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Kapitel 1
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Es war ein Dienstagmorgen, als Ben die Muffins mit Äpfeln und Zimt anbrannten.
An diesem Tag erfuhr er auch, dass er Millionär geworden war. Aber die Sache mit seinen Lieblingsmuffins passierte noch davor.
»Oh verdammt, leckt mich doch kreuzweise«, rief er bestürzt. Es war seine eigene Schuld. Er hatte vergessen, den Timer zu stellen. Wirklich, es war keine Katastrophe. Er konnte neue Muffins backen. Aber er hasste Verschwendung und es ärgerte ihn gewaltig, die Muffins wegwerfen zu müssen. Zumal sie so köstlich schmeckten. Unangebrannt jedenfalls.
»Nicht fluchen, Benjamin«, grummelte Lars Jansen, sein Chef, gutmütig. Er war gerade dabei, ein Blech mit frischen Brötchen nach vorne in den Laden zu bringen. Sie hatten gerade erst geöffnet, aber es waren schon einige Kunden da, die darauf warteten, bedient zu werden, bevor sie zur Arbeit oder nach ihrer morgendlichen Fitnessrunde wieder nach Hause gingen.
Ben wurde rot. Hoffentlich hatte ihn niemand gehört. Im Hintergrund spielte leise Musik und einige der Kunden waren schon wach genug, um sich zu unterhalten. Vielleicht hatte er Glück gehabt. Ben war der süße Mitarbeiter, den die alten Damen so liebten. Es wäre nicht gut fürs Geschäft, wenn sie ihn wie einen Bierkutscher fluchen hörten.
»Sorry, Lars.« Er wedelte mit dem Handtuch, um den Gestank zu vertreiben, der den üblichen Duft der Bäckerei nach warmem Brot und frischem Kaffee zu überdecken drohte. Dann kippte er die ruinierten Muffins auf ein Kühlgestell und pikste sie mit dem Finger. Am Boden waren sie noch gut – sogar perfekt. Wenn er die schwarze Hälfte oben abschnitt, konnte er sie vielleicht noch retten.
Er wollte über eine Lösung nachdenken, während er die Kunden bediente, die im Laden geduldig darauf warteten, dass das Rise and Shine offiziell den Betrieb aufnahm. Ben holte tief Luft und lächelte. Er liebte beides – die Kunden zu bedienen und zu backen. Wirklich, er war ein Glückspilz. Er lebte zwar einfach und konnte nicht im Luxus schwelgen, aber dafür hatte er sich mit seinen dreiundzwanzig Jahren schon ein Leben aufgebaut, das ihn ausfüllte und glücklich machte.
Meistens jedenfalls.
Als er in den Laden kam, fiel ihm sofort der große, mürrisch dreinblickende Mann in dem braunen Anzug auf, der hinter den anderen Kunden stand. Es musste ein Repräsentant von The Happy Baker, Inc. sein.
Diese geldgeilen Arschlöcher hatten irgendwie erfahren, dass Lars in den Ruhestand gehen wollte, und während es der Bäckerei nach außen hin gut zu gehen schien, hielt sie sich gerade eben so über Wasser. Der Gedanke, dass Rise and Shine einer gesichtslosen Ladenkette einverleibt werden könnte, brach Ben, Lars und jedem, der hier arbeitete, das Herz.
Der steif aussehende Kerl musste einfach von Happy Baker geschickt worden sein, um sie wieder unter Druck zu setzen. Als Lars ihn sah, weiteten sich seine Augen vor Angst. Ben drückte ihm die Schulter. »Schon gut. Ich kümmere mich um ihn. Wir verkaufen immer noch nicht, oder?«
»Richtig«, sagte Lars. Die Bäckerei war sein Lebenswerk. Ben wollte sie nicht an ein seelenloses Unternehmen gehen sehen, das sie bis zur Unkenntlichkeit veränderte. Also musste er mit diesem Idioten reden, obwohl er es nicht wollte. Für Lars.
Ben wurde oft unterschätzt. Es ging ihm unter die Haut, weil es nicht ganz unbegründet war. Er war kein sehr großer Mann und deshalb fehlte es ihm am nötigen Selbstbewusstsein. Er wurde oft nicht ernst genommen, weil er so klein und zierlich war. Aber für Lars und die Bäckerei blies er die Brust auf und nahm all seinen Mut und seinen Widerspruchsgeist zusammen.
»Danke, Benjamin«, sagte Lars. »Schick ihn einfach weg.«
»Wird gemacht«, versprach ihm Ben.
Zum Teufel aber auch. Der Anzugträger stand hinten in der Schlange, also wollte Ben erst die anderen Kunden bedienen und die Zeit nutzen, sein Selbstbewusstsein aufzubauen. Da es noch früh am Morgen war, verlangten die meisten nur Frühstücksgebäck und Brot, um sich später ein Sandwich zu machen. »Vielen Dank und bis zum nächsten Mal«, sagte er fröhlich zu jedem der Kunden. Dann schaute er von der alten Kasse auf und…
…der Magen sackte ihm in die Kniekehlen.
Es war lächerlich. Er konnte doch nicht jedes Mal einen Herzanfall bekommen, wenn er diesen Kerl sah. Aber er war es. Bens wunderschöner Mann.
Alle Gedanken an Happy Baker und die verbrannten Muffins verflüchtigten sich und ein dämliches Grinsen breitete sich auf Bens Gesicht aus. »Oh. Hallo«, sagte er atemlos, als der Mann an die Theke kam.
Ben schätzte den Mann auf Mitte bis Ende dreißig. Er hatte weiche, braune Haare und waldgrüne Augen und war mittelgroß, also immer noch größer als Ben selbst. Da es jetzt Herbst war und der Mann eine warme Jacke trug, waren die Muskeln nicht zu sehen, die sich normalerweise unter seinen ordentlich gebügelten Hemden abzeichneten.
Ben vermutete, dass der Mann als Manager für eine IT-Firma oder ein ähnliches Unternehmen arbeitete. Vielleicht war er auch der Chef einer Firma, die in Pine Cove oder einer der Nachbarstädte ansässig war. Er sah jedenfalls aus, als hätte er einen gut bezahlten Job und müsste sich um Geld keine Gedanken machen. Im Gegensatz zu Ben selbst.
Aber das spielte alles keine Rolle.
Im Gegensatz dazu, wie seine Augen jedes Mal glänzten, wenn er Ben sah.
Ben war davon überzeugt, dass es keine Einbildung war. Die Augen des Mannes wurden jedes Mal ein kleines bisschen größer und kleine Lachfalten wurden sichtbar.
Es war nur eine dumme Verknalltheit, aber es erhellte Bens Tage, wann immer der Mann den Laden betrat. »Wie geht's?«, fragte er, stolz, nicht ins Stottern geraten zu sein.
Und – ja – der Mann lächelte strahlend, als er die Hände auf die Glastheke legte, in der die Köstlichkeiten der Bäckerei aufgereiht waren. Kein Ehering. Das musste nichts zu bedeuten haben, aber in Ben keimte trotzdem ein kleiner, dummer Hoffnungsschimmer auf.
»Prima, danke«, sagte der Mann fröhlich. »Heute darf ich mogeln, also will ich mich zum Frühstück verwöhnen. Mit etwas ganz Verbotenem.«
Ich gebe dir gerne etwas Verbotenes, dachte Ben, den Kopf voller sündhafter Fantasien. Ein so eleganter, kultivierter Mann würde bestimmt keinen Gedanken an einen ungebildeten Twink wie Ben verschwenden. Aber Träume waren schließlich erlaubt, nicht wahr?
Oder Fantasien. Sehr lebhafte sogar.
»Entschuldigung?«, grummelte von hinten ungeduldig der Anzugträger.
Ben lächelte, aber er ließ seinen Mann nicht aus den Augen. »Ich bin gleich für Sie da, mein Herr.« So gerne Ben auch hinter der Theke arbeitete – nicht jeder Kunde war ein Vergnügen. Der Anzugträger dachte vermutlich, er könnte sich vordrängen, weil er Geld hatte. Ob er nun einen Cupcake kaufen wollte oder gleich den ganzen Laden.
Bens Mann schmunzelte und Ben fragte sich, ob er wohl durchschaut hatte, wie falsch sein Lächeln war.
»Was kann ich heute für Sie tun?«, fragte er und hatte den Kerl von Happy Baker schon fast wieder vergessen.
Sein Mann leckte sich über die Lippen und Ben hätte beinahe laut gestöhnt. Der Mann sah zum Anbeißen aus in seinem gut sitzenden, schwarzen Anzug und dem weißen Hemd. Der oberste Knopf stand offen und er trug keinen Schlips, sodass unten am Hals einige Brusthaare zwischen dem Stoff hervorlugten.
Ben konnte nicht anders. Er stellte sich vor, mit der Zunge über diese süße Stelle zu fahren.
»Ich dachte an einen Muffin«, sagte Bens Mann und schaute in die Auslage.
Ben seufzte. »Die Muffins hatten heute Früh einen bedauerlichen Unfall.«
»Entschuldigung, mein Herr?«
»Ich bediene gerade einen anderen Kunden, mein Herr«, schoss Ben zurück.
Dieses Mal lachte sein Mann laut. »Oh, das ist aber schade. Was würdest du mir stattdessen empfehlen?«
»Hmm«, meinte Ben, der diese Unterhaltung noch nicht beenden wollte. Die Tage, an denen er und sein Mann mehr als eine höfliche Begrüßung teilten, liebte er besonders. »Vielleicht einen Plunder mit Kirschen und Mandeln?«
»Entschuldigen Sie. Ich bedauere zutiefst, meine Dame.« Ben stellte verärgert fest, dass sich der Anzugträger mit seinen breiten Schultern an den wartenden Kunden vorbei nach vorne schob. Und er sprach mit einem britischen Akzent. Einem sehr noblen britischen Akzent sogar.
Normalerweise hätte sich Ben darüber gefreut. Er hatte noch nie mit einem Briten gesprochen und viele seiner Lieblingsbücher spielten in Großbritannien. Aber dieser Mann glich keinem der Helden aus seiner Kindheit. Er sah eher aus wie der Bösewicht aus der modernen Variante eines Romans von Charles Dickens.
»Bitte stellen Sie sich an«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. Er ärgerte sich über das unhöfliche Verhalten des Mannes. Außerdem wollte er sich die kostbaren Minuten mit seinem Märchenprinzen nicht nehmen lassen. »Wenn Sie bitte…«
»Mr. Turner«, schnappte der Anzugträger ihn an und knallte schnaubend einen weißen Umschlag auf die Theke. »Ich muss mit Ihnen reden.«
Ben fuhr eine Gänsehaut über den Rücken. Er schaute von seinem Mann erst auf die anderen Kunden, dann auf den Anzugträger. »Woher kennen Sie meinen Namen?« Happy Baker kannte Lars, aber nicht ihn.
»Ich bin nicht hier, um ein Croissant zu kaufen«, fauchte der Mann ihn an und rückte seinen lächerlichen braun-beige gestreiften Schlips gerade. Dann schob er Ben den Umschlag zu und hielt sich mit beiden Händen an seiner teuren Ledermappe fest. »Mein Name ist Mr. Cabot und ich bin hier im Auftrag von Aldridge Harding Carmichael.«
»AHC?«, sagte Bens Mann mit offensichtlichem Interesse. »Was will denn eine der besten Anwaltskanzleien Londons in einer Kleinstadt der amerikanischen Nordwestküste, Mr. Cabot?« Wow. Woher kannte sein Mann sich so gut aus? Und… war Ben jetzt endgültig verrückt geworden oder hatte sein Mann sich schützend zwischen ihn und Mr. Cabot geschoben?
»Gibt es… ein Problem?« Ben spürte die Blicke, die auf ihn gerichtet waren. »Ist es… eine Vorladung?«
Glücklicherweise hatte Lars die Aufregung bemerkt und kam aus der Backstube nach vorne. »Okay, wer ist als Nächstes an der Reihe? Was kann ich für Sie tun?«, fragte er und winkte die Kunden nach links, während Ben einige Schritte nach rechts ging.
Mr. Cabot und Bens Mann folgten ihm.
»Nein, es ist keine Vorladung.« Mr. Cabot schob den Umschlag mit dem Zeigefinger nach rechts zu Ben, schniefte und holte ein Taschentuch aus der Innentasche seiner Jacke, um sich die Nase abzutupfen. »Ich bin beauftragt, diese Dokumente an Mr. Turner persönlich auszuhändigen«, sagte er knapp, ohne Bens Mann eines Blickes zu würdigen, obwohl seine Erklärung offensichtlich für ihn gedacht war. »Wenn Sie uns bitte entschuldigen würden, Mr…?«
Bens Mann zog die Augenbrauen hoch. »Mr. Turner hat das Recht, seinen persönlichen Anwalt hinzuzuziehen, wenn er mit einem Repräsentanten des Magic Circle spricht. Das ist die Elitegruppe der Anwaltschaft in London«, erklärte er Ben augenzwinkernd und sah dann wieder Mr. Cabot an. »Ihr seid bekannt für eure spezielle Art.«
Es kam Ben vor, als wäre Mr. Cabot gerade beleidigt worden, aber er war zu aufgeregt, um sich darüber Gedanken zu machen.
»Wenn Mr. Turner über einen Rechtsvertreter verfügt…«, fing Mr. Cabot an.
Bens Mann ignorierte Mr. Cabots indigniertes Gehabe. »Ben«, sagte er und drehte sich zu ihm um. »Hast du einen Dollar?«
»Einen Dollar?«, wiederholte Ben verwirrt und zog einen Dollar aus der Tasche. »Sicher. Aber warum…?«
Sein Mann nahm den Geldschein zwischen die Finger und sah Ben an. »Darf ich?«, fragte er leise. Ben lief ein Schauer über den Rücken. Guter Gott, er konnte sich genau vorstellen, wie sein Mann diese Frage unter intimeren Umständen stellte…
Es war lächerlich. Reiß dich zusammen, ermahnte er sich.
Er nickte und überließ dem Mann den Geldschein. Sein Mann lächelte strahlend, faltete den Schein sorgfältig zusammen und steckte ihn in die Tasche. Dann reichte er Mr. Cabot die Hand. »Jetzt hat er einen Rechtsvertreter! Elias Solomon, Pine Cove Rechtsberatung. Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Ben hätte sich fast an seiner eigenen Spucke verschluckt. Sein geheimer Schwarm war Anwalt. Und er war sofort zu Bens Verteidigung gekommen, ohne erst darum gebeten werden zu müssen. Ben sollte sich erkundigen, worum es bei dieser Angelegenheit überhaupt ging, aber er konnte nur an eines denken. Der Mann war so verdammt sexy. Er – Elias – war schon immer beeindruckend gewesen, aber… Rechtsanwalt? Es war unglaublich. Bens Schwanz wurde allein bei dem Gedanken hart.
Aber damit durfte er sich jetzt nicht aufhalten. Mr. Cabot drückte Elias die Hand und machte ein Gesicht dabei, als hätte er gerade in eine Zitrone gebissen. Dann wandte er sich wieder an Ben. »Mr. Turner«, sagte er mit kalter, geschliffener Stimme. »Ich bin hier im Namen der verstorbenen Anne Grimaldi de Loutherbergh, CBE. Aldridge Harding Carmichael ist mit der Testamentsvollstreckung der Verstorbenen beauftragt.« Er schürzte die Lippen. »Und mit der Anfechtung des Testaments.«
Ben wedelte blinzelnd mit den Händen. Er musste erst verstehen, was sich hinter den Begriffen verbarg, die der Mann gerade benutzt hatte. »Wie bitte? Was?« Er hatte vor Aufregung einen Kloß im Hals. »Von wem reden Sie eigentlich? Ich kenne niemanden mit diesem Namen und… was immer CBE auch heißt. Testament? Soll das heißen, ich habe geerbt?«
Mr. Cabot sah ihn abschätzend an und tupfte sich wieder mit dem Taschentuch die Nase. Es war, als würde der Duft der Backwaren seinen Geruchssinn beleidigen.
»Die Details werden in den Dokumenten erläutert, die sich in diesem Umschlag befinden«, näselte er. »Aber – und wie Sie bereits so treffend festgestellt haben – Sie kannten Ihre Großmutter nicht. Ihrer überlebenden Familie war Ihre Existenz ebenfalls unbekannt. Sie haben das Testament bereits angefochten. Ihre Anwesenheit ist weder in London noch in Wiltshire erforderlich, wo sich das Anwesen der Familie befindet. Ich bin damit beauftragt, Sie über den Stand der Dinge zu informieren und Ihnen mitzuteilen, dass Ihr persönliches Erscheinen nicht vonnöten ist.«
Elias blinzelte. »Sie sind den ganzen Weg nach Pine Cove gekommen, um Ben persönlich zu informieren«, sagte er stirnrunzelnd. »Und dann sagen Sie ihm, er bräuchte sich nicht darum zu kümmern? Ist das eine Drohung, Mr. Cabot?«
Mr. Cabot lächelte Elias boshaft an. »Habe ich etwa gesagt, es wäre eine Drohung, Mr. Solomon?«
Ben lief es eiskalt über den Rücken. Mr. Cabot war nicht nur groß und breit, er hatte auch einen Blick in den leicht blutunterlaufenen Augen, bei dem Ben richtig unheimlich wurde. Sein Herz pochte wie wild. Er hatte eine verstorbene Verwandte, die ihm etwas vererbt hatte, aber ihre Familie wollte nicht, dass er das Erbe bekam?
Einen Moment… Wenn es ihre Familie war, dann war es doch auch seine, oder nicht? Er hatte eine Familie, von der er bisher nichts gewusst hatte? »Wie sind wir denn verwandt?«
»Sie war die Mutter Ihres Großvaters. Er war ihr ältester Sohn. Der Vater Ihres Vaters.«
»Grandpa?«, fragte Ben mit belegter Stimme und griff nach dem Umschlag. Großvater Thomas war gestorben, als Ben erst sieben Jahre alt war. Er hatte Ben beigebracht, wie man Biskuitkuchen backte. Dad hatte ihm später erzählt, dass Grandpa aus England eingewandert wäre, ihm aber nie gesagt hätte, warum er seine Heimat verlassen hatte.
Elias kam einen kleinen Schritt näher zu Ben und sah Mr. Cabot an. »Wenn Mr. Turner der rechtmäßige Urenkel von Mrs. Grimaldi de Loutherbergh ist, warum wird ihr Testament dann angefochten?«
Mr. Cabots Nasenflügel bebten. »Ich bin nicht befugt, Sie über die rechtlichen Angelegenheiten der Familie – meiner Klienten – in Kenntnis zu setzen, Mr. Solomon. Aber die Tatsache, dass Ihr Klient bis vor wenigen Minuten nichts über ihre Existenz wusste, spricht für sich selbst. Meinen Sie nicht auch? Die Grimaldi de Loutherberghs werden nicht zulassen, dass ihr Anwesen in Kleinteile aufgesplittert wird und sie es mit einem… Bäcker teilen müssen.« Er rollte mit seinen breiten Schultern.
Ben starrte ihn sprachlos an.
Der Mann hatte etwas Bedrohliches. Es war nicht nur seine feindselige Sprache. Ben war froh, dass er nicht allein mit ihm konfrontiert war, sondern Elias gerade im richtigen Moment in den Laden gekommen war, um ihm zur Seite zu stehen.
Aber so einschüchternd dieser Mr. Cabot auch war, in Ben regte sich Empörung über sein unverschämtes Verhalten. Wie konnte dieser Kerl so mit ihm reden? Ben nahm seinen ganzen Mut zusammen und sah ihn direkt an.
»Hören Sie«, sagte er mit fester Stimme. »Ich habe nicht um dieses Erbe oder was auch immer gebeten. Aber ich wüsste es sehr zu schätzen, wenn Sie mich mit etwas mehr Respekt behandeln.«
Mr. Cabot lachte, aber sein Lachen erreichte nicht die Augen. »Ich habe ihnen mitgeteilt, wozu ich von der Kanzlei und den Grimaldi de Loutherberghs beauftragt wurde, Mr. Turner. Mein Flug geht in zwei Stunden. Für mich ist diese Angelegenheit erledigt. Wir sind gesetzlich verpflichtet, Sie darüber in Kenntnis zu setzen, dass Ihr Name in dem Testament erwähnt wird. Aber Sie werden weder Wiltshire noch irgendeinen anderen Teil Englands betreten. Haben Sie das verstanden?«
»Ich gehe davon aus, dass Sie das ebenfalls nicht als Drohung gemeint haben, Mr. Cabot?«, sagte Elias mit hochgezogener Augenbraue. Seine Mundwinkel zuckten, aber sein Lächeln war eiskalt.
Mr. Cabot warf erst ihm, dann Ben einen finsteren Blick zu und drehte sich auf dem Absatz um.
Es war, als würde sich vor ihm das Rote Meer teilen. Rechts und links sprangen ihm Kunden aus dem Weg, als er zur Tür lief. Sie sahen ihm schweigend nach, wie er den Laden verließ. Die Türglocke klingelte und nachdem er verschwunden war, fingen die Leute wieder zu reden an. Lars machte ein großes Aufheben darum, einen weiteren Mitarbeiter hinter die Theke zu holen, um die wartenden Kunden zu bedienen.
Mist. Was war da gerade passiert? Warum kam Ben sich vor, als wäre er blöd angemacht worden? Vermutlich stimmte das sogar. Aber warum hasste dieser Mr. Cabot ihn so? Wie kam es, dass Ben eine Urgroßmutter hatte, von der er heute zum ersten Mal hörte? Und warum hatte sie ihn in ihrem Testament bedacht? Warum wollten die anderen Mitglieder ihrer – seiner – Familie nicht, dass er sein Erbe antrat?
Ben fiel erst auf, dass er zitterte, als Lars ihm den Arm um die Schultern legte. Er drückte Ben eine Tasse Kaffee mit Zucker in die freie Hand – in der anderen hielt Ben noch den Umschlag – und sah ihn mitfühlend an. »Wir schaffen das hier, Ben. Lies dir jetzt erst den Brief durch, ja?«
Ben hob den Kopf und schaute sich im Laden um. Die wartenden Kunden sahen ihn mit einer Mischung aus Neugier und Sympathie an.
Bis auf seinen Mann. Elias lehnte sich über die Theke, um Ben näher zu sein.
Obwohl Ben noch unter Schock stand, roch er das frische Aftershave von Elias, das ihn ans Meer erinnerte. Sein Schwanz pochte.
Platz, Junge!
»Es tut mir leid, dass ich mich einfach eingemischt habe«, sagte Elias und blinzelte mit seinen grünen Augen. »Ich habe schon oft erlebt, wie Anwälte Menschen eingeschüchtert haben, um sie unter Druck zu setzen. Bei mir haben sofort sämtliche Alarmglocken geklingelt.«
Ben ging um die Theke herum zu ihm. »Bitte«, stammelte er. »Du musst dich nicht entschuldigen. Du warst wunderbar! Hm. Bist du wirklich…?«
»Ein Anwalt?« Elias schmunzelte und führte ihn an einen der leeren Tische. Glücklicherweise war es noch zu früh, um viele Gäste zu haben. »Ja, das bin ich. Ich habe über zehn Jahre für Mansell und Collier in Seattle gearbeitet. Jetzt praktiziere ich hier in der Stadt.« Ben setzte sich und Elias hob beide Hände. »Sorry. Ich dachte, du willst vielleicht Hilfe mit den Unterlagen. Aber wenn du noch Zeit brauchst…«
»N-nein, bitte«, stammelte Ben. Guter Gott, es wäre wirklich nicht schlecht, ein vernünftiges Wort über die Lippen zu bringen. »Ich wäre über professionellen Rat sehr froh. Ich… oh…« Er sah sprachlos zu, wie Lars eine zweite Tasse Kaffee und zwei Plunder an ihren Tisch brachte.
»Mr. Solomon wird sich um alles kümmern, Ben«, sagte er ernst und lief wieder hinter die Theke zurück.
Ben hatte das Gefühl, als hätten sich seine Augenbrauen hinter den Haaransatz zurückgezogen. Konnte dieser Tag denn noch verrückter werden? Erst fiel dieser unhöfliche Brite über ihn her und dann… hatte er plötzlich ein Geschäftsfrühstück mit seinem heimlichen Schwarm.
Am besten, er machte einfach mit.
»Ich habe Lars kürzlich bei einigen juristischen Problemen geholfen«, sagte Elias verlegen. Er setzte sich, trank einen Schluck Kaffee und zeigte auf die Plunder. Ben fragte sich, warum es ihm so peinlich war, das einzugestehen. So, wie Lars es eben gesagt hatte, musste Elias ihm eine große Hilfe gewesen sein.
Ben sah zu, wie Elias mit dem Daumen über den Rand der Kaffeetasse rieb. Es fiel ihm schwer, sich nicht vorzustellen, wie sich dieser Daumen an seinem Nippel anfühlen würde. Verdammt, das grenzte schon langsam an Besessenheit. Normalerweise hätte es ihn nicht gestört, aber die Lage war ernst und er musste sich konzentrieren.
Lars musste sogar wissen, wie Elias seinen Kaffee trank. Der Kaffee war ohne Zucker und mit fettarmer Milch und er schien Elias zu schmecken. Bens Kaffee enthielt drei Zuckerwürfel und einen großen Schuss Sahne, weil er immer noch ein Kind war und nur darauf wartete, dass ihm die Zähne ausfielen.
»Ich habe von dieser Urgroßmutter wirklich noch nie gehört«, sagte er leise.
Elias lachte. Das machte er oft. Es war ein angenehmes, tröstliches Lachen. »Das habe ich gemerkt. Deine Familie hat sie nie erwähnt?«
Ben schüttelte den Kopf und spielte mit der Ecke des Umschlags. »Meine Eltern waren Einzelkinder und die Großeltern, die ich noch hatte, sind alle vor meinem zehnten Geburtstag gestorben.« Er lächelte traurig. »Ich bin auch ein Einzelkind. Ich habe als Kind immer von einer großen Familie geträumt, die irgendwo auf mich wartet. Als ich älter wurde, habe ich diesen Traum vergessen.« Bis jetzt.
»Nun«, meinte Elias und stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch. »Vielleicht ist es ja doch kein Tagtraum. Mrs. Grimaldi de Loutherbergh wusste offensichtlich von deiner Existenz. Willst du jetzt den Umschlag öffnen und nachsehen, was er enthält?«
Ben fuhr sich nachdenklich mit der Zunge über die Lippen. Er war sich nicht sicher, ob er es wissen wollte. Mr. Cabot hatte gesagt, seine entfremdete Familie wäre wütend über das Testament und hätte es schon angefochten. Es war merkwürdig. Ben hatte sich daran gewöhnt, dass es nur ihn und seine Eltern gab… Hatte er auch Großonkel und Großtanten? Cousins? Wie viele Verwandte gab es, von denen er noch nie gehört hatte?
Verdammt. All die Feiertage, an denen er sich undankbar gefühlt hatte, weil er einsam war. Dabei hatte er Verwandte. Er hatte immer versucht, nicht unzufrieden darüber zu sein, dass er nur seine Eltern hatte. Wie viele andere schwule Kinder wurden von ihren Eltern verstoßen? Und doch war er oft eifersüchtig geworden, wenn er im Fernsehen eine große Familienfeier sah, besonders zu Thanksgiving und Weihnachten. Oder wenn solche Bilder in den Facebook-Accounts seiner Freunde auftauchten. Würde sich das jetzt ändern?
Es spielte keine Rolle, ob sie ihn schon so sehr hassten, wie Mr. Cabot behauptet hatte. Ben war neugierig geworden. Was hatte ihm seine Urgroßmutter hinterlassen? Wer waren diese Menschen, von denen er bis heute noch nie gehört hatte?
Es gab nur einen Weg, mehr darüber herauszufinden.
Er nickte Elias zu und riss vorsichtig den Umschlag auf. Es war ein ganz gewöhnlicher, weißer Umschlag ohne Siegel oder so. Das Logo der Rechtsanwaltskanzlei in London war in das Papier eingeprägt.
Der Umschlag enthielt einige Dokumente und einen Rückumschlag. Ben blätterte die Papiere durch, um herauszufinden, worum es ging. Aber die Worte schienen keinen Sinn zu machen. Der Juristenjargon war ihm zu fremd. Außerdem war die Schrift so unscharf, als wären die Papiere zehn oder zwanzig Mal kopiert worden. Ben biss sich auf die Lippen. Die Schrift verschwamm vor seinen Augen. Der Text hätte genauso gut in Elbisch geschrieben sein können.
Es war eine demütigende Erfahrung. Er hatte sich mit solchen Dingen noch nie befassen müssen und wusste nicht, was jetzt von ihm erwartet wurde. Studierte Menschen konnten mit diesen Hunderten von Formularen umgehen, aber Ben war vollkommen ratlos.
»Ich… ich weiß nicht…«, sagte er. Das Stammeln wurde langsam zu einer Tradition. »Es ist so… äh… ich kann nicht…«
Elias drückte ihn am Handgelenk. Ben schaute auf und sah ihn zu seiner Überraschung freundlich lächeln. Elias' Hand fühlte sich warm und beruhigend an, aber leider zog er sie gleich wieder weg, nachdem er Bens Aufmerksamkeit erregt hatte.
»Soll ich mir die Unterlagen ansehen?« Er fragte, ohne zu drängen.
Ben fühlte sich sofort besser und reichte ihm die Dokumente. Er brach ein Stück Plunder ab und beobachtete, wie Elias die Papiere überflog.
Die grünen Augen wurden größer. Und größer.
»Ben?«, sagte er langsam. Ben lief ein Kribbeln über die Haut, als Elias seinen Namen sagte. Vor allem aber wollte er endlich wissen, was in diesem Testament stand.
»Elias?«
Elias rieb sich kopfschüttelnd die Nase. Seine Augen waren immer noch tellergroß. »Verstehst du, was in diesen Papieren steht?«
»Nein, nicht ein einziges Wort«, antwortete Ben.
Elias leckte sich über die Lippen. »Hier steht, dass dir deine Urgroßmutter ihren gesamten Besitz vererbt hat. Das Anwesen der Familie, das Land und die Apfelmostproduktion, die sie schon seit einigen Jahrzehnten betreiben.«
Ben musste sich an dem kleinen Tisch festhalten, so schockiert war er. Er wünschte, er hätte keinen Kaffee getrunken, weil sein Magen zu rumoren anfing. »Was?«, flüsterte er. »D-das hört sich gewaltig an.«
Elias sah ihm in die Augen. »Wenn ich die britischen Pfund grob in Dollar umrechne, dann… Ben, du bist im Moment ungefähr fünfundsechzig Millionen Dollar wert.«
Ben starrte ihn an.
Und fing an zu lachen.
Er fiel vom Stuhl vor Lachen, schlug auf dem Holzfußboden auf und verlor das Bewusstsein.