chrétien seinen Handlanger Gilles damit beauftragt, die Tochter eines Tintenhändlers zu beseitigen, der vor einigen Tagen verstorben ist. Sein Name war Jacob Braques. Ich bin gerade noch rechtzeitig gekommen, um das Schlimmste zu verhindern. Gilles hatte das Haus bereits angezündet.«
»Jacob Braques«, sinnierte le Coq. »Ich habe diesen Namen schon einmal gehört, aber das ist lange her.« Er starrte nachdenklich in die Flammen, bevor er sich wieder an Bernard wandte.
»Was ist mit dem Mädchen, das Ihr gerettet habt? Hat sie Euch etwas gesagt?«
Bernard schüttelte den Kopf. »Sie war bewusstlos, als ich sie gefunden habe.«
Le Coqs Gesicht rötete sich vor Aufregung. »Ihr müsst mit ihr reden«, bestimmte er. »Chrétien hat irgendetwas vor. Er plant etwas, und das kann nichts Gutes sein. Jede Nacht gehen Boten bei ihm ein und aus. Aber wir können sie nicht abfangen, ohne dass Chrétien sofort gewarnt wäre. Ich werde versuchen, Näheres über diesen Jacob Braques herauszufinden. Kommt morgen wieder her, sobald Ihr mit seiner Tochter gesprochen habt, und achtet gut auf sie. Ich will nicht, dass sie Chrétien in die Hände fällt, bevor sie uns alles gesagt hat, was sie weiß.«
Bernard erhob sich. Ein Diener geleitete ihn hinaus und vor das Haustor. Vom Fluss stieg ein feuchter, dumpfer Gestank auf. Das fahle Mondlicht reichte nicht in die Tiefen der leeren Gassen. Nur jemand, der etwas zu verbergen hatte, trieb sich um diese Zeit noch draußen herum. Es war nach Mitternacht, und selbst die Hurenhäuser hatten schon längst geschlossen. Dicht über dem schlammigen Boden sah er unzählige Augen funkeln, die ihn beobachteten. Die Ratten waren wie jede Nacht aus ihren Löchern gekrochen. Ihre huschenden Geräusche begleiteten ihn auf seinem Weg, bis er die Umrisse des Hôtel Saint-Paul vor sich sah, den bevorzugten Aufenthaltsort Karls VI.
Ein schläfrig aussehender Wachmann öffnete ihm das schmiedeeiserne Tor.
Rivières Diener lag zusammengerollt auf dem Boden des winzigen Eingangsbereiches, der zum Gemach seines Herrn führte, und schnarchte mit offenem Mund.
Bernard ging an ihm vorbei. Wie bei den meisten Männern, die einmal an einem Feldzug teilgenommen hatten, reichte der leichte Luftzug, der dem Öffnen der Türe folgte, aus, um Rivière zu wecken. Er setzte sich in seinem Bett auf und war sofort hellwach.
Ein feines Lächeln umspielte seinen schmalen Mund.
»Mein lieber Bernard«, begrüßte er ihn. »Dein Anblick ist mir wie immer eine große Freude, auch wenn der Zeitpunkt ein ungewöhnlicher ist, doch sicher hast du einen wichtigen Grund für dein nächtliches Eindringen in mein Gemach?«
Bernard nickte und erstattete ihm mit knappen Worten Bericht.
»Da ich bereits vor Tagesanbruch wieder vor dem Haus des Tintenhändlers Stellung beziehen werde, wollte ich nicht versäumen, Euch zuvor Bericht zu erstatten«, erklärte er.
Rivière nickte. »Jacob Braques«, wiederholte er nachdenklich, wie le Coq es zuvor schon getan hatte. »Du hast recht daran getan, mich zu wecken. Jacob Braques war berühmt für seine exzellenten Farbmischungen. Seine Farben leuchteten förmlich wie von innen heraus und waren beständig, ohne dabei das Pergament anzugreifen. Jeder, der etwas auf sich hielt, kaufte seine Tinten bei ihm, wenn er ein Buch in Auftrag gab, selbst der König.
Es wurde allerdings gemunkelt, er hätte sich den geheimen Wissenschaften zugewandt. In den letzten Jahren habe ich nichts mehr von ihm gehört. Während du sein Haus beobachtest, werde ich nach dem Kirchgang mit jemandem sprechen, der uns vielleicht mehr über ihn erzählen kann. Jacob Braques hatte einen Bruder, der nach dem Tod unseres geliebten Königs aus Paris verschwunden ist. Es gab damals eine Menge ungeheuerlicher Gerüchte über eine Verschwörung gegen den König. Sie verstummten erst, nachdem Jacques de Rue, der Kämmerer König Karls II. von Navarra, gestanden hat, Karl V. über die Dienste eines Zuckerbäckers der königlichen Hofbäckerei hinweg mit einem der Pfefferkuchen vergiftet zu haben, die dieser so gerne aß. Angeblich handelte es sich um ein ausgesprochen langsam wirkendes Gift aus dem Orient, das deshalb auch nicht mit dem Tod eines der königlichen Vorkoster in Verbindung gebracht worden war. Chrétien hat damals die Anklage gegen Jacques de Rue und seine Helfer vorbereitet und die Gerichtsverhandlung selbst geführt. Sie wurden allesamt zum Tode verurteilt und hingerichtet.«
Die Erkenntnis traf ihn mit voller Wucht, kaum dass er die Worte ausgesprochen hatte, und er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Mein Gott, wenn an den damaligen Gerüchten tatsächlich etwas dran ist, bedeutet das, dass Chrétien an der Ermordung des Königs beteiligt war!«
Fassungslosigkeit spiegelte sich in seinen Zügen. Brütend starrte er auf einen Punkt an der Wand hinter Bernard, bevor er sich ihm abrupt wieder zuwandte.
»Chrétien ist ehrgeizig und gefährlich und verfügt über ausgezeichnete Verbindungen. Es wäre ein Fehler, ihn zu unterschätzen. Du bist wie ein Sohn für mich und ich setze dich nur ungern einer Gefahr aus, aber es gibt keinen anderen, den ich mit der Überwachung seiner Person betrauen könnte, dafür ist die Angelegenheit zu delikat. Versuche also, im Hintergrund zu bleiben, wenn du nunmehr nicht nur seine Boten, sondern auch ihn beobachtest, und sei vorsichtig.«
Rivières Vertrauen erfüllte Bernard mit Stolz. Er verneigte sich vor seinem väterlichen Freund. »Ich danke Euch und werde mein Bestes tun, um Euch nicht zu enttäuschen.«