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Klarheit und Frische
ОглавлениеWas bedeutet Klarheit in der kontemplativen Fotografie? Ist es ein fotografischer Stil? Möglichst wenig auf dem Bild abzubilden? Die Realität sehr deutlich nachzuzeichnen? Alles erkennen zu können?
Die Klarheit in der kontemplativen Fotografie ist der kräftige rote Faden der Frische, welcher sich durch den Prozess webt. Dieses feine Gespür für die Wahrnehmung, die sich anfühlt wie ein kühler Luftzug auf meiner Haut. Ich sende nicht meine Projektion aus und erkenne diese im Gesehenen wieder. Sondern ich lasse zu, dass mein unermüdliches Gedankengewebe Lücken aufweist, mal dünner sein darf und durchscheinend. Und durch dieses feinere, transparente Gewebe erreicht mich etwas. Eine Wahrnehmung noch ohne Bedeutung, Festigkeit, Solidität. Ich steige nach zweistündiger Fahrt und vielen Gesprächen aus dem Auto, schaue geradeaus in den Wald und sehe dieses lichte, leuchtende zarte Grün. Gedanklich bin ich noch dabei zu prüfen, ob ich richtig geparkt habe, die Handbremse angezogen, der Gang eingelegt ist. Mein Automatismus ist mit vielen Handgriffen beschäftigt. Aber ich spüre, dass mich der Eindruck dieses lichten Waldes zutiefst erreicht hat. Als würde diese leere Filmrolle in meinem Inneren bereits belichtet – klick. Es heißt noch nicht Wald mit Buchen – so orientiert bin ich noch nicht. Ich könnte es vielleicht beschreiben mit zart, fragil, zauberhaft.
Diese Prägnanz der Wahrnehmung behalte ich durch den gesamten Prozess des Fotografierens. Ich empfinde den roten Faden, ich denke ihn nicht. Ich drücke aus, was eindrücklich das erste kräftige Bild war, und gehe nicht verloren in Bildkompositionen von Buchenwäldern – die ich mag oder nicht mag. Die in meine Identität als Fotografierende passen oder die ich auf keinen Fall so fotografieren möchte, weil ich keine Apothekenkalender-Aufnahmen machen möchte. Klarheit ist überraschend und vor allem überrasche ich mich selbst. Bin ich ihr radikal treu, so löst sich mehr und mehr meine Voreingenommenheit auf, auch im Hinblick darauf zu wissen, was ich gerne fotografiere, denn ich lasse mich ja auf die Überraschungen ein.
Ich sehe die Wucht der Haare meines Gegenübers und die Zartheit ihres Gesichts. Und ich bleibe mit meiner Wahrnehmung genau dabei. Ich erlaube mir die Person genauer zu betrachten und die Qualität dessen, was ich sehe, zu erkunden. Es ist sehr ungewohnt, immer wieder zum Sehen zurückzugehen und nicht die üblichen Schubladen zu öffnen und mich etwa dem hinzugeben, was ich über sie denke. Jemanden betrachten – pur.
Klarheit für meine Wahrnehmung ist licht, beweglich und sanft. Wir nennen das auch »frisch«. Das Gegenteil dieser Qualität ist schwer, starr und grob. Das Gegenteil von Klarheit ist dicht gewobene Gewohnheit.