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Nutzlose Alltagspoesie Eine Einführung in die kontemplative Fotografie

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In unserem ganz gewöhnlichen Alltag sehen wir oftmals nicht viel. Viele Wege, Bewegungen und Abläufe geschehen automatisch. Wir fahren morgens zur Arbeit, durchqueren die halbe Stadt, steigen aus dem Auto und können uns kaum erinnern, welche Ampel rot geschaltet war und welche grün. Wo haben wir gewartet? Wie sah es dort aus? Welches Licht fiel auf die Straße? Querten Fußgänger die Ampel? Stattdessen waren wir in Gedanken versunken, vielleicht sogar emotional – wir haben uns beim Frühstück geärgert –, oder wir haben mit einem Gefühl der Anspannung überlegt, wie wir das Pensum in dieser Woche schaffen. Dies ist zur eingefleischten Gewohnheit geworden, die sich verselbstständigt hat und selbst dann greift, wenn es keinen Ärger beim Frühstück gab und das Pensum der Woche sehr gut zu schaffen ist. Verbringen wir den Tag zu Hause, so verhindert dort die Vertrautheit der Umgebung die Aufmerksamkeit fürs Sehen, Hören oder Riechen. In gewohnter Umgebung setzt schnell der Modus ein, sich automatisch bewegen zu können. Aufmerksamkeit scheint nicht nötig. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass wir aufmerksamer dort sind, wo wir uns nicht auskennen, ein wenig fremd fühlen: Fremdheit bewirkt mehr bewusstes Hinschauen.

Bei mir selbst beobachtete ich, dass ich eine Straße, ein Stadtviertel, eine mir neue Umgebung beim allerersten Mal, mich fremd fühlend, mit geschärfter Aufmerksamkeit wahrnehme. Bin ich allein, begleitet mich eine gespannte Neugierde, eine Mischung aus Vorwitz und Offenheit. Gehe ich dieselbe Straße wieder zurück, sind meine Sinne bereits weniger offen – ich muss aktiver offen sein, was mir dank langem Training leicht gelingt, aber es ist ein spürbarer Unterschied. Das liegt – so glaube ich – darin begründet, dass ich denke, die Situation einordnen zu können. Ich kenne mich ja bereits aus. Ich glaube, die Umgebung bereits »gescannt« zu haben, fühle mich vermeintlich vertraut. Tatsächlich ist es aber so, dass ich dieselbe Straße wieder und wieder entlanggehen kann und immer neue Dinge bemerke. Oftmals denkt man dann, diese seien vorher gar nicht da gewesen. Mit Übungen der Achtsamkeitsschulung kann ich lernen, offen zu bleiben in mir bereits vertrauten Umgebungen, gegenüber mir vertrauten Menschen.

Meine Erfahrung ist, dass ich durch die kontemplative Fotografie in meinem Alltag Formen für Pausen gefunden habe, die mir auch in Zeiten mit vollgestopftem Terminkalender und dichtem Kopf ermöglichen, einen kleinen erfrischenden Luftzug zu empfinden. Was bedeutet das? Sehen kann überall geschehen – oder nirgends. Erreichbarkeit lässt sich nicht einteilen in Beschäftigt-Sein und Freizeit. Die kleine Kamera in der Tasche, die ich immer dabei habe, erinnert mich selbst an anstrengenden Tagen daran, umzuschalten. Oder die Kamera kann eine Situation verändern. Besuche ich etwa jemanden im Altenheim und höre diese sich immer wiederholenden Geschichten, zigmal erzählt, möchte ich voller Ungeduld aus der Haut fahren. Die Kamera kann mir helfen, umzuschwenken und die Haut der Person mir gegenüber zu betrachten, die Falten um ihren Mund, die Gesten der Hände. Vielleicht schenkt das Betrachten und Fotografieren Geduld und auch einen Zugang dazu, eine neue Frage zur immer gleichen Geschichte zu stellen. Fotografieren bedeutet im besten Fall, in Kontakt zu gehen mit meiner Umgebung, präsent und aufnehmend.

Ich kann das Phänomen Autopilot durch Training ändern. Ich kann bemerken, wann ich nichts bemerke, und meine Aufmerksamkeit nach außen bringen. Eine meiner ersten Erfahrungen nach den vielen Sehübungen meines ersten Trainings war das intensive Erleben von farbigem Licht auf der abendlichen, regennassen Fahrbahn. Ich saß im Auto und war fasziniert von dieser Welt der Farben. Ich hatte das bis dahin nicht so intensiv erlebt. Es war, als wäre ein Schalter umgelegt worden.

Es ist eine Hinwendung zu Alltagspoesie, zum unvorbereiteten Nichtstun, zu Nebenschauplätzen und einer nicht enden wollenden Neugier auf die Welt der Phänomene. Die Bereitschaft, sich der Seite zu öffnen, die jenseits liegt von »fix durchdenken, effektiv einordnen, rasch bewältigen«.

Ich bin auf dem Weg zum samstäglichen Einkauf. Ich habe meine Straße bereits tausendfach gesehen und durchlaufen: schnell, langsam, eilig, schlendernd, gedankenverloren oder von Gedanken besessen. Es ist ein herbstlicher Oktobertag,

Nieselregen. Vor dem Nachbarhaus sammelt sich das Wasser in einer großen tiefdunklen Pfütze, in der kleine, gelbe Blätter schwimmen. Eine Frau, die vor mir den Gehweg entlanggeht, wirft ihre Zigarettenkippe hinein. Knallrot vom Lippenstift leuchtete sie dort und ich zücke die Kamera. Klick!

Ich könnte mein Viertel auf diese Weise kartographieren. Momente, die sich einbrennen, immer gleiche Orte in besonderen, neuen Mischungen aus Licht, Farbe oder Geruch. Neugierig sein auf das gewohnte Umfeld. Ich pflücke die Blüten des roten Sonnenhuts auf dem Balkon nicht ab, sobald sie den Höhepunkt der Blüte erlebt haben, sondern schaue ihnen im Herbst beim Vergehen zu. Ich bleibe entdeckungsfreudig. Meine Neugier hat kein Ziel, sie rankt sich entlang an freudiger Entdeckung und ist frei von Ursache oder Zweck. Dinge schlendernd ergründen, den Deckel lüften, frische Luft reinlassen. Im eigenen Erleben stehenbleiben, einen Moment zu lang, ineffektiv, mehr kreisend als linear.

Neugierig sein bedeutet, mich über bekannte Bilder und vorgefasste Erwartungen hinauszubewegen. Ich entdecke, erkunde, sehe Phänomene wie die Spiegelungen von Licht oder Farbe anstatt das wiederzuerkennen, was ich erwarte zu sehen. Oft spare ich mir meine Worte, die das Entdeckte gleich einordnen würden. Das lässt mich freier und spielerischer sein jenseits der so oft gefragten Ernsthaftigkeit. Neugier ist ein Türöffner für Kreativität. Hereinspaziert!

Im Erwachsenenalter bedeutet Kreativität, neben kreativen, künstlerischen und musischen Techniken gute Lösungen zu finden; aus wenig etwas zu zaubern, Erfahrungen im richtigen Moment zu nutzen, aus Intuition zu handeln und mit sicherem Gefühl Situationen zu gestalten. Erwachsen-Sein wird jedoch übermäßig von Denken bestimmt und vermeintlich linearen Prozessen. Wenn-dann-Rezepte lösen Erwartungen aus, Verpflichtungen haben übermäßig oft Vorrang. Verpflichtungen immer den Vorrang zu geben, ist ganz sicher ein Kreativitätskiller. Ist mein Alltag eine Aneinanderreihung von To-dos und mein Kopf immer mit dem beschäftigt, was gleich noch geschehen soll, so hindert mich das, verlorenzugehen im Augenblick. Wie wäre es mit einem Mischgewebe. Warum nicht mittendrin verweilen? Das häufigste Hindernis zur kontemplativen Fotografie ist, sich keine Zeit zu nehmen für das, was gerade geschieht. Meinen Alltag einzuteilen in Zeit für Pflicht und Zeit für Sehen ist der falsche Ansatz. Sehen kann immer geschehen, mittendrin. Und sei es die Sonne auf dem Küchenkrepp, während ich das Geschirr spüle.

Neugierde im Alltag kann positive Veränderungen bewirken. Vielleicht stellst du Freundinnen neue Fragen oder du betrachtest dir fremde Menschen. Oder du stellst Fremden Fragen und betrachtest deine Freunde. Wie genau sieht eigentlich die Zeichnung der Falten auf der Stirn meines Gegenübers aus? Begib dich auf eine Reise der Wissbegierde und des Staunens in deinem Alltag.

Freude am Sehen

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