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PROLOG

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16. September im Jahre des Herrn 1380, Frankreich, Schloss Beauté-sur-Marne

Unzählige Fackeln erleuchteten den Treppenaufgang zu den königlichen Privatgemächern, und doch kam es dem Astrologen Thomas de Pizan so vor, als wäre der Gang noch nie so düster gewesen; als hätte sich ein Schatten über seine Seele gelegt und seinen Blick verdunkelt, und das beunruhigte ihn. Er hatte gelernt, sich auf seine Ahnungen zu verlassen, und wäre nun gerne für eine Weile alleine gewesen, um sich ganz auf sie konzentrieren zu können, doch der König hatte ihn rufen lassen, und er wusste, wie ungeduldig Karl V. sein konnte, wenn man ihn warten ließ.

Die Wachen lehnten träge an der Wand und ließen ihn mit gelangweilter Miene passieren.

»Der König erwartet Euch bereits«, verkündete der erste Kammerdiener Karls V. mit näselnder Stimme und musterte dabei abfällig den knielangen, schwarzen Rock des Astrologen, der längst aus der Mode war.

Ein behagliches Feuer loderte in dem offenen Kamin an der Stirnseite des länglichen Saals. Durch die grünlichen in Blei gefassten Fensterscheiben sickerte das spärliche Licht des schwindenden Herbsttages.

Karl V. saß zurückgelehnt in seinem Stuhl. Er schien endlich wieder fieberfrei zu sein. Seine braunen Augen waren klar, und er wirkte so entspannt wie schon seit Langem nicht mehr. Es schien ihm deutlich besser zu gehen, was Thomas de Pizan mit heimlicher Genugtuung erfüllte, denn er hatte die vollständige Genesung des Königs prophezeit.

Karl V. nickte seinem Besucher ungeduldig zu und forderte den Astrologen mit einer Handbewegung auf, sich zu ihm zu setzen. Während ein Diener seinem Gast Wein einschenkte, schlug er das vor ihm auf dem Tisch liegende Buch auf und betrachtete die kunstvoll ausgemalte Bildinitiale am Anfang der Seite, die Adam und Eva im Paradies zeigte. Dicht über dem Paar schwebte ein Engel.

Plötzlich wurde ihm schwindelig. Das Bild verschwamm vor seinen Augen, und seine Hände begannen zu zittern. In dem Bemühen, sich seine Schwäche nicht anmerken zu lassen, griff er nach seinem Weinbecher und trank einen großen Schluck. Wie erhofft ließ das Zittern seiner Hände nach, und der Schwindel verschwand. Er atmete einige Male tief durch und senkte seinen Blick erneut auf das Buch. Im flackernden Schein der beiden silbernen Kerzenleuchter auf dem Tisch erwachte die Bildinitiale zum Leben, glühte das blutrote Gewand des Engels.

Lockend hielt Eva Adam den Apfel entgegen, während sich der himmlische Wächter zu Adam herabzubeugen schien und warnend die Hand hob. Dann erstarrte die Szene in einem der dramatischsten Augenblicke der Menschheit.

Karl V. räusperte sich, um seine Ergriffenheit zu verbergen. Seine innersten Gefühle gingen niemanden etwas an, und er hatte schon früh gelernt, sie vor anderen zu verbergen. Er ließ seine Finger über die mit einem Eberzahn polierten, goldenen Textzeilen auf dem Prunkdeckel des Kodexes gleiten, der in aufwendiger Handarbeit hergestellt worden war, fühlte das weiche Leder, die Metallbeschläge und die silbernen Schließen. Ein intensiver Geruch nach Pigmenten, Leder und Leim stieg ihm in die Nase, und er verspürte einen metallenen Geschmack im Mund, den er mit einem weiteren Schluck Wein fortspülte. Der Geruch störte ihn nicht, er würde bald verfliegen. Wichtig für ihn war nur, dass das enzyklopädische Werk über die himmlischen Sphären nun endlich fertig geworden war. Er hatte es selbst in Auftrag gegeben, und Gervais Chrétien, der nicht nur sein Leibarzt, sondern auch Kanzler der Universität von Paris war, hatte Illumination, Bindung und Ausstattung des prachtvollen Werkes überwacht und es ihm zu seiner großen Freude am heutigen Nachmittag übergeben.

»Ich möchte Euch eine Stelle aus diesem Buch vorlesen, zu der ich gerne Eure Meinung hören würde«, teilte er Thomas de Pizan mit.

»Es wird mir ein Vergnügen sein, Euch zuzuhören, Sire.« Der kleine Schwächeanfall des Königs war Thomas de Pizan nicht entgangen, genauso wenig wie der rührende Versuch, diesen vor ihm zu verbergen, doch er ließ sich nichts anmerken, sondern lehnte sich in seinem Stuhl zurück und neigte den Kopf, um den Worten des Königs zu lauschen.

Karl V. räusperte sich noch einmal, dann begann er laut zu lesen.

»Als Adam und Eva aus dem Paradies kamen, da empfanden sie, was die Welt war, da empfanden sie den Mond, den Jovem, den Merkurium, den Martem, den Saturnum. Sie empfanden den Jammer der Welt und das Elend der Menschen. Als der Mensch vom Baum der Erkenntnis aß, da trennten sich Makro- und Mikrokosmos voneinander. Nun erst nahm der Mensch die nichtmenschliche Welt von außen wahr. Er erlebte Mond und Sterne außerhalb von sich, und sein Elend begann.«

Das erhebende Gefühl, das ihn beim Lesen überkommen hatte, hielt an, und ihm war sonderlich zumute, als würde er selbst vor dem verlorenen Paradies stehen und Adams Verzweiflung spüren, der gleich ihm eine schwerwiegende Entscheidung getroffen hatte, die sich nicht mehr zurücknehmen ließ.

Er sah von dem aufgeschlagenen Buch auf, blickte Thomas de Pizan an und besann sich wieder auf sein eigentliches Anliegen.

»Wie anders wäre die Geschichte der Menschheit verlaufen, wenn Adam nicht der Versuchung Evas erlegen wäre«, sagte er, als wäre ihm dieser Gedanke gerade erst gekommen.

Es erging ihm, wie es den Mächtigen dieser Erde häufig ergeht, wenn sie die Folgen ihrer Handlungen zu spüren bekommen. Sein Geist irrte auf der Suche nach einem tieferen Sinn, einer gültigen Weltordnung, umher, die sein Leben, seine Stellung und seine Taten rechtfertigen würden, weil ihm sein Leben plötzlich so fremd erschien, als wäre es das eines anderen. Und das beunruhigte ihn.

Thomas de Pizan nahm seinen Weinbecher in die Hand, setzte ihn dann aber wieder ab, ohne daraus zu trinken. Ihm war noch nicht ganz klar, worauf der König hinauswollte.

»Ein interessanter Gedankengang. Aber glaubt Ihr nicht, dass Gott in Seiner Weisheit Adams und auch Evas Verhalten vorausgesehen hat? Schließlich hat Er sie beide erschaffen«, gab er zu bedenken.

Karl V. schüttelte ein wenig unzufrieden den Kopf. Gerade von seinem Astrologen hatte er erwartet, dass er ihn verstand.

»Ich meine etwas anderes.« Er hielt Thomas de Pizans Blick fest.

»Adam hat eine Entscheidung getroffen, welche die Geschichte der Menschheit verändert hat, ebenso wie Pilatus, Hannibal, Cäsar und alle großen Männer in der Geschichte. Würde die Welt heute anders aussehen, wenn Pilatus Jesus freigelassen hätte, anstatt ihn kreuzigen zu lassen, oder Cäsar seine Begehrlichkeit nicht auf Germanien gerichtet hätte?«

Thomas de Pizan dachte einen Moment lang über die Worte des Königs nach, bevor er ihm antwortete.

»Der Mensch ist, wie er ist, und ich glaube nicht, dass sich der Verlauf der Geschichte im Wesentlichen geändert hätte. Die Grenzen der einzelnen Reiche wären nur anders verschoben worden, und Jesus hätte einen anderen Märtyrertod gefunden, weil es nun einmal seine Bestimmung war, sein Leben für die Menschen zu geben.«

»Es war also ihr Schicksal, diese Entscheidungen zu treffen«, stellte Karl V. zufrieden fest.

Thomas de Pizan nickte.

Sie saßen in breiten Lehnstühlen am Kopfende des schweren Eichentisches nah am Kamin. Der König hatte seine Diener hinausgeschickt. Er liebte die vertraulichen Gespräche mit seinem Astrologen, den er vor einigen Jahren an seinen Hof geholt hatte und den er nun immer häufiger zurate zog.

Thomas de Pizan hatte endlich verstanden, dass Karl V. die vorgelesene Stelle als Metapher benutzte, um ihm etwas mitzuteilen, ohne es direkt aussprechen zu müssen. Er wusste, dass Karl V. nach einer Lösung suchte, um das unselige Schisma zu beenden, an dessen Entstehung er selbst nicht ganz unschuldig war und das Frankreich in tiefe Verzweiflung gestürzt hatte. Eine Aufgabe, um die er den König wahrlich nicht beneidete.

Karl V. hatte die Wahl Urbans VI. für ungültig erklärt und den daraufhin im Konklave gewählten Klemens VII. offiziell als Papst anerkannt, doch dann war das Undenkbare geschehen, mit dem niemand gerechnet hatte: Urban VI. weigerte sich, die Entscheidung des französischen Königs zu akzeptieren und sein Amt als Kirchenoberhaupt niederzulegen. Er regierte weiterhin von Rom aus, während Klemens VII. notgedrungen seinen Sitz nach Avignon verlegt hatte.

Die Heilige Mutter Kirche war gespalten, die Christenheit tief zerrissen, das Schisma zur schrecklichen Wirklichkeit geworden. Der König haderte mit der Entscheidung, die er getroffen hatte, tröstete sich aber, da sie sich nicht mehr rückgängig machen ließ, damit, dass es nun einmal sein Schicksal war, schwerwiegende Entscheidungen zu treffen. Ein Schicksal, das er mit vielen berühmten Männern teilte.

Empfand er vielleicht sogar Genugtuung bei dem Gedanken, dass all diese Männer gerade nur aufgrund ihrer Entscheidungen in die Geschichte eingegangen waren? Das hoffnungsvolle Funkeln in Karls Augen verriet ihn. Thomas de Pizan senkte rasch seinen Blick. Er wusste, wie sehr der König es hasste, durchschaut zu werden.

Normalerweise genoss er die Dispute mit dem König, doch an diesem Abend fiel es ihm schwer, sich auf ihr Gespräch zu konzentrieren. Bevor ihn die Einladung des Königs erreicht hatte, war sein Blick wie jeden Abend in den nächtlichen Himmel gerichtet gewesen, und die Konstellation der Gestirne hatte ihn mehr beunruhigt, als er sich eingestehen wollte.

Saturn stand lauernd zwischen Fisch und Stier. Der Vollmond überstrahlte ihn zwar, aber schon morgen würde die Kraft seiner Strahlen nachlassen. Er würde keine Macht mehr über Saturn haben, und Thomas de Pizan konnte das Böse, das von dem stumpfen, blauen Gestirn ausstrahlte, fast körperlich fühlen.

»Ihr seid heute Abend sehr wortkarg, mein Freund.« Ein unüberhörbarer Vorwurf schwang in der Stimme Karls V. mit.

Thomas de Pizan riss sich zusammen.

Der König hatte ihn zu sich gerufen, um mehr über Makround Mikrokosmos und die himmlischen Sphären zu erfahren.

»Alles was außen ist, ist auch innen«, begann er schließlich. »Die Erde ist nichts ohne den Himmel, denn der Himmel ist das Leben. Der Mensch ist nichts ohne den Himmel. Der Himmel ist unser Vater und die Erde unsere Mutter. Die Gestirne spiegeln sich in unserem Geist wider, in unserer Seele, die nach unserem Tod in den Himmel zurückkehrt, während unser Körper der Erde zurückgegeben wird, der er entstammt.«

Knusprig gebratene Fasanenkeulen und mit süßen Beeren gefüllte Rehpasteten, die den Appetit des Königs anregen sollten, standen vor ihnen auf dem Tisch, doch Karl hatte bislang noch keine der Köstlichkeiten angerührt. Stattdessen tranken sie gemeinsam den schweren, tiefroten Wein aus Burgund, der ihnen die Wangen rötete und das Herz wärmte.

»Ihr sagt also, dass die Gestirne sich im Geist des Menschen widerspiegeln?«, vergewisserte sich Karl V.

Thomas de Pizan nickte. »Das innere Gestirn ist seinem Lauf und Stand nach gleich mit dem äußeren, es unterscheidet sich allein in Form und Stoff. Wir müssen Herr werden über unseren Leib, um eins zu werden mit unserem Geist, nur dann werden wir zu wahrer Weisheit gelangen.

Auch wenn Saturn die Geburt eines Menschen überschattet, so kann sich dieser doch seinem Einfluss entziehen. Er kann ihn überwinden und ein Kind der Sonne werden. Wir selbst sind es, die entscheiden, welchen Weg wir einschlagen, ob wir der Versuchung erliegen oder unserem Gewissen folgen.«

Karl V. wirkte nachdenklich, als er seinen Astrologen am späten Abend entließ.

Bis zum Morgengrauen starrte Thomas de Pizan von seiner Kammer im obersten Stockwerk aus in den nächtlichen Himmel. Pegasus, das schwarze Pferd der Unterwelt, scharrte ungeduldig mit den Hufen, während die Sonne im Sternbild des Löwen zusehends verblasste.

Am nächsten Morgen herrschte dumpfe Ratlosigkeit im Schlafgemach des Königs. Der Kronrat hatte sich um das mit weißem Linnen bezogene Bett Karls V. herum versammelt, außerdem sein Leibarzt Gervais Chrétien und Thomas de Pizan, Physikus und Astrologe, dessen Berufung aus seiner Heimatstadt Bologna an den französischen Hof Chrétien sehr verärgert hatte und ihm noch immer ein Dorn im Auge war.

Der Astrologe hatte als Letzter das königliche Gemach betreten und starrte nun entsetzt auf den König, der umrahmt von schweren, in Gold und Purpur gehaltenen Vorhängen in seinem Bett saß. Trotz der stützenden Kissen in seinem Rücken konnte er sich nur mühsam aufrechthalten.

Seine halbgeschlossenen Augen lagen tief in den Höhlen, und die hohen Wangenknochen traten deutlich aus seinem eingefallenen, grauen Gesicht hervor.

Thomas de Pizan spürte einen Kloß in seinem Hals. Er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, und blickte zu den hohen Fenstern an der Stirnseite hinüber, deren Flügel allesamt geschlossen waren. Die abgestandene, verbrauchte Luft in dem königlichen Schlafgemach war kaum geeignet, um einen Kranken gesunden zu lassen. Ärgerlich wandte er seinen Blick von den Fenstern und sah Gervais Chrétien an, der ihn lauernd beobachtete. Seine kalten, grauen Augen glitzerten triumphierend.

Wie die Augen eines Menschen, der sich gerächt hat und seine Rache nun genießt, dachte Thomas de Pizan. Und das nur, weil er durchgesetzt hatte, dass die Fenster im königlichen Schlafgemach geschlossen wurden? Es war unbegreiflich, wozu Hass und Eifersucht einen Menschen treiben konnten.

Seufzend wandte er sich von Chrétien ab.

Jetzt war nicht die Zeit, sich um den Leibarzt Gedanken zu machen.

Der Zustand des Königs war ernst, und er hatte keine Ahnung, wie es zu diesem Rückfall hatte kommen können, nachdem Karl sich zuvor so gut erholt zu haben schien.

»Hattet Ihr nicht die vollständige Genesung unseres geliebten Herrschers vorausgesagt?«, unterbrach Chrétien herausfordernd seine Gedanken.

Ein ungutes Gefühl beschlich den Astrologen. Er spürte das Misstrauen, das ihm von den Mitgliedern des Rates entgegenschlug, die das Volk spöttisch Marmousets, alte Käuze, nannte und auf diese Weise mit den Fratzengesichtern verglich, welche an den Toren der großen Palais als Türklopfer dienten.

Lastendes Schweigen kehrte ein. Thomas de Pizan wandte sich erneut zu Chrétien um, der gerade einen zufriedenen Blick mit Philippe de Mézières tauschte, einem engen Ratgeber Karls V. In seiner Miene war keinerlei Betroffenheit zu erkennen. Der schwere Rückfall des Königs scheint ihn nicht im Geringsten zu überraschen, man könnte fast glauben, er hätte ihn erwartet, dachte Thomas de Pizan und fühlte sich noch unbehaglicher. Irgendetwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu. Als ob der Tod Karls V. schon beschlossene Sache wäre.

Erschrocken versuchte er den Gedanken aus seinem Kopf zu verscheuchen, getrieben von der vagen Hoffnung, das Schicksal auf diese Art beeinflussen zu können, doch es gelang ihm nicht.

Im königlichen Schlafgemach war es so still geworden, dass nur noch der rasselnde Atem des Königs zu hören war.

Wenn er sein Gesicht wahren wollte, musste er Chrétien antworten, doch was sollte er ihm sagen? Dass er sich geirrt hatte?

»Wie ich sehe, seid Ihr nicht einmal in der Lage, mir eine Antwort auf meine nur allzu berechtigte Frage zu geben«, stellte Chrétien höhnisch fest. »Ihr habt uns versichert, dass der König vollständig genesen würde. Sieht so Eure Genesung aus? Durch Eure Prophezeiung habt Ihr verhindert, dass wir weiter nach den Ursachen seiner Krankheit geforscht haben. Man könnte fast glauben, Ihr hättet dies mit Absicht getan. Genauso, wie Ihr den König davon abgehalten habt, seine Medizin regelmäßig einzunehmen.« In den Mienen der Ratsmitglieder zeigte sich offene Empörung. Chrétien nahm es zufrieden zur Kenntnis. Und obwohl sich der Leibarzt direkt an ihn gewandt hatte, wusste Thomas de Pizan, dass seine Worte nicht ihm, sondern dem königlichen Rat galten.

Chrétien zog die Augenbrauen hoch und beobachtete ihn aus schmalen Augen, die knochenbleichen Hände hinter dem Rücken verschränkt. Ein schwarzer Rock mit wulstigen Ärmeln umgab seine hagere Gestalt. Er sieht aus wie eine aufgeplusterte, boshafte Krähe, die bereit ist, sich auf ihr Opfer zu stürzen, dachte Thomas de Pizan und begann zu schwitzen.

»Jede Medizin soll ihre Stunde haben, das ist doch lächerlich und hat mit Wissenschaft nichts zu tun. Eine Leber wird von Euch nur an einem Donnerstag behandelt, die Galle an Dienstagen und das Gehirn ausschließlich an Montagen. Und wenn der Kranke vorher verstirbt, weil Ihr ihn nicht rechtzeitig behandelt habt, dann gebt Ihr Saturn oder Jupiter die Schuld daran.

Mit Eurem vorgeblichen Wissen könnt Ihr vielleicht das einfache Volk beeindrucken, aber nicht einen Magister der Universität von Paris!«

Thomas de Pizan sah den unverhüllten Hass in Chrétiens Augen, der ihn zum ersten Mal offen angriff und es darüber hinaus auch noch wagte, ihn in Gegenwart des Königs als Scharlatan hinzustellen. Eine gefährliche Situation, die er nicht unterschätzen durfte. Chrétien hatte ihm den Fehdehandschuh vor die Füße geschleudert, und er hatte keine andere Wahl, als ihn aufzunehmen.

Etwas brüsk wandte er sich an seinen Gegner.

»Wollt Ihr etwa bestreiten, dass die Zeiten des Jahres ungleich sind? Der Winter bringt Eis und Schnee, der Frühling vertreibt, was der Winter gebracht hat, und lässt Schnee und Eis zu Wasser schmelzen und uns ein feuchtes, lockeres Erdreich bekommen, das der Sommer trocknet.

So wie es nicht zu jeder Zeit gut ist, in Lehm und Erde zu graben, Holz zu fällen oder zu hacken, so ist es noch viel weniger gut, zu jeder Zeit Kräuter zu sammeln. Jeder Bauer weiß, dass sich Früchte, die nach Mitternacht bis zum Aufgang der Sonne geerntet werden, am längsten halten. Zu dieser Zeit besteht keine Geilheit oder gärende Feuchtigkeit in den Früchten und allen anderen Gewächsen der Erde, was eine Ursache für den Verlust der Kräfte und der Fäulnis ist.«

Chrétien schnaubte verächtlich. »Ich rede von Wissenschaft, während Ihr Eure Erfahrungen auf ungebildete, dumme Bauern stützt, die weder lesen noch schreiben können.«

Thomas de Pizan merkte, dass er einen Fehler gemacht hatte. Er versuchte, sich zu beruhigen und Ordnung in seine wild durcheinanderwirbelnden Gedanken zu bringen. Hatte er sich denn nur eingebildet, dass es dem König wieder besser ging, und die Anzeichen für eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes übersehen, weil er sie nicht wahrhaben wollte? Bilder des gestrigen Abends zogen an ihm vorbei, und aus einem Grund, den er sich selbst nicht erklären konnte, gab es plötzlich nichts Wichtigeres für ihn, als diese Bilder festzuhalten wie einen kostbaren Schatz, der ihm zu entgleiten drohte. Doch die Bilder ließen sich genauso wenig festhalten, wie sich der köstliche Duft knuspriger Fasanenkeulen festhalten ließ. Er schalt sich einen Narren ob dieses Versuchs, um dann wieder in die Gegenwart mit ihren Problemen zurückzukehren, deren Wichtigstes die Genesung des Königs war.

Die Sterne lügen nicht, dachte er von einer merkwürdigen Unruhe erfüllt.

Erst hinterher, als es bereits zu spät war, um noch etwas ändern zu können, sollte er schmerzhaft erfahren, welch fatalen Fehler er begangen hatte, indem er Saturns Nähe zu Merkur unterschätzte, genauso wie er Chrétiens Hass unterschätzt hatte.

Nachdenklich ließ er seinen Blick über die Anwesenden schweifen, als hoffte er in ihren abweisenden Mienen eine Antwort auf die Frage zu finden, was den Rückfall des Königs ausgelöst haben könnte. Durch seine Prophezeiung hatte er sich angreifbar gemacht, dabei war er sich so sicher gewesen. Und Chrétien hatte die Chance genutzt und seine Behandlungsmethoden vor den königlichen Ratgebern ins Lächerliche gezogen. Aber Chrétien war einer von ihnen, während er selbst all die Jahre über ein Ausländer für sie geblieben war.

Schließlich traf sich sein Blick mit dem des Königs, und der Ausdruck, der in seinen Augen lag, ließ ihm den Atem stocken. Er wusste, dass er diesen Ausdruck – das Wissen um die grausame Endgültigkeit und die stille Trauer – nie mehr in seinem Leben vergessen würde. Gleichzeitig fühlte er sich seltsam berührt von der unbestimmten Sehnsucht, die er zu erkennen glaubte und die dazu verdammt war, unerfüllt zu bleiben.

»Ich wünsche, allein mit meinem Astrologen zu sprechen«, befahl Karl V. mit brüchiger Stimme, und als er sprach, bemerkte Thomas de Pizan entsetzt, dass sein Zahnfleisch blutete.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag, die Zeichen waren eindeutig. Der König war vergiftet worden!

Aber wie war das möglich? Karl V. ging kein Risiko ein, er aß und trank nichts, was nicht vorgekostet worden war. Außerdem hatte er seinen Leibkoch immer bei sich. Den König zu vergiften, war unmöglich, es sei denn, man gehörte zu seinen engsten Vertrauten. Aber wer konnte ein Interesse daran haben, den König zu vergiften? Der Astrologe ließ seine Gedanken die zwölf Tierkreise durchlaufen, um sie zu ordnen, wie er es immer tat, wenn er an den Punkt gelangte, an dem sie sich sinnlos im Kreis zu drehen begannen, ohne Anfang und ohne Ende.

Das höhnische Gesicht Chrétiens tauchte wieder vor seinem inneren Auge auf, und gleichzeitig fielen ihm die mahnenden Worte seines Vaters ein. »Jedes Heilmittel ist auch ein Gift. Ob es heilt oder tötet, kommt nur auf die jeweilige Dosis an.« Chrétien! Der Gedanke war so schrecklich, dass er kaum wagte, ihn weiterzudenken. War es möglich, dass Chrétien nicht nur ihn, sondern auch den König hasste?

Die fahle Blässe und das Zittern des Königs hätten ihn warnen müssen, noch bevor er sein blutendes Zahnfleisch bemerkt hatte. Es waren Zeichen einer Vergiftung, vielleicht einer zu hohen Dosis Quecksilber, das in geringer Dosierung gegen die Verstopfung des Darms half, unter der Karl V. manchmal litt. Hatte Chrétien ihm versehentlich eine zu hohe Dosis verabreicht? Oder war es tatsächlich seine Absicht gewesen, den König zu vergiften?

Seine Gedanken überschlugen sich, während er auf die hohen Fenster zustürmte und einen Flügel nach dem anderen aufriss, obwohl er wusste, wie sinnlos sein Tun war und dass auch die frische Luft nichts mehr am Zustand des Königs ändern konnte. Danach stürzte er zurück an Karls Bett, fühlte die Temperatur seiner Stirn und zählte dann seinen Pulsschlag, der erschreckend langsam war.

»Ich werde sterben«, unterbrach Karl V. ihn ruhig, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen. »Meine Seele löst sich bereits von meinem Körper, ich kann es fühlen.«

Thomas de Pizan erstarrte, dann öffnete er den Mund, um heftig zu widersprechen, doch Karl V. hielt ihn mit einer Handbewegung davon ab.

»Es ist der Wille unseres Herrn und nicht Eure Schuld, ich möchte, dass Ihr das wisst«, sagte er auf die gestrige Prophezeiung seines Astrologen anspielend und rang sich ein Lächeln ab, das ihm nur mühsam gelang. »Unsere Dispute werden mir fehlen, mein teurer Freund, doch jetzt ruft die anderen wieder herein und schickt nach meinem Notar und meinem Beichtvater, mir bleibt nicht mehr viel Zeit, um meine Angelegenheiten zu regeln.«

Es gelang dem Astrologen nicht länger seine Tränen zurückzuhalten, während er Karl V. unverwandt ansah. Schmerzhaft wurde ihm bewusst, wie sehr er den König liebte, seine Weisheit und seine Güte, aber auch seine Würde, die er selbst in dieser schweren Stunde noch zu bewahren wusste.

Der König hielt seinen Blick fest. »Tut jetzt, um was ich Euch gebeten habe«, mahnte er sanft, »und schließt mich in Eure Gebete ein.«

Die Nachricht vom nahenden Tod des Königs verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Die Schlossbewohner strömten vor den königlichen Gemächern zusammen und drängten in den mit farbenprächtigen Wandteppichen geschmückten Ankleideraum des Herrschers. Niemand sprach ein Wort. Zu sehr war man sich der Anwesenheit des Todes bewusst, der nicht einmal vor dem König haltmachte. Unheimliche Stille breitete sich aus und steigerte die Spannung ins Unerträgliche.

Trotz der vorherrschenden Enge stand Thomas de Pizan abseits der anderen Höflinge. Doch er war so versunken in seinen Schmerz und seine Trauer, dass er diesen Umstand gar nicht bemerkte.

Er hatte noch immer das Bild des sterbenden Königs vor Augen, als er plötzlich einen schon fast vergessenen Geruch wahrnahm. Einen Geruch, der ihn an seine Heimat erinnerte. Etwas stimmte nicht, und plötzlich wusste er auch, was es war. Im Schlafgemach des Königs hatte es nach Knoblauch gerochen, obwohl Knoblauch am französischen Hof verpönt war!

Und während überall Trauerfahnen gehisst wurden, verließ Thomas de Pizan eilig das Schloss, um den einzigen Mann in Paris aufzusuchen, der ihm Klarheit bezüglich seines schrecklichen Verdachts verschaffen konnte.

Die Sühnetochter

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