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Miksang – pures, gereinigtes Auge
ОглавлениеMichael Woods Idee, Fotografie zu studieren, war kein lang gehegter Plan eines jungen Mannes, der sich bereits viel mit Fotografie beschäftigt hatte, sondern eine spontane und gleichermaßen klare Entscheidung im Sommer 1969. Am Sheridan College in Toronto absolvierte er bis 1972 eine klassische Ausbildung zum Fotografen und arbeitete mehrere Jahre in diesem Beruf. 1976 betrat er auf Einladung eines Freundes ein Meditationszentrum mit dem Auftrag, dort Fotos zu machen. Bald begann er täglich mehrere Stunden zu meditieren und bemerkte, dass dies sein Sehen veränderte. Er beschreibt, dass er plötzlich etwas sah, was er seitdem »Wahrnehmungsblitze« nennt. Überraschende Wahrnehmungen, aus heiterem Himmel, eindringlich wie Nadelstiche, welche eine hundertprozentige Aufmerksamkeit bewirkten. Ende der 70er-Jahre sah er Fotografien, die Chögyam Trungpa aufgenommen hatte, und war sehr beeindruckt von diesen Bildern. Sie folgten nicht den klassischen Regeln von Komposition, Thema oder Erzählstrang. Ihre Faszination lag in ihrer Ausdruckskraft, und sie motivierten Michael Wood, die Verbindung von Meditation und Fotografie tiefer zu ergründen und sich mit der Lehre über Wahrnehmung und Kunst dieses Meditationslehrers zu beschäftigen.
Michael entwickelte für sich selbst eine Begrenzung, eine Art Leitsatz, der noch heute gilt. Wenn ich nicht in meiner vertrauten Umgebung sehen kann, dann auch nicht außerhalb dieser Welt. Er beschloss für sich, Aspekte wie Ruhe, Stille, Unbewegtheit mit Sehen zu verbinden, und begrenzte sich für sechs Monate auf seinen Garten, den Zaun, die Garagenwand – täglich für eine oder auch mehrere Stunden. Die in der Meditation erlebten überraschenden Wahrnehmungen wurden häufiger und regelmäßiger. Und die vorgefertigten Ideen von dem, was es zu sehen gab, immer blasser. Für die nächsten sechs Monate weitete er den Raum auf die Gasse hinter dem Haus aus. Er hatte zwei kleine Kinder, und seine Art zu sehen ergänzte sich wunderbar mit deren Art zu spielen. Erforschend, verweilend, ohne großes Ziel. Der Ansatz des konzeptionellen Fotografen konnte hier nicht ankern. Eine neue Art, mit dem eigenen Sehen zu sein, entstand in dieser Zeit, die ungefähr ein Jahr umfasste. Michael bezeichnet dies als eine sehr zufriedene Zeit, es war kein Ziel definiert, nur eine Ausweitung ins alltägliche Erleben. Er lernte, still und aufnahmefähig zu sein.
1983 wurde er gebeten, dieses Training anderen zu vermitteln. Bei der Analyse seiner Wahrnehmungen und deren Fotografien destillierte er gewisse Komponenten des Sehens und übertrug diese in Übungen, die den Teilnehmern Raum geben, anzukommen im Sehen. Michael Wood gab dem Training den Namen Miksang. Er bedeutet »Pures, gereinigtes Auge«. Für ihn ist dieser Name sein Lebensinhalt, seine Leidenschaft. Er navigiert durch den Prozess, Klarheit und Sicherheit im Ausdruck der eigenen Wahrnehmung zu finden. Michael Wood und Julie DuBose gründeten das Miksang Institute for Contemplative Photography und den Verlag Miksang Publications, bilden Trainerinnen aus, die in Nordamerika, Japan und Europa unterrichten. Die Trainings wandeln sich und nehmen neue Themen auf. Der Umgang mit den andauernden Unterbrechungen der digitalisierten Welt hat viel verändert. Der Zeitgeist ist von Unruhe geprägt und von der Suche nach einer Haltung gegenüber der Flut von Informationen und Wahrnehmungen.