Читать книгу Freude am Sehen - Hiltrud Enders - Страница 16
Achtsamkeit und Aufmerksamkeit
ОглавлениеAchtsamkeit ist eng verwandt mit Aufmerksamkeit. Unter dem Begriff Achtsamkeit (englisch: mindfulness) werden einige meditative Techniken zusammengefasst, die zum Ziel haben, das alltägliche Leben in bewusster Haltung zu erfahren: Das Rauschen von Hektik intensiv empfinden, die Verzweiflung im Stau spüren und ihr nicht nachgeben, sondern stattdessen das Interieur des Autos einmal ausgiebig betrachten, erfreuliche Momente auskosten und bei unerfreulichen Gefühlen trotzdem anwesend bleiben. Achtsamkeit ist die Fähigkeit, die eigene, sehr persönliche Art und Weise der Aufmerksamkeit kennenzulernen. Wie empfinde ich? Wie bin ich präsent? Die Haltung ist offen, neugierig und akzeptierend. Sie verzichtet auf schnelle Bewertungen. Das Ziel ist nicht eine zurückgelehnte Entspannung, sondern eine eher nach vorne gerichtete Bewusstheit – aufmerksam bei dem, was ist. Die kontemplative Fotografie ist ein Wahrnehmungstraining oder eine Achtsamkeitsschulung bezogen auf den Sehsinn. Mittels der Übungen der kontemplativen Fotografie sehen wir die Welt, in der wir leben, mit offenen Augen und können ganz präsent sein. Ohne Konzept oder Konvention, frei von Konfusion. Momente frischer Wahrnehmung erleben, lebendig und klar, und diese Erfahrung teilen – im Foto.
Mit Achtsamkeit wird manchmal eine etwas romantisierende Note verknüpft: »Seien Sie achtsamer für die kleinen Dinge des Alltags, so werden Sie glücklicher.« Ich möchte dem gerne entgegensetzen, dass ein achtsameres Leben, in dem ich aufmerksam bin für das, was um mich herum geschieht, mich radikaler machen kann, politischer oder hilfsbereiter. Vielleicht je nach Tagesform etwas von allem. Bin ich mit meiner Kamera unterwegs, so kann ich erleben, dass ich mich aus der schnellen Welt des Konsums in den Städten, der Welt, in der die Eile zuhause ist, herausbewege und eine Art Parallelwelt der Langsamen betrete.
In der Kölner Südstadt drückt mir eine Frau eine Packung Hundefutter in die Hand mit der klaren, knappen Ansage: »Künne se mr helfe, die Tüt op ze maache. Ming Fingenägel sin ze koot doför. De Hunge bruche ndoch uch jet ze esse.«1 Es stellt sich heraus, dass sie auf routinemäßiger Futtertour ist. Immer wenn sie für sich einkauft, füttert sie auch die Hunde der Obdachlosen im Viertel.
Vor meinem Arbeitsraum lerne ich den alten Mann kennen, der eine Gruppe Krähen füttert und mit ihnen kleine Kunststücke vorführen kann. Sie ärgern und zwicken seine Hunde und begleiten ihn regelmäßig vom Park bis vor seine Haustür. Es kann sein, dass mich bei so einer Begegnung ein Hauch von Einsamkeit meines Gegenübers anweht. Aber ebenso kann Freude entstehen. An einem anderen Tag hätte ich den Krähenkünstler sicher gar nicht bemerkt auf meinem eiligen Weg ins Gebäude.
Ich erlebe viele solcher Begegnungen, wenn ich fotografiere. Bist du neugierig auf die Welt, entwickelst du Offenheit, dann rechne auch damit, dass sie dir begegnet – so, wie sie ist. Diese Schulung zu klarem Sehen birgt intensive Seherlebnisse und die Chance, dass du tatsächlich im Moment ankommst und ein Teil davon wirst. Dass eine Begegnung stattfindet und du dich berühren lässt von der Frage, wie du zum Beispiel mit Respekt und Freundlichkeit dazu beitragen kannst, dass diese Begegnung gut gestaltet ist.
Dieses Buch soll mit den Texten und Bildern anregen, den Alltag mit Hilfe der Kamera aufmerksam zu erleben und dies fotografisch umzusetzen. Du kannst das Buch natürlich von Anfang bis Ende lesen oder auch nach Lust und Laune blättern, hängenbleiben und dich inspirieren lassen.
Um Frauen und Männer gleichermaßen anzusprechen, erlaube ich mir abzuwechseln zwischen der weiblichen und der männlichen Form – manchmal nenne ich beide. Wichtig war mir, den Text gut lesbar zu gestalten.