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Kapitel 2
ОглавлениеMicha
Die Schaukel im Garten seines Elternhauses hatte sich nicht verändert. Micha hoffte, dass sie das auch in Zukunft nie tun würde.
Die Kanten des Autoreifens schnitten ihm durch die Jeans in die Beine, während er langsam vor und zurück schaukelte. Er spürte es kaum. Selbst nach fast fünfzehn Jahren kam es ihm noch nicht ganz wie sein Garten vor. Vor allem, da er die letzten sieben Jahre nicht hier gelebt hatte.
Er hielt sich oben am Reifen fest und ließ die Schuhspitzen über den Boden schleifen. Ihm war kalt. Er hätte eine Jacke anziehen sollen, brachte aber nicht die Energie auf, ins Haus zu gehen und sie zu holen. Er betrachtete die orangegelben Blätter, die den Boden bedeckten oder noch an den Bäumen hingen. Bald war Halloween und Pops würde das Haus von oben bis unten schmücken, wie er es immer machte.
Micha wünschte sich so sehr, sich hier zu Hause zu fühlen. Es gab keinen Grund, das nicht zu tun. Dad und Pops hatten immer alles getan, damit er sich als Teil der Familie fühlen konnte – zusammen mit seinen älteren Adoptivgeschwistern. Micha wünschte nur, er wäre nicht so verdammt kaputt.
Er wusste, er würde nie irgendwohin gehören.
Außer vielleicht in das Haus in Seattle. Für ein Jahr oder so hatte er sich dort wohlgefühlt. Solange er sich an Dales Regeln hielt, was er auch getan hatte…
Vergiss Dale, zischte eine Stimme in seinem Kopf. Der soll sich mit seinen Regeln zum Teufel scheren. Michas Finger krallten sich in den kalten, harten Gummireifen und er blinzelte die Tränen weg, die ihm in die Augen stiegen. Dale hatte ihn in dieser Nacht hinters Licht geführt und einfach fallen lassen. Beinahe hätte er sogar Brie mit reingerissen, und das konnte Micha ihm nicht verzeihen. Micha mochte ein Nichts sein, aber Brie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich. Sie wollte Sängerin werden.
Sie war etwas.
Micha wusste, dass er Glück gehabt hatte. Er war nur zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt worden. Na ja, eigentlich zu zehn Monaten, weil er zwei davon schon abgesessen hatte. Aber sosehr er es auch versuchte, er konnte es nicht als Gewinn sehen.
Er fragte sich, ob dieses quälende Gefühl der Demütigung wohl jemals nachlassen würde. Der Augenblick, in dem er zum Telefon gegriffen und seine Eltern angerufen hatte, war tief in sein Gedächtnis eingebrannt und überflutete ihn mit Schuldgefühlen, wann immer er sich daran erinnerte. Was nahezu ständig der Fall war. Die Enttäuschung in Pops' Stimme war unüberhörbar gewesen. Micha hatte es kaum ertragen können.
Doch Pops hatte Micha geglaubt, als er ihm die Geschichte erzählte. Die ganze Familie hatte ihm geglaubt. Natürlich hatten sie das. Micha wusste selbst nicht, warum. Sosehr er sie und ihr perfektes Leben auch von sich wies, um nicht an seine eigenen Fehler und sein Versagen erinnert zu werden, so sehr versuchten sie immer wieder, ihn in den Schoß der Familie zurückzubringen.
Er schnaufte. Seine Augen brannten, aber er wollte nicht weinen. Er war erst seit einigen Tagen wieder zu Hause und wurde schon wieder unruhig. Er wusste, sie gaben ihr Bestes, behandelten ihn freundlich und rücksichtsvoll. Sie sprachen seine Festnahme und die letzten sieben Jahre, die er sich in Seattle durchgeschlagen hatte, nicht an. Micha war das schwarze Schaf der Familie, hatte nicht studiert und schaffte es nicht, eine feste Arbeit anzunehmen. Ihr Verständnis und ihre Vergebung machten es für ihn noch schwerer. Er fühlte sich danach jedes Mal undankbar. Es war ein Teufelskreis, dem er nicht entkommen konnte.
Aber Micha war auch Realist. Er konnte nicht in das Haus nach Seattle zurück und durch die Vorstrafe würde es ihm noch schwerer fallen, dort Arbeit zu finden. Hier konnte er mietfrei bei seinen Eltern wohnen, was vernünftig war – wären da nicht diese Depressionen, die ihn immer wieder überkamen.
Es war bedauerlich, dass er nicht in das Haus nach Seattle zurückkehren konnte. Es war der einzige Ort in seinem Leben gewesen, an dem er jemals offen schwul gelebt hatte – im Gegensatz zu seinen One-Night-Stands, aber die zählten nicht, weil er keinen der Männer jemals wiedergesehen hatte. In dem Haus waren alle schwul gewesen und Micha vermisste dieses wohltuende Gefühl, sich nicht verstellen zu müssen.
Doch er konnte nicht zu Dale zurück. So verzweifelt er auch sein mochte, das wusste er. Er war ehrlich gewesen und hatte der Polizei gesagt, er wäre in dieser Nacht nur gefragt worden, ob er das Auto fahren könnte. Aber er hatte zugeben müssen, Dale zu kennen. Warum hätte er sonst dort sein sollen? Er hatte geschworen, nicht gewusst zu haben, was die beiden vorhatten oder was in den Rucksäcken war. Und er hatte bestritten, das junge Mädchen – Brie – zu kennen. Was eine himmelschreiende Lüge war.
Micha konnte von Glück sagen, dass sie ihn nicht weiter dazu befragt hatten, weil er lieber selbst ins Gefängnis gegangen wäre, als Brie hinter Gittern zu sehen. Sie war von ihrer Mom aus dem Haus geworfen worden, weil sie lesbisch war. Ihre Mom hatte ihr nicht erlaubt, mehr mitzunehmen als ihre Börse und die Kleider am Leib. Micha kam sich in Pine Cove zwar vor wie ein bunter Hund, aber wenigstens war er hier immer willkommen und hatte ein Zuhause.
Es würde sich bestimmt bessern. Es musste einfach. Micha war schließlich älter geworden. Reifer. Vielleicht fühlte er sich jetzt nicht mehr so fehl am Platz und der Umgang mit seiner Familie wurde entspannter. Dad mochte ein bisschen grummelig sein, seit Micha entlassen und nach Pine Cove zurückgekommen war. Pops war aber immer noch so fröhlich wie früher, hielt Micha über den Dorftratsch auf dem Laufenden und schickte jeden Morgen Peri, den großen Pyrenäenhund, zu ihm, um ihn zum Frühstück zu holen. Pops war überzeugt davon, dass Micha bald einen Job finden würde, weil ihm die Leute hier glauben würden, dass er unschuldig war.
Micha war sich da nicht so sicher, musste aber zugeben, dass Pops sehr überzeugend war. Jedenfalls fühlte er sich danach etwas besser und machte sich nicht mehr ganz so viele Sorgen.
Das Beste an der Sache war, seine Nichten und Neffen wiederzusehen. Erwachsene hatten Micha immer eingeschüchtert. Sie hatten ihn als Kind wie Dreck behandelt und auch nach seiner Adoption hatte er noch mehr als genug beschissene Lehrer, machtgeile Chefs oder Freunde kennengelernt, die ihm in den Rücken fielen und ihn ausnutzten. Aber Kinder? Bei denen wusste man immer, woran man war. Sie waren ehrlich, nicht manipulativ und falsch. Sie strahlten wie der Sonnenschein an einem Sommertag. Micha respektierte Ehrlichkeit – wahrscheinlich deshalb, weil er selbst so sehr damit zu kämpfen hatte. Kinder waren einfach nur sie selbst. Punkt.
Noch besser war, dass sein Bruder Rhett während Michas Abwesenheit zwei Kinder adoptiert hatte. Zwillingsbrüder aus Puerto Rico. Die beiden Jungs allein waren es wert, wieder nach Hause gekommen zu sein. Sie waren erst ein Jahr alt und Micha war es gestern gelungen, den meisten Gesprächen aus dem Weg zu gehen, indem er den einen oder anderen der beiden in die Arme genommen und geknuddelt hatte.
Er wurde von einem Kind überrascht, das plötzlich hinter der dicken Eiche hervorkam. Soweit er wusste, gehörte das Mädchen nicht zur erweiterten Familie Perkins. Micha hatte sie noch nie gesehen.
Er grub sich mit den Zehen in den Boden und hielt die Schaukel an, um das blonde Mädchen zu betrachten. Sie mochte fünf, vielleicht auch schon sechs Jahre alt sein. Jedenfalls irgendwo zwischen Kindergarten- und Grundschulalter. Ihre langen Haare waren verstrubbelt und sahen aus, als wären sie schon vor Tagen zu einem Zopf geflochten und seitdem nicht mehr gekämmt worden. Ihre Brille verdeckte fast das ganze Gesicht. Sie war knallrosa, mit Glitzer besetzt und geformt wie diese merkwürdigen Brillen, die in den Sechzigerjahren modern waren. Das Mädchen trug ausgebeulte, ausgewaschene Jeans und ein T-Shirt, das – ganz im alten Stil – mit einem kleinen Pony bedruckt war. Der Druck war ebenfalls schon ziemlich ausgewaschen und zersprungen und ließ das T-Shirt aussehen, als wäre es auch schon aus den Achtzigerjahren.
Das Mädchen schob die Ärmel seiner Strickjacke hoch und sah Micha aus zusammengekniffenen Augen an. »Wer bist du?«
Michas Augenbrauen krochen über die Stirn nach oben. »Micha«, sagte er. »Das hier ist das Haus meiner Eltern. Und wer bist du?«
»Oh«, sagte das Mädchen und nickte. »Okay. Ich bin Imogen und das ist nicht unser Haus.«
»Ja«, sagte Micha und grinste breit. Die Kleine hatte Haltung. Sie gefiel ihm. »Das dachte ich mir schon. Bist du mit jemandem zu Besuch gekommen?«
Imogen lächelte strahlend und zeigte sämtliche Milchzähne, die sie noch im Mund hatte. »Ja. Mit meinem Daddy. Er sagt, wir besuchen Onkel Brett. Aber die Erwachsenen sind so langweilig, dass ich mich rausgeschlichen habe. Darf ich deine Schaukel ausprobieren?«
Brett. Damit musste sie Rhett meinen. Rhett war ein sehr geselliger Mensch, der ständig neue Freundschaften schloss. Micha konnte es ihm nicht verübeln, weil Rhett derjenige seiner Adoptivbrüder war, den er noch am ehesten als Freund bezeichnen konnte.
Rhett war der Jüngste von vier Geschwistern, die Dad und Pops adoptiert hatten. Rhett war damals noch ein Baby gewesen und konnte sich nicht mehr an seine richtigen Eltern erinnern. Vielleicht hatten er und Micha sich deshalb so schnell angefreundet. Außerdem hatte Rhett ihn schon am ersten Tag mit seiner PlayStation spielen lassen. Micha war es nicht gewohnt gewesen, dass jemand mit ihm teilte. Er war es immer noch nicht.
Rhett war es auch gewesen, der Micha dazu überredet hatte, nach seiner Entlassung nach Pine Cove zurückzukehren. Micha hoffte, dass er sich dieses Mal beim Rest seiner Familie genauso unbefangen fühlte wie bei Rhett. Er musste sich nur etwas Mühe geben.
Da der Vater des Mädchens mit Rhett befreundet war, fühlte sich Micha in ihrer Gegenwart schon nicht mehr so seltsam. Er warf einen Blick über den Hof ins Küchenfenster. Richtig, da saßen einige Leute zusammen am Tisch.
Micha war immer vorsichtig, wenn er mit Kindern von fremden Leuten zu tun hatte, aber Imogen wollte nur schaukeln. Also rutschte er aus dem Autoreifen und hielt ihn für sie fest. Sie kam sofort angerannt und versuchte, an dem Reifen hochzuspringen und hineinzuklettern, war aber zu klein.
»Soll ich dir helfen?«, fragte Micha und krempelte sich die Ärmel hoch.
Imogen schnaubte und schob die Brille hoch. »Ja, bitte. Mir gefallen deine Bilder.«
Micha, der gerade nach ihr greifen wollte, hielt überrascht inne. Dann dämmerte ihm, dass sie seine Tätowierungen meinte. Seine Unterarme waren voll davon und er hatte vor, sich auch die Oberarme und den Rücken tätowieren zu lassen. Micha war nicht sehr muskulös und groß und kam sich durch die Tattoos nicht ganz so schmächtig vor. Sie waren seine Rüstung und schützten ihn vor einer Welt, die ihn allzu oft hungrig in der Kälte alleingelassen hatte. Einige der Tattoos hatte er sogar teilweise selbst entworfen.
»Danke«, sagte er und drehte den Arm um, um ihr mehr davon zu zeigen. »Hast du ein Lieblingsbild?«
Imogen schnappte nach Luft, schlug die Hand vor den Mund und stellte sich auf die Zehenspitzen. »Meerjungfrau! Meerjungfrau!«
Micha grinste und hielt ihr die Hand hin, damit sie die Tätowierung an seinem Handgelenk besser sehen konnte. »Und siehst du das?«, sagte er und zeigte ihr seine andere Hand. »Hier ist ein Piratenschiff. Glaubst du, die beiden könnten Freunde werden?«
Imogen nickte begeistert. »Sie singt für die Piraten und rettet sie, wenn ihr Schiff untergeht. Dann heiratet sie den Prinzen.«
Micha lächelte kläglich. »Es gibt immer irgendwo einen Prinzen, nicht wahr?«, murmelte er.
Vielleicht würde er eines Tages auch seinen Prinzen finden.
Er zeigte auf den Autoreifen. »Soll ich dir jetzt helfen? Dann kann ich dich anstoßen.«
»Ja, ja!« Imogen streckte die Arme aus und ließ sich von ihm hochheben. Er hielt sie vorsichtig um die Taille, während sie unbeholfen die Beine durch den Reifen schob. »Ich will ganz hoch schaukeln. Bis zum Mond!«
»Wow«, sagte Micha. »Bis zum Mond, ja? Das ist aber ziemlich weit.«
»Ich bin eine Entdeckerin«, erklärte ihm Imogen stolz. »Ich reise um die ganze Welt. Zweimal. Und dann zum Mond und übers Meer. Und auf den Meeresgrund. Dort sind nämlich die Meerjungfrauen.«
»Das ist ein wunderbarer Plan«, meinte Micha. »Darf ich mitkommen?«
Imogen nickte und Micha brachte die Schaukel zum Schwingen. Sie sah ihn über die Schulter an.
»Aber wir müssen erst packen. Du brauchst eine Zahnbürste und Socken zum Wechseln. Mommy hat das gesagt. Sie ist auch verreist, aber sie kommt bald zurück.«
Micha unterdrückte ein Lachen. »Socken zum Wechseln. Wird gemacht.«
»Höher!«, rief Imogen, warf die Arme in die Luft und kickte mit den Beinen. Sie wäre fast aus dem Reifen gefallen, aber Micha hielt ihr rechtzeitig die Hand an den Rücken und stützte sie. Sie schien es gar nicht zu bemerken.
»Nur, wenn du dich gut festhältst«, sagte er. »Wie willst du denn bis zum Mond fliegen, wenn du dich in deiner Rakete nicht anschnallst?«
Imogen salutierte und hielt sich wieder am Reifen fest. »Aye, aye, Kapitän!«
Micha lachte und stieß sie etwas fester an. Es war, als hätte das Kind all seine Sorgen wie weggewischt. Ja, sein Leben war nicht das beste, aber es hätte viel schlimmer kommen können. Er war zu Hause, war der Haft entkommen und Brie war, soweit er wusste, in Sicherheit. Seine Familie liebte ihn immer noch, auch wenn er sich bei ihr wie ein Außenseiter fühlte.
Und dann war dieser kleine Engel aufgetaucht und hatte ihn daran erinnert, dass er sein Leben noch vor sich hatte. Es gab noch so vieles zu entdecken. Doch jetzt wollte er einfach nur genießen, das kleine Mädchen glücklich zu machen, das in dem alten Autoreifen hin und her schaukelte. Sie war so voller Optimismus. Er fragte sich, wer wohl ihr Vater sein mochte. Vermutlich war er ein toller Mensch.
Der morgige Tag mochte wieder beschissen werden, aber in diesem Augenblick war das Leben gar nicht so schlecht.