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Paris, Oktober 1390

Eine merkwürdige Unruhe trieb den Tintenhändler Jacob Braques bereits am frühen Morgen aus seinem warmen Bett. Er hatte schlecht geschlafen. Die düsteren Träume, die ihn seit zehn Jahren quälten, rüttelten unnachgiebig an seinem Gewissen. Sie kannten kein Erbarmen, und er wusste, dass sie ihn weiterverfolgen würden, solange er atmete.

An manchen Tagen dachte er, es wäre nur gerecht so, weil er sich ebenso an die Vergangenheit klammerte wie diese sich an ihn. Gleich einem Ertrinkenden, der sich weigerte, von dem rettenden Ast zu lassen, und voller Sturheit an ihm festhielt, obwohl er wusste, dass sein Schicksal besiegelt war und die Kraft in seinen Händen ihn ohnehin bald verlassen würde.

Er selbst war es, der die Toten nicht zur Ruhe kommen ließ, weil es nichts Tröstlicheres für ihn gab als die Erinnerung. Die Erinnerung an seine geliebte, wunderschöne, sanfte Frau, die ihn so früh verlassen hatte. Noch immer hatte er ihren Duft in der Nase, und wenn er die Augen schloss, meinte er sogar, ihre warme, weiche Haut zu fühlen und ihr Lächeln sehen zu können. Dieses unvergleichliche Lächeln, das ihre Augen strahlen und ihr Gesicht heller leuchten ließ als die Sonne. Er hasste den Gedanken, die Erinnerung an sie könnte eines Tages verblassen, so wie die untergehende Sonne verblasste, wenn sie beim Hereinbrechen der Nacht dem aufsteigenden Mond weichen musste.

Seine Hände zitterten, und das Atmen fiel ihm noch schwerer als sonst. Auf seiner Jagd nach dem »Grünen Löwen« hatte er Gott gespielt, indem er einige Stoffe in ihrer Eigenschaft verändert hatte, um sie auf diese Weise neu zu erschaffen. Er hatte Arsen und Quecksilber geschmolzen, Steine zu Pulver zerrieben und ihre Pigmente mit Säuren und lebendigem Schwefel vermischt, die er dann mit tierischen und pflanzlichen Stoffen verband. Der verfluchte Rubinschwefel hatte ihn reich gemacht, und gleichzeitig hatten seine Versuche mit dem betörend glänzenden Gift seine Gesundheit ruiniert. Wie gerne würde er heute diesen Reichtum gegen seine Gesundheit eintauschen, doch es war zu spät. »Der Grüne Löwe« ließ sich nicht bändigen, und Phoenix, der Vogel des Hermes, hatte sich verflüchtigt, anstatt ihn zu verjüngen, wie er es erhofft hatte.

Und nun wartete der Sensenmann auf ihn, um seine schwarze Seele zu sich zu holen, und er spürte, dass ihm nur noch wenig Zeit blieb, seine Angelegenheiten zu regeln, deren wichtigste die Rettung seines Seelenheils war. Sein Mund verzog sich bitter. Doch wie sollte er in diesen Zeiten, in denen sich Clemens VII. und sein Gegner Papst Urban VI. gegenseitig exkommuniziert hatten, sein Seelenheil retten? Niemand wusste, ob die Sterbesakramente überhaupt noch gültig waren, nachdem der Bann der beiden Päpste auch ihre jeweiligen Anhänger und Priester mit einschloss. Die Plätze auf den Kirchhöfen waren teuer geworden und geweihte Erde rar, seitdem jeder versuchte, wenigstens eine Schaufel davon zu ergattern, um sie den Dahingegangenen mitzugeben, die das Pech hatten, auf einem der städtischen Friedhöfe begraben zu werden. Mittlerweile wurden manche Kirchhöfe sogar bewacht, und die Totengräber verdienten ein Vermögen mit dem Handel geweihter Erde, die von Kirchhöfen stammte, welche noch vor dem Bann der beiden Päpste angelegt worden waren. In einer Zeit wie dieser, in der nicht einmal mehr die Sakramente der Priester sicher waren, war geweihte Erde daher seine einzige Hoffnung, und er würde sich nicht mit einer Schaufel davon begnügen. Irgendwie musste er einfach einen Weg finden, einen Platz auf einem der alten Kirchhöfe zu erhalten!

Einen Weg, wie ihn die listige Frau des Buchbinders gefunden hatte, die sich nicht damit abfinden konnte, ihren Sohn in ungeweihter Erde zu wissen, nur weil er unglücklicherweise noch vor der Taufe gestorben war. Sie hatte ihrem Mann so lange in den Ohren gelegen, bis dieser schließlich nachgegeben und die sterbliche Hülle seines Sohnes in einer finsteren, mondlosen Nacht heimlich unter der Traufe von Pater Bernards Haus vergraben hatte. »Der Regen, der vom Himmel in die Traufe fällt, sickert in die darunterliegende Erde bis zum Grab. Es ist wie eine himmlische Taufe, so steht es geschrieben«, hatte sie in ihrer Sturheit behauptet, dabei konnte sie weder lesen noch schreiben, und nicht einmal ihr Mann hatte eine Ahnung, wo sie diese Erkenntnis herhatte.

»Wer weiß schon, was in den Weibern vorgeht? Wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt haben, ist es schier unmöglich, es ihnen wieder auszutreiben«, hatte der Buchbinder gejammert, als er ein Säckchen Gallustinte bei ihm gekauft und bei dieser Gelegenheit auch seinen Weinvorrat erheblich dezimiert hatte.

Tief in Jacob Braques’ Innerem schlummerte die heimliche Hoffnung, dass sich Gott der Herr vielleicht doch noch erbarmen ließe, wenn er genügend für die Armen spenden und einige Wallfahrten von eigens dafür bezahlten Pilgern durchführen lassen würde. Er hatte alles genau bedacht und sein Testament dementsprechend abgefasst. In diesem war die Anzahl der Klageweiber, Fürbitten und Seelenmessen ebenso festgelegt wie die Anzahl teurer Wachskerzen, die seiner Seele in der Dunkelheit leuchten sollten. Nur das Grab in geweihter Erde fehlte noch. Anastasia würde sich darum kümmern müssen, weil er selbst schon zu schwach dazu war. Sie hatte es auf die Bibel geschworen und würde einen Weg finden. Frauen fanden immer einen Weg, sie waren listig und erfinderisch, wenn es darum ging, ihr Ziel zu erreichen.

Erst nachdem er alle Einzelheiten noch einmal durchgegangen war, wurde er ruhiger und nahm ein letztes Mal sein Werkstattbuch zur Hand, um wehmütig darin herumzublättern.

Die Farbpalette der von ihm zusammengemischten, außergewöhnlich farbenprächtigen Tinten reichte von hellem Bleiweiß bis hin zu dem leuchtenden Zinnober, das den idealen Hintergrund für die kostbaren Gold- und Silbertinten bot, deren Glanz die Zeiten überdauerte.

Ein plötzlicher Hustenanfall schüttelte ihn, und feine, hellrote Blutspritzer, deren Leuchtkraft die seines Zinnobers verblassen ließen, verteilten sich auf den aufgeschlagenen Seiten des Buches.

Seine linke Hand verkrampfte sich, und das Buch fiel ihm aus der Hand. Er hörte nicht, wie die Türe geöffnet wurde und Anastasia hereinkam. Sie hatte Geräusche im Arbeitszimmer gehört und sich gewundert, dass ihr Vater schon auf war.

Jacob Braques’ Augen traten ihm beinah aus den Höhlen. Verzweifelt rang er nach Luft und bemühte sich zu sprechen. Anastasia sah ihn erschrocken an. Sie begriff nicht, was mit ihrem Vater geschah. Sie sah nur, dass sein linkes Lid schlaff herunterhing und seine Hand zu einer Klaue verkrampft war. Seine entstellten Gesichtszüge machten ihr Angst. »Ich rufe den Physikus«, rief sie aus und wollte sich schon abwenden, doch ihr Vater hielt sie mit einer hilflosen Geste seiner steifen Hand zurück. Anastasia beugte sich mit dem Ohr näher an seinen Mund, um ihn zu verstehen. Langsam und leise kamen die Worte schließlich über seine blutleeren Lippen. »Geweihte Erde, du hast es versprochen.« Flehend hingen seine Augen noch eine Weile an Anastasia, die ihm zum Zeichen dafür, dass sie ihn verstanden hatte, beruhigend zunickte.

Rasselnd tat Jacob Braques seinen letzten Atemzug, dann kippte er wie ein gefällter Baum zur Seite, noch bevor Anastasia ihn auffangen konnte.

»Vater!«, schrie sie außer sich vor Angst und strich ihm hilflos über die schweißnasse Stirn. Dann packte sie ihn an den Schultern, um ihn zu schütteln, damit das Leben wieder in ihn zurückkehrte, aber in ihren Armen war keine Kraft mehr. Sie küsste ihn tröstend auf seine erkaltende Stirn, so wie er es immer bei ihr getan hatte, als sie noch ein Kind gewesen war, und strich ihm sanft über die wächserne Wange. Ihre Bewegungen wirkten kraftlos und müde. Tränen strömten ihr aus den Augen und benetzten das Gesicht des Toten, bis dessen leerer Blick vor ihren Augen verschwamm.

»Geweihte Erde, du hast es versprochen.« Eindringlich, wie ein Echo, das nicht verklingen wollte, hallten seine letzten Worte in ihrem Kopf wider. Eine mahnende Stimme aus dem Jenseits, der sie folgen musste. Aber durfte sie ihn wirklich alleine lassen? Nach den geltenden Gesetzen hatte sie die Nachbarn zu verständigen, damit sie die Totenwache hielten. Der Priester musste kommen und seinen Segen sprechen, Wachskerzen mussten bestellt und eine Messe gelesen werden.

Anastasia wischte sich die Tränen aus den Augen und erhob sich. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit, wenn sie den letzten Wunsch ihres Vaters erfüllen wollte. Bis dahin durfte niemand erfahren, dass er gestorben war. Entschlossen trat sie an Jacob Braques’ Arbeitstisch, öffnete mit einem kurzen Druck ihres Zeigefingers das Geheimfach, das sich zwischen grüngoldenen Intarsien verbarg, und nahm einen mit Münzen gefüllten Beutel heraus. Dann zog sie ihren Mantel an und verließ das Haus. Stürmischer Wind schlug ihr entgegen und wirbelte bunte Blätter und Staub durch die engen Gassen, die von Frauen mit Weidenkörben am Arm, tobenden Kindern, streunenden Katzen, Pferden und Fuhrwerken bevölkert waren.

Das trockene Rascheln der Blätter kam ihr unnatürlich laut vor, und die Menschen, an denen sie vorüberkam, schienen unendlich weit von ihr entfernt zu sein, obwohl sie nur ihre Hand auszustrecken brauchte, um sie zu berühren. »Geweihte Erde«, hämmerte die Stimme in ihrem Kopf und trieb sie weiter durch die Gassen auf die Grand Pont zu, die als einzige Brücke die Île de la Cité mit dem Rest von Paris verband.

Der Morgennebel hatte sich verzogen. Blasses Sonnenlicht lag auf den weißen Steinen der Kirche Unserer Lieben Frau. Das Licht betonte die klaren Linien ihrer Spitzbögen, drang durch das Maßwerk der mächtigen Fensterrose und ließ die in Stein gehauenen Szenen und Figuren über den Portalen noch einmal deutlicher hervortreten.

An ihrem östlichen Ende, im Schatten der gewaltigen Strebebögen, erstreckte sich der Kirchhof, auf dem viele Günstlinge der Krone in der Nähe ihrer Könige ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten.

Obwohl es noch früh am Morgen war, war die Luft so schwül, als ob ein heißer Wüstenwind seinen Weg über das Meer und über das flache Land bis nach Paris gefunden hätte. Eine gerade erwachte Krähe stieß ein müdes Krächzen aus, dann senkte sich erneut Stille über den verlassen wirkenden Kirchhof, dessen kaltem Boden der eigenartige schwere Geruch feuchter Erde entströmte, wie er nur durch Verwesung und Tod entstand.

Jacques war als Erster da! Ein Überlebender des Schwarzen Todes, der vor zehn Jahren Paris heimgesucht und seine Eltern und fünf seiner Geschwister mit sich genommen hatte.

Übrig geblieben waren nur er und der kleine Pierre, der ihm mit seinen großen glänzenden Kinderaugen dabei zugesehen hatte, wie er die sterblichen Überreste ihrer Familie notdürftig in der Erde verscharrte, weil es selbst in den Massengräbern keinen Platz mehr für sie gab.

Danach war der Glanz in Pierres Augen erloschen, und Jacques hatte weitere Tote begraben müssen, um seinen Bruder und sich durchzubringen. Irgendwann waren ihm die Toten dann näher gewesen als die Lebenden, weil sie stumm und gleichgültig waren, so stumm wie Pierre, dem die Begegnung mit dem Tod die Lippen für immer verschlossen hatte.

Jacques entdeckte sie, noch bevor sie den Kirchhof betrat. Sie wirkte in sich gekehrt. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen und ließen ihr Gesicht noch blasser erscheinen, als es ohnehin schon war. Sie konnte nicht älter als siebzehn sein, und ihre Kleidung verriet, dass sie die Tochter eines wohlhabenden Bürgers war. Heute Abend würde er Pierre gutes weißes Hühnerfleisch mitbringen können und vielleicht sogar einen Apfel.

Er löste sich aus dem Schatten der Strebebögen und ging ihr entgegen, damit sie es sich nicht noch anders überlegen und kehrtmachen konnte.

Sie war schön und still wie seine Toten, und etwas an ihr erinnerte ihn an Pierre.

Er wusste, dass sie ihn bemerkt hatte, obwohl sie ihn nicht ansah, sondern ihren Blick weiterhin gesenkt hielt, als er näher kam. Als Bürgerin durfte sie ihm nicht in die Augen sehen, weil es Unglück brachte, den aus der Gesellschaft Ausgestoßenen in die Augen zu blicken, zu denen unter anderem all jene gehörten, die mit dem Tod zu tun hatten, ihn herbeiführten wie der Henker und seine Gehilfen oder von ihm lebten, wie er und seinesgleichen es taten.

Es machte ihm nichts aus, er hatte sich längst daran gewöhnt.

»Eine Schaufel geweihter Erde kostet einen Pariser Franc«, sagte er und musterte ungeniert ihre feinen Gesichtszüge, das etwas hervorspringende Kinn, die schmale, gerade Nase und die weichen, roten Lippen. Er hätte gerne gewusst, welche Farbe ihre Augen hatten, und stellte sich vor, dass sie blau wären, während er auf ihre Antwort wartete.

Ihre Antwort überraschte ihn.

»Und ein Grab? Ein Grab in geweihter Erde?«, fragte sie entschlossen. »Wie viel kostet das?« Ihre Stimme war klar und hell.

Jacques hatte schon viel erlebt, seitdem es zwei Päpste gab: Mütter, die so viel geweihte Erde kauften, dass sie die Särge ihrer ungetauften Kinder dreimal damit hätten füllen können. Angehörige von Exkommunizierten oder zum Tode verurteilten Verbrechern, die noch ein paar Francs drauflegten, um einige Krümel Erde von den Gräbern der Heiligen, besonders von dem des heiligen Dionysius, zu ergattern. Erde, die sie wie ein kostbares Gewürz über die Dahingegangenen streuten, aber ein Grab auf dem Kirchhof Unserer Lieben Frau war bisher noch nie dabei gewesen. Die Grabplätze waren allesamt dem hohen Klerus und dem Adel vorbehalten, und jedermann wusste, dass man sich nicht einfach ein Grab dort kaufen konnte.

Jacques betrachtete sie abschätzend. Ihre Lider zitterten leicht, und ihre Lippen waren fest zusammengepresst.

Wahrscheinlich hat ihr die Trauer den Verstand getrübt, überlegte er. Und weil er nicht wusste, wie er reagieren sollte, wartete er einfach ab.

Nach einer Weile spürte er, wie sie unruhig wurde. Sie erwartete eine Antwort von ihm, aber was sollte er ihr sagen? Dass es unmöglich war, ein Grab auf dem Kirchhof zu kaufen, so wie man einen Fisch oder ein Stück Fleisch auf dem Markt kaufte?

»Ich habe es versprochen. Es war der letzte Wunsch meines Vaters«, flüsterte sie, und er hörte die Verzweiflung, die in ihrer Stimme lag.

Alle waren sie verzweifelt, wenn sie zu ihm kamen. Die Begegnung mit dem Tod erschütterte sie bis ins Innerste, erinnerte der Tod sie doch stets daran, dass er auch sie nicht verschonen würde. Niemand konnte dem Tod entrinnen.

Jacques überlegte. Er brauchte Geld, denn Pierres Husten war schlimmer geworden, und er musste Holz für den Winter kaufen, damit sein Bruder nicht wieder Fieber bekam, wenn der eisige Nordwind durch die dünnen Wände ihrer kleinen Hütte fegte.

Nun bot ihm das Schicksal eine Chance, die er sich nicht entgehen lassen durfte.

Sein Blick fiel auf das Grab, das er am Tag zuvor ausgehoben hatte, und plötzlich hatte er eine Idee, die ihn nicht mehr losließ. Warum war er nicht schon eher darauf gekommen?

»Ich könnte das Grab dort ein wenig tiefer ausheben, damit zwei Tote übereinander hineinpassen, aber das wird nicht billig«, schlug er vor.

»Wie viel verlangt Ihr?«

»Ich müsste die ganze Nacht graben und den Toten mit meinem Karren abholen, noch bevor der Morgen graut«, überlegte Jacques laut. »Und wir brauchen Steine, die wir statt des Toten in den Sarg legen, damit niemand etwas merkt.«

»Wie viel?«

»Dreißig Francs.« Seine Gedanken überschlugen sich. Mit dreißig Francs konnte er ein Mittel gegen Pierres quälenden Husten kaufen und genügend Holz, um es den ganzen Winter über warm und auch noch einen vollen Bauch zu haben. Gespannt wartete er auf ihre Antwort.

Anastasia atmete erleichtert aus, und die Anspannung fiel von ihr ab, während sie eifrig in eine Falte ihres Mantels griff und einen Beutel aus fein gegerbtem Kalbsleder hervorzog, so als befürchtete sie, er könne es sich noch einmal anders überlegen.

An das, was danach geschehen war, konnte sie sich nur noch schemenhaft erinnern, vielleicht weil sie nicht glauben wollte, was sie getan hatte. Vielleicht aber auch, weil die Begegnung mit dem Totengräber, der feierliche Versehgang unter Führung des Priesters, die schrillen Laute der Klageweiber und die Beerdigung einer mit Steinen gefüllten Holzkiste einen Tag später ihr wie ein nicht enden wollender unwirklicher Traum erschien, den sie am liebsten für immer aus ihrer Erinnerung getilgt hätte.

Nachdem endlich alles vorbei war, hatte sie sich mit letzter Kraft nach Hause und in ihre Kammer geschleppt. Dort ließ sie sich auf ihr Bett fallen und sank in einen unruhigen Schlaf, aus dem sie immer wieder schweißgebadet erwachte. Es war noch dunkel, als sie ihren Mantel nahm und erneut das Haus verließ. Ihre Gedanken kreisten um ihren Vater, der ihr entsetzlich fehlte und jetzt verlassen und einsam in der kalten Erde ruhte.

Unmerklich wurde es heller. Die Geräusche der langsam erwachenden Stadt drangen bis auf den Kirchhof, doch Anastasia nahm sie nur am Rande wahr. Mit leerem Blick starrte sie auf das Grab. Sie brachte es nicht über sich, ihren Vater zu verlassen, ihn alleine zu lassen in seinem letzten Ruhebett, alleine mit dem Fremden, dessen Namen sie nicht einmal kannte, obwohl sie wusste, dass es gefährlich war, zu lange zu bleiben. Wenn sie nun jemand an dessen Grab stehen sehen würde? Vielleicht sogar ein Angehöriger des Verstorbenen? Man würde sich über ihre Anwesenheit wundern und anfangen Fragen zu stellen, auf die sie keine Antwort geben konnte.

Dass sie tatsächlich schon seit geraumer Zeit beobachtet wurde, ahnte sie nicht.

Die Sühnetochter

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