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Kapitel 5
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»Nach London also, hä?«
Ben saß auf dem Rücksitz des blauen Ford Mustang und schaute den Fahrer durch den Rückspiegel an. Sie hatten einen Mietwagen genommen, um zum SeaTac Flughafen zu fahren, und Ben wollte während der Fahrt seine Social-Media-Accounts aktualisieren, doch der Fahrer, den Emery ihnen empfohlen hatte, schwatzte offensichtlich gerne.
»Ist euch schon aufgefallen, dass London die Stadt ist, die in den neueren Filmen am häufigsten vernichtet wird?«, fragte der Fahrer – ein Typ namens Kamran – kopfschüttelnd. »Es ist fast, als hätte Hollywood keine Lust mehr, ständig nur das Weiße Haus oder das Empire State Building in die Luft fliegen zu lassen. Jetzt sind es der Big Ben und die Tower Bridge. So wird die London Bridge nämlich oft genannt, wisst ihr? Aber es ist gar nicht die Tower Bridge. Die richtige Tower Bridge ist die, die sich für die Boote teilt, die durchfahren wollen.« Er salutierte zwinkernd und Ben wusste nicht, was er darauf erwidern sollte.
»Ja, die London Bridge ist nur eine ganz normale alte Brücke«, sagte Elias und rettete Ben damit aus seiner Verlegenheit.
Kamran zog die Augenbrauen hoch. Er hatte kupferfarbene Haut, einen kurzen Bart und eine Hipster-Brille auf der Nase. Obwohl er ein attraktiver Mann war, kam er Ben anstrengend vor. Er wusste nicht genau, wie Kamran und Emery sich kennengelernt hatten, aber Emery hatte ihm schon vor Monaten Kamrans Visitenkarte gegeben und ihm das Versprechen abgenommen, immer zuerst bei Kamran anzurufen, wenn er ein Uber brauchte.
»Oh, du warst schon in London?«, fragte Kamran aufgeregt.
Ein Anflug von Traurigkeit legte sich über Elias' Gesicht. Er saß hinten im Wagen neben Ben und wenn Ben gewollt hätte, er hätte ihm die Hand drücken können. Aber natürlich machte er das nicht.
»Nein«, sagte Elias. »Ich wollte die Stadt schon immer besuchen, aber ich bezweifle, dass wir die Zeit dazu finden. Wir fahren nach unserer Ankunft direkt nach Wiltshire und haben kaum Gelegenheit zum Sightseeing.«
»Ah«, sagte Kamran und winkte ab, während er die Spur wechselte. Sein Fahrstil war ziemlich gewagt, aber er schien ein sehr guter Fahrer zu sein, der das Auto jederzeit unter Kontrolle hatte. Ben hielt sich trotzdem am Griff fest. »Ich wette, ihr findet etwas Zeit. Ihr könnt doch nicht den ganzen Weg über den Atlantik fliegen, ohne London zu besuchen! Ich wollte schon immer den London Dungeon sehen. Er ist eine Mischung aus Museum und Gruselkabinett. Sie zeigen lauter verrückte Methoden, Menschen umzubringen. Total schräg, ja?«
Kamran kicherte und Ben drehte sich der Magen um, wenn er nur daran dachte. Er atmete tief durch, um das Schwindelgefühl zu bekämpfen, das ihn überkam.
Zu seinem Schock griff Elias nach seiner Hand und drückte sie – so, wie Ben es sich bei ihm nicht getraut hatte. Es dauerte nur eine Sekunde, aber Bens Herz schlug einen Purzelbaum. Elias wollte ihn vermutlich nur beruhigen, damit er sich nicht übergeben musste. Trotzdem – Ben war ihm dankbar dafür.
Elias lächelte ihm verlegen zu und wandte sich dann an Kamran. »Es ist mehr eine Geschäftsreise. Aber wenn wir doch noch etwas Zeit finden, machen wir einen kurzen Besuch in der Stadt.«
»Schön«, sagte Kamran nickend und drehte an der Musikanlage. Ben zuckte zusammen, als das Auto vor ihnen plötzlich abbremste, aber Kamran wich geschickt aus, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. »Emery meinte, du besuchst deine Familie.« Er wackelte ihnen durch den Rückspiegel mit den Augenbrauen zu. »Wer wird welchen Eltern vorgestellt?«
»Was?«, stammelte Ben erschrocken. Hatte Emery ihn verraten? Ben hätte ihm am liebsten den Hals umgedreht.
»Oh nein«, sagte Elias hastig und schüttelte den Kopf. »Wir sind nur Freunde. Ich reise gewissermaßen als Bens Rechtsberater mit nach England.«
»Ja. Es ist eine recht bizarre Aneinanderreihung von Ereignissen«, fügte Ben hinzu und wurde rot. »Ich… ich weiß nicht, wie Emery auf die Idee kommt, äh…«
Kamran zog eine Augenbraue hoch. »Mein Fehler«, sagte er und seine Mundwinkel zuckten. »Ich muss ihn missverstanden haben.«
Benn brummte und schaute einige Minuten stur aus dem Fenster, bis er sich nicht mehr wie ein menschlicher Lampion fühlte. Verdammter Emery. Ben hatte nicht über seine dumme Schwärmerei reden wollen, aber der Absinth hatte seinen guten Vorsatz boykottiert.
Nein, Emery würde ihn niemals so hintergehen. Kamran hatte wahrscheinlich zwischen den Zeilen gelesen und seine eigenen Schlussfolgerungen gezogen. Und dass diese Schlussfolgerungen irgendwie wahr waren, musste nichts bedeuten.
Als er einen Seitenblick auf Elias riskierte, war der mit seinem Handy beschäftigt, schaute aber lächelnd auf, bevor Ben den Blick wieder abwenden konnte. Bens Verlegenheit ließ sofort nach. Nicht viel, aber etwas. Mist. Er musste diese verqueren Gedanken abschütteln. Er hatte sich vor dieser Reise fest vorgenommen, dass nichts passieren würde. Es war also nur logisch, dass er auch seine Gefühle für Elias unter der Decke halten musste.
Elias erleichterte es ihm insofern, als er während der restlichen Fahrt nicht mehr nach Bens Hand griff. Sie kribbelte immer noch leicht, wo Elias sie berührt hatte. Was würde er nur darum geben, hier zu sitzen und Elias' Hand halten zu können wie ein richtiges Paar. Aber das war dumm. Dumm und kindisch. Elias war ein gebildeter Mann und nicht an Ben interessiert. Schön war es trotzdem gewesen – wenn auch nur für einen kurzen Augenblick.
Die Situation war so fremd und neu für Ben, dass er sich nur noch unerfahrener vorkam als sonst. Es war Nachmittag und der Flughafen war voller Menschen. Überall herrschte hektische Betriebsamkeit. Ben stand auf dem Bürgersteig und drehte sich langsam um. Der Gestank der Abgase lag schwer in der kühlen Luft. Er achtete nicht auf Kamran, der ihr Gepäck aus dem Kofferraum holte und die Klappe zuschlug. Erst der laute Knall brachte Ben wieder in die Wirklichkeit zurück.
»Also dann…«, sagte Kamran, während Elias ihm einige Geldscheine reichte. »Viel Glück und gute Reise, ihr beiden Spinner. Ich hole euch hier in zwei Wochen wieder ab. Schickt mir eine kurze SMS, falls sich eure Ankunftszeit ändert.«
Er salutierte, sprang wieder in seinen Wagen und der Motor jaulte so laut auf, dass einige Passanten erschrocken stehen blieben und ihm nachsahen, als er davonbrauste.
Jetzt waren Ben und Elias allein.
Natürlich waren noch Hunderte anderer Menschen hier, aber Ben wurde sich zum ersten Mal der Tatsache bewusst, dass sie die nächsten beiden Wochen ständig aneinanderkleben würden. Hoffentlich hatten sie mit dieser Reise nicht einen riesigen Fehler gemacht. Als er mit Emery gereist war, hatte er sich darüber keine Sorgen machen müssen. Emery war ein glitzerndes Energiebündel, immer beschäftigt und ruhelos. Aber Ben und Elias… sie waren beide sehr ruhige Menschen. Ben hoffte, dass sie die Unbeholfenheit bald abschütteln konnten, die während der Fahrt zwischen ihnen geherrscht hatte.
Er musste nicht lange warten, bis etwas passierte und ihn ablenkte.
»Oh, Mist«, murmelte er, als er am Check-in nach seinem Pass gefragt wurde. Er bückte sich, um sein Handgepäck zu durchwühlen. Ben wusste noch genau, dass er ihn beinahe vergessen hätte. Seine Mom hatte ihm den Pass nachgereicht, aber er konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, wohin er das verdammte Ding gesteckt hatte.
Sein Gesicht brannte feuerrot. Elias beobachtete ihn. Nein, er würde nicht weinen. Nein! Wo konnte dieser dämliche Pass nur stecken?
»Hey«, sagte Elias und berührte ihn an der Schulter. Ben schaute auf. Elias hatte die Augenbrauen hochgezogen, schien aber nicht böse zu sen. »Hast du schon in deiner Jackentasche nachgesehen?«
Elias hatte recht. Er hatte es kaum gesagt, da fiel Ben ein, dass er den Pass in die Brusttasche seiner Jacke gesteckt hatte. Gott sei Dank. »Sorry, Sir«, sagte er verlegen und reichte ihn dem Mann hinterm Schalter. Dann packte er sein Handgepäck wieder ein.
Ben erwartete, dass Elias sich über ihn ärgern würde, aber als er sich vom Boden aufrappelte, gab Elias ihm nur ein Daumen hoch. Die Anspannung in Bens Brust löste sich wieder.
»Danke«, sagte er.
»Kein Problem«, sagte Elias schulterzuckend. »Ich bin schließlich hier, um mich um dich zu kümmern.«
Ben wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Er kam sich bemuttert vor und seufzte innerlich, weil er es lieber in einem anderen Kontext gehört hätte. Als Freund und Partner. Aber das war lächerlich.
Sie kamen relativ problemlos durch den Sicherheitscheck. Ben hatte vergessen, eine Wasserflasche aus der Tasche zu nehmen. Die Flasche fiel erst auf, als die Tasche durchleuchtet wurde, wurde ausgekippt und ihm leer zurückgegeben.
»Mann, die Fliegerei ist anscheinend wirklich nicht mein Ding«, sagte er lachend. Elias zuckte nur wieder mit den Schultern und grinste ihn an.
»Du hast Glück«, meinte er. »Je öfter man fliegt, umso langweiliger wird es. Ich bin froh, dass ich mit dir fliege. Es ist eine schöne Abwechslung, nicht allein unterwegs zu sein.«
Wahrscheinlich war es nur Einbildung, aber es kam Ben so vor, als wäre er nicht der Einzige, dem ein Schauer über den Rücken lief. Elias meinte vermutlich nur, dass es weniger langweilig war als seine normalen Geschäftsreisen. Das war alles. Es musste nichts mit Ben zu tun haben.
Oder?
Ben schüttelte den Gedanken ab. Hier herrschte so viel Betrieb, dass es leicht war, andere Dinge zu finden, mit denen er sich beschäftigen konnte.
Sie hatten schon sehr früh einchecken müssen, wie es für Transatlantikflüge vorgeschrieben war. Dadurch hatten sie jetzt noch viel Zeit totzuschlagen, bevor sie an Bord gehen konnten. Elias hatte das Laptop aufgeklappt und ging seine letzte Geschäftspost durch. Ben wollte nicht an ihm kleben wie ein liebeskrankes Hündchen. Also machte er sich zu einem Schaufensterbummel auf und besorgte ihnen zwei Becher Kaffee, den sie mit an Bord nehmen konnten. Er gab sich zwar Mühe, Elias nicht allzu offensichtlich anzuhimmeln, fühlte sich aber trotzdem geschmeichelt, als Elias sich so offensichtlich darüber freute, dass Ben sich noch daran erinnern konnte, wie er seinen Kaffee trank.
Elias hatte ihm während des Essens schon gesagt, dass er aus beruflichen Gründen fliegen musste, auch wenn es sich nur um nationale Flüge handelte. So hatte er die vielen Flugmeilen angespart. Einer seiner Klienten war in Salt Lake City ansässig, ein anderer in Sacramento. Außerdem nahm er oft an Konferenzen in Las Vegas und Portland teil. Ben war bisher nur ein einziges Mal geflogen. Das war, als Emery ihn nach Las Vegas eingeladen hatte. Sie waren damals zwar erster Klasse geflogen, aber mit dem, was ihn nach dem Betreten des Flugzeugs in der Businessclass erwartete, hatte Ben nicht gerechnet.
»Verdammte Scheiße«, flüsterte er, als er die kleine Tüte in Empfang nahm, die Begrüßungsgeschenke, Kissen und richtige Kopfhörer enthielt. Vor seinem Sitz war so viel Platz, dass er bequem mit den Beinen wackeln konnte. Er ließ sich seufzend fallen und riss die Tüte auf wie ein kleines Kind seine Weihnachtsgeschenke. »Elias, das ist wunderbar!«
Elias nahm ebenfalls Platz. Zwischen ihren Sitzen befand sich ein schmaler Gang. »Es ist ein langer Flug. Ich dachte mir, wir sollten so bequem wie möglich reisen«, sagte er verlegen.
Natürlich wollte Elias so bequem wie möglich reisen. Mit Ben hatte das nichts zu tun. Ben hatte nur das Glück, mit Elias unterwegs zu sein und dadurch ebenfalls davon zu profitieren. Es war nicht so, dass Elias ihm damit einen Gefallen tun wollte oder so. Trotzdem kam er sich vor wie ein Prinz, als er aufgeregt in seiner Geschenktüte wühlte, wo er noch eine Augenmaske, Socken, eine Zahnbürste mit einer kleinen Tube Zahnpasta, Ohrstöpsel und andere Kleinigkeiten fand.
»Champagner, Sir?« Ben schaute auf. Eine Flugbegleiterin stand lächelnd vor ihm und hielt ein Glas Champagner in der Hand.
»Ähm…«, krächzte er unsicher.
Elias zwinkerte ihm zu. »Das gehört dazu«, sagte er leise. Ben hätte sich beinahe über seine zögernde Reaktion geschämt, aber das Funkeln in Elias' Augen ließ ihn seine Unsicherheit schnell wieder vergessen. »Tu dir keinen Zwang an. Essen und Trinken sind im Preis inbegriffen.«
»Oh, wow. Vielen Dank, Ma'am«, sagte Ben und nahm den Champagner an.
»Für mich nicht, vielen Dank«, sagte Elias. Ben sah ihn fragend an.
»Willst du nicht feiern? Das ist der Beginn unseres großen Abenteuers!«
Elias sah ihn so verlegen an, dass Ben sich innerlich verfluchte. Offensichtlich hatte er unwissentlich ins Fettnäpfchen getreten. »Ich trinke keinen Alkohol«, erklärte Elias. »Aber ich will ganz bestimmt mit dir feiern.«
Ben fühlte sich fürchterlich. Das Glas in seiner Hand wog plötzlich Tonnen. »Es tut mir leid. Das war gedankenlos von mir.« Er hasste es, wenn Menschen andere zum Trinken animierten.
Elias winkte ab. »Schon gut, vergiss es. Ich würde gerne ein Glas trinken, aber ich muss auf meine Gesundheit achten. Hmm… ich könnte mir vielleicht ausnahmsweise ein Glas Mimosa gönnen.«
Ben schüttelte den Kopf. Verdammt, da war schon wieder diese Verlegenheit. »Das musst du nicht«, sagte er. Guter Gott, würde das jetzt während ihrer ganzen Reise so weitergehen? Dass er ständig irgendwelchen Unsinn sagte?
Elias grinste nur. »Wir haben einen Grund zum Feiern und es kann mir nicht schaden, gelegentlich eine Ausnahme zu machen. Solange ich nicht durchdrehe und Schnaps kippe, kann nichts passieren.«
Ben musste an den Abend mit Emery und den Absinth denken, den sie zusammen getrunken hatten. Allein bei der Erinnerung drehte sich ihm der Magen um. »Nein, kein Schnaps«, stimmte er Elias mit ganzem Herzen zu.
Es war schon komisch, wie schnell sich die Stimmung wieder geändert hatte – von verlegen zu entspannt. Das passierte oft zwischen ihnen. Ben wäre es lieber, sie könnten die verlegenen Momente ganz überspringen, aber er freute sich auch darüber, wie schnell Elias ihre Unterhaltung wieder in normale Bahnen lenkte. Mit etwas Übung würde es ihm vielleicht in Zukunft gelingen, nicht mehr so oft ins Fettnäpfchen zu treten.
Die Flugbegleiterin brachte Elias den Champagner mit Orangensaft. Elias hob das Glas, um mit Ben anzustoßen. »Auf unser Abenteuer«, sagte er zögernd, aber das Lächeln auf seinen Lippen zeigte Ben, dass Elias genauso aufgeregt war wie er selbst.
»Auf unser Abenteuer«, stimmte Ben ihm begeistert zu und sie stießen an. Etwas Champagner schwappte über den Rand auf ihre Finger. Sie lachten. Ben fühlte, wie er sich entkrampfte. Etwas jedenfalls.
Es würde zauberhaft werden, wie auch immer. Die Räder hoben von der Startbahn ab. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Ben war auf dem Weg nach England, um sich sein Erbe zu sichern. Mit einem wunderbaren Mann an seiner Seite.
Es war fast perfekt.
Ben wusste, dass es ihn nichts anging, aber er machte sich Sorgen über das, was Elias vorhin gesagt hatte. Was hatte er mit gesundheitlichen Gründen gemeint? Hoffentlich war es nichts Ernstes. Vielleicht musste Elias – warum auch immer – Antibiotika schlucken. Er hatte keinen sehr beunruhigten Eindruck gemacht, als er darüber sprach, hatte aber vorhin auch erwähnt, dass er Medikamente im Handgepäck hätte.
Ben fühlte sich auf merkwürdige Weise für den älteren Mann verantwortlich – was lächerlich war, weil Elias sehr gut auf sich selbst aufpassen konnte. Aber jetzt würden sie sich besser kennenlernen und wenn Elias gesundheitliche Probleme hatte, wäre das für Ben ein Grund zur Sorge.
Er nippte an seinem Drink und sah die Liste der Filme durch, die er sich während des Fluges anschauen konnte. Elias war in ein dickes Buch vertieft. Es ging offensichtlich um das britische Erbrecht. Ben war gerührt darüber, dass Elias sich seinetwegen mit diesem schwierigen Thema befasste.
Sie wurden nonstop mit Essen – es schmeckte überraschend gut – und Getränken – mehr Champagner – versorgt. Ben hatte den Champagner erst ablehnen wollen, aber Elias bestand darauf, dass er den Flug genießen sollte. »Du musst mir helfen, den Urlaub nachzuholen, den ich nie genommen habe«, sagte er ernst, zwinkerte Ben aber dabei zu. »Und solange du nicht zu singen anfängst, kannst du so viel davon trinken, wie du willst.«
Aber Ben wollte sich nicht vor Elias betrinken. Er wollte sich nicht verplappern, wie es ihm mit Emery im Aquarium passiert war. Es wäre verdammt peinlich, wenn er anfangen würde, über Elias' weiche Haare zu schwärmen, die im Licht der untergehenden Sonne wie Bernstein glänzten. Oder wie viel es ihm bedeutete, dass Elias hier bei ihm war und ihm den Rücken stärkte, wenn er seiner entfremdeten Familie gegenübertreten musste.
Also trank er einige Gläser Champagner, sah sich ein Historiendrama an und knabberte Erdnüsse, um sich die Zeit zu vertreiben.
Nach einer Weile wurden die Lichter gedimmt. Ben nahm sich seine Decke und das Kissen. Elias hatte sich schon zugedeckt und war eingeschlafen, das Kissen wie einen Teddybären an sich gedrückt und die dunkle Maske vor den Augen. Er sah so verletzlich aus, dass Ben ihn instinktiv schon wieder beschützen wollte. Aber das war dumm. Elias brauchte keinen Beschützer.
Er musste irgendwann auch eingeschlafen sein, denn als er das nächste Mal auf die Uhr schaute, waren sie seit neun Stunden in der Luft. Die Beleuchtung wurde wieder eingeschaltet und der Pilot teilte mit, dass sie sich im Landeanflug auf London Heathrow befänden. Ben drückte die Nase an die Fensterscheibe, als sie aufsetzten. Es gab ein kleines Rütteln, mehr nicht.
»Oh mein Gott«, flüsterte er und sein Atem beschlug die Scheibe. »Wir sind wirklich hier!« Das Wetter war grau und trübe, aber das kümmerte ihn nicht, genauso wenig wie die lange Busfahrt zum Terminal, die ihnen noch bevorstand. Er war in einem fremden Land! Endlich ein Punkt auf seiner langen Wunschliste, den er abhaken konnte.
Er wippte aufgeregt auf und ab und nur der Sicherheitsgurt hielt ihn auf dem Sitz zurück. Elias grinste ihn von der Seite an, sah aber nicht so aus, als würde er Bens Aufregung für kindisch halten. Er grinste eher, als würden sie beide ein Geheimnis teilen.
Dann kam das Flugzeug endlich zum Stehen und sie konnten die Sicherheitsgurte lösen. Elias holte sein Handgepäck aus dem Fach über den Sitzen. Er zog die Medikamente aus der kleinen Tasche und runzelte die Stirn.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Ben, während er ebenfalls sein Handgepäck aus dem Fach holte.
Elias schaute blinzelnd auf. »Ja«, sagte er lächelnd, aber Ben entging sein besorgtes Gesicht nicht. Er wollte Elias nicht ausfragen, wünschte sich aber insgeheim, dass Elias sich ihm anvertrauen würde. »Ich nehme die Tabletten normalerweise jeden Morgen. Jetzt muss ich versuchen, die Zeitverschiebung umzurechnen. Vorsicht, dein Pass!«
Ben erschrak und vergaß die Tabletten. Elias zeigte nach vorne zu der Tasche vor Bens Sitz und – ja – dort steckte immer noch der kleine Beutel, in dem sich sein Pass befand. Er hätte ihn beinahe hier zurückgelassen.
»Guter Gott. Danke, Elias.« Ben drückte sich den Beutel an die Brust. »Was würde ich ohne dich nur anfangen?«
Und als sie sich ansahen, war er wieder da, dieser kleine Funke. Doch die anderen Passagiere drängten in Richtung Ausgang, also nahm Ben sein Handgepäck wieder auf und folgte ihnen. Er war zwar froh, endlich wieder die Beine bewegen zu können, bedauerte aber auch, sein kleines Refugium verlassen zu müssen. Bis zu ihrem Rückflug.
Und wer konnte schon sagen, was bis dahin noch alles passieren würde?
Es dauerte eine gespürte Ewigkeit, bis sie Passkontrolle und Zoll passiert hatten. Heathrow war ein sehr großer Flughafen. Ben war froh, wieder frische Luft atmen zu können, auch wenn er den Flug sehr genossen hatte. Das Wetter draußen, jenseits der großen Glasscheiben, sah allerdings grauenhaft aus. Dunkle Wolken, Regen und Wind. Nicht gerade der beste erste Eindruck. Trotzdem war er guter Laune, als sie sich mit ihrem Gepäck in Richtung Ausgang begaben. Er war in England.
»Ist es so, wie du es dir vorgestellt hast?«, fragte er Elias begeistert. Er wünschte, er hätte ein zusätzliches Paar Augen, um nichts zu verpassen – so wie Harry Potter in der Diagon Alley. Schon allein die Preisschilder in den Schaufenstern, die alles in Pfund anstatt in Dollar auszeichneten, waren faszinierend. Einige der Läden erkannte er wieder – beispielsweise die großen Kaffeeketten –, andere waren ihm vollkommen neu.
Elias brummte. »Aber so aufregend der Flughafen auch sein mag, ich freue mich schon darauf, hier rauszukommen. Wir nehmen den Zug nach London, fahren dann mit der U-Bahn und steigen in Paddington wieder in einen Zug um. Wie der Paddington Bär.« Er zwinkerte Ben zu. »Wir können dem Regen also noch eine Weile ausweichen, weil wir nicht ins Freie müssen. Was ist denn los?« Er lachte nervös.
Ben hatte gar nicht bemerkt, dass sie stehen geblieben waren. Sie sahen sich an. Ben stockte das Herz. Er wusste, dass er wahrscheinlich gerade ein besonders dämliches Gesicht machte, aber er konnte es nicht ändern. »Nichts«, sagte er verlegen. »Du hast zwar schon über unsere Reise nach Wiltshire gesprochen, aber es war mir im Moment entfallen. Ich war einfach baff über dein gutes Gedächtnis. Ich hätte mich erst mühsam wieder daran erinnern müssen.«
Elias machte ein merkwürdiges Gesicht. Beinahe freundlich. Oder liebevoll. Freute er sich, dass Ben ihm dieses Kompliment gemacht hatte?
»Wie gesagt…«, murmelte Elias und lächelte schüchtern, »es ist mein Job, auf dich aufzupassen.«
Die Signale trieben Ben in den Wahnsinn. Er wollte wirklich glauben, dass Elias an ihm interessiert war. Aber das konnte nicht wahr sein. Elias war nur nett zu ihm. Wie unter Freunden gewissermaßen. Schließlich war Elias ein netter Mann! Mehr konnte einfach nicht dahinterstecken.
Elias schüttelte den Kopf und blinzelte. Dann schaute er verwirrt über Bens Schulter. »Äh… der Mann dort hält ein Schild mit deinem Namen hoch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es hier zwei Männer mit deinem Namen gibt, oder?«
Ben drehte sich um. Sie standen direkt an der Tür. Überall wurden Reisende von ihren Freunden oder Verwandten begrüßt, die sie abholen wollten. Unter ihnen stand auch ein alter Mann mit Bierbauch, die grauen Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Er trug einen schwarzen Anzug unter einer Bomberjacke und hielt ein Schild mit Bens Namen hoch.
Ben runzelte die Stirn. Mr. Cabot hatte ihm unmissverständlich erklärt, dass seine Familie nicht wünschte, dass er nach England kam. Obwohl es ihn also nervös machte, unangekündigt hier anzukommen, hatte er beschlossen, sie nicht darüber in Kenntnis zu setzen. Ihre Telefonnummern und E-Mail-Adressen standen zwar auf dem Testament, aber sie wussten nicht, dass er heute hier angekommen war.
Wie um alles in der Welt konnte es also sein, dass ihn jemand hier erwartete? Ihm lief eine Gänsehaut über den Rücken. Dem Mann war mittlerweile aufgefallen, dass Ben das Schild gelesen hatte. Er sah ihn an und brach in ein breites Grinsen aus.
»Oh, Sie sind nicht zufällig Mr. Turner?«, fragte er mit einem rauen Cockney-Akzent.
»Der bin ich«, bestätigte Ben und ging mit Elias zu ihm.
Der Mann klemmte das Schild unter den Arm und hielt ihm die Hand hin. »Ist mir ein Vergnügen, mein Sohn. Ein großes Vergnügen. Ich bin Gary Decker, aber Sie können Gazza zu mir sagen. Das macht jeder. Ich hoffe, Sie hatten einen guten Flug?«
Ben sah Elias verwirrt an. »Das hatten wir«, sagte er. »Aber wir haben nicht erwartet, abgeholt zu werden. Wir haben niemanden von unserer Ankunft unterrichtet.«
Gazza machte ein betretenes Gesicht, das nicht so recht zu seinem imposanten Äußeren passen wollte. »Ah, ja. Tut mir leid, Sir. Wir wollten nicht schnüffeln, aber wir hatten wirklich gehofft, dass Sie kommen. Als wir das Insta-Dingsbums-Foto gesehen und gelesen haben, dass Sie in der ersten Klasse fliegen, dachten wir uns, es müsste dieser Flug sein.« Er strahlte Ben an. »Und ich wollte Sie kennenlernen! Miss Nancy hätte es sich auch gewünscht, das können Sie mir glauben.« Er schaute an die Decke. »Möge sie in Frieden ruhen.«
Ben hätte sich am liebsten in den Hintern getreten. Wieso hatte er nur dieses dämliche Foto gepostet? Er schaute Elias schuldbewusst von der Seite an, aber Elias konzentrierte sich voll und ganz auf Gazza.
»Miss Nancy?«, wiederholte er. »Meinen Sie damit Anne Grimaldi de Loutherbergh? Bens Urgroßmutter?«
Gazza nickte ernst. »In der Tat. Sie war eine echte Lady. Für uns wird sie immer Miss Nancy bleiben.« Er hielt Elias die Hand hin. »Tut mir leid. Ich habe nicht damit gerechnet, dass Mr. Turner in Begleitung kommt. Sind Sie ein Freund von ihm?«
»Der inoffizielle Rechtsberater«, erwiderte Elias und schüttelte Gazza die Hand. »Elias Solomon. Freut mich, Sie kennenzulernen.«
»Also…«, sagte Ben nervös, während links und rechts die Menschen an ihnen vorbeigingen. »Ich nehme nicht an, dass Mr. Cabot Sie geschickt hat. Oder jemand aus der Familie.«
Gazza senkte den Kopf und verschränkte die Hände vor dem Bauch. »Äh, nein. Tut mir leid. Aber sie wissen, dass Sie kommen. Und sie sind darüber ziemlich wütend.«
Er lachte und wippte dabei auf den Füßen vor und zurück. Ben bekam ein mulmiges Gefühl, aber Elias legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte sie. Es war wie ein Stromstoß, der Ben durch den Körper fuhr. Er schaute Elias an und fühlte sich sofort wieder besser.
»Sie sollten darüber nicht wütend sein«, sagte Ben mit fester Stimme und hob den Kopf. »Ich habe nicht um dieses Erbe gebeten. Aber ich habe das Recht, mehr darüber herauszufinden und darum zu kämpfen.«
Gazza sah ihn nachdenklich an. Dann nickte er seufzend. »Oh, ich wünschte, Miss Nancy hätte das erleben dürfen. Sie hätte Sie bestimmt gerne kennengelernt. Ihr Tom hielt das für keine gute Idee, aber sie hat noch vor ihrem Tod entschieden, dass es damit jetzt genug wäre. Sie wollte alles wieder in Ordnung bringen.« Gazza wackelte mit dem Finger und verschränkte wieder die Hände. »Die gute alte Miss Nancy.«
Ben hatte einen Kloß im Hals, als Gazza seinen Großvater erwähnte. Er hatte immer gedacht, er würde ihn recht gut kennen, aber jetzt schien es plötzlich, als hätte Grandpa ein Doppelleben geführt. Warum hatte er sein Zuhause und seine Familie hinter sich gelassen? Ben fragte sich, ob dieses Geheimnis wohl der Grund sein mochte, warum seine Urgroßmutter – Nancy – ihm ihr Vermögen hinterlassen hatte.
»Ich wünschte auch, ich hätte sie kennengelernt«, sagte er traurig.
Gazza nickte mit Tränen in den Augen. Dann räusperte er sich. »Na ja, es gibt wahrscheinlich Vieles zu bedauern. Aber jetzt sind Sie hier und nur das zählt. Was ist mit Ihrem Gepäck? Das Auto steht draußen und wir können uns auf dem Weg weiter unterhalten.«
»Oh nein«, sagte Ben, als Gazza nach ihren Koffern griff. »Das schaffen wir schon.«
Gazza sah ihn empört an. »Es ist mein Job, Sir. Machen Sie sich keine Sorgen. Folgen Sie mir einfach, ich kümmere mich dann um den Rest.«
Bevor Ben darauf etwas erwidern konnte, hatte Gazza ihre Koffer geschnappt und lief los. Ben und Elias folgten ihm.
»Bringen Sie uns zu unserer Pension?«, erkundigte sich Ben.
Gazza warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. »Oh nein, Sir. Da die Familie jetzt über Ihre Anwesenheit informiert ist, schlage ich vor, dass Sie sich so schnell wie möglich bekannt machen. Ich nehme an, der Anwalt der Familie hat mit Ihnen Kontakt aufgenommen?«
Gazza schien alles zu wissen. Ben nickte. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen. Er war nicht darauf vorbereitet gewesen, diese – seine – Familie so schnell kennenzulernen. Nicht direkt nach einem langen, erschöpfenden Flug über den Atlantik.
»Ich habe mit den Anwälten gesprochen«, bestätigte Elias. »Aldridge Harding Carmichael ist informiert.«
»Bestens«, sagte Gazza erfreut. Er lief um eine Gruppe Schulkinder herum, die alle die gleichen Rucksäcke trugen und – der Sprache nach – vermutlich aus Italien kamen. Es sah aus, als würden sie den Hinweisschildern zu einem Parkplatz folgen. »Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf… Sie sollten so bald wie möglich mit Mr. Grimaldi de Loutherbergh sprechen. Das ist Ihr Großonkel Kenneth.«
»Richtig«, sagte Ben. »Und ich nehme an, er mag mich nicht sonderlich, ja?«
Gazza kniff die Lippen zusammen. »Ich möchte nicht für Mr. Grimaldi de Loutherbergh sprechen, Sir.«
Also nein. Ben hatte recht gehabt.
»Mr. Grimaldi de Loutherbergh ist Miss Nancys jüngster Sohn«, fuhr Gazza fort. »Der jüngere Bruder Ihres Großvaters. Er verwaltet das Anwesen.«
»Gut zu wissen«, sagte Elias höflich und warf Ben einen mitleidigen Blick zu.
Ben nickte. Er konnte nicht um die Sache herumkommen und musste mit seiner entfremdeten Familie reden. So war das eben. Aber wenigstens konnte er sich auf die nette kleine Pension freuen, in der Elias und er Zimmer gebucht hatten.
»Meine Urgroßmutter wurde also Nancy genannt?«, fragte er, um das Thema zu wechseln.
»Wir nannten sie immer Miss Nancy«, bestätigte Gazza. »Sie wurde schon als Mädchen so genannt. Offiziell hieß sie Anne oder Mrs. Grimaldi de Loutherbergh und die Familie nannte sie Aunt Annie. Aber wer sie richtig kannte, sagte Miss Nancy zu ihr. Oh, passen Sie auf, wohin Sie gehen. Diesen Weg bitte, meine Herren.«
Er führte Ben und Elias über eine Kreuzung und sie mussten kurz durch den Regen laufen, bevor sie in ein mehrstöckiges Parkhaus kamen. Ben trug eine Jacke, aber es war trotzdem beißend kalt und die Feuchtigkeit drang ihm sofort bis auf die Knochen. Der Gestank nach Benzin und Abgasen hing schwer in der Luft.
»Miss Nancy hat uns einen Auftrag gegeben«, fuhr Gazza fort. »Kümmert euch um den Jungen, sagte sie. Heißt ihn willkommen. Weil sie es nicht tun werden. Deshalb dachte ich mir, ich warte hier mit dem Wagen auf euch Jungs.« Er blieb vor einem blanken, schwarzen BMW stehen, der schon mindestens fünfzehn Jahre alt sein musste. »Es ist schön, dass Sie nicht allein reisen mussten, Sir.« Er nickte und öffnete mit seinem Transponder den Kofferraum. »Sind Sie Freunde oder Kumpels oder so?«
»Freunde oder Kumpels?«, fragte Ben, weil er nicht wusste, ob diese Worte im Englischen die gleiche Bedeutung hatten wie im Amerikanischen. Gazza schien ein netter Kerl zu sein, doch das musste nichts heißen. Die Arbeiterschicht seiner Generation war vermutlich mit Vorurteilen über Schwule aufgewachsen. Ben kam sich dann etwas dumm vor, als er erkannte, dass er sich vermutlich viel zu viele Gedanken darüber machte.
Außerdem hatte Ben keinen Grund, sich zu schämen, zumal er und Ben wirklich nur Freunde waren. Dass sie beide schwul waren, spielte in diesem Zusammenhang absolut keine Rolle.
»Richtig, ja«, sagte er selbstbewusst. Wenn er jetzt nicht zu ihrer Freundschaft stand, würde er es nie können. »Aber Elias ist auch Anwalt.«
»Oh, das ist gut«, sagte Gazza, packte die Koffer in den Kofferraum und schlug so fest die Klappe zu, dass der ganze Wagen zu wackeln anfing. »Wir haben in letzter Zeit ständig Anwälte im Haus, die sich aufblasen und wichtigtun. Sie können jemanden brauchen, der weiß, wovon die Kerle reden. Also gut. Steigt ein.«
Er öffnete eine der Hintertüren. Elias streckte den Arm aus und ließ Ben den Vortritt. Ben stieg ein. Ihm fiel sofort auf, dass das Lenkrad auf der falschen Seite war. Dann sah er die riesige, silbergraue Katze, die auf dem Beifahrersitz saß, mit dem Schwanz schlug und ihn mit ihren blauen Augen kalt ansah.
»Katze!«, quiekte er und wäre fast rot geworden, weil er nur auf das Offensichtliche hingewiesen hatte. Aber damit hatte er nicht gerechnet.
»Oh, einfach ignorieren«, sagte Gazza lachend, als er sich hinters Steuer setzte. »Die Dame lässt sich nichts befehlen. Macht immer, was sie will. Luna, ich möchte dir Mr. Turner und Mr. Solomon vorstellen.«
Luna gähnte nur herzlich und zeigte ihre scharfen Zähne. Sie war wirklich riesig.
»Das ist ein hübscher Name«, sagte Elias und schloss die Tür. »Gehört sie Ihnen?«
Sie schnallten sich an und Gazza fuhr rückwärts aus dem Parkplatz. »Diese Katze gehört vermutlich niemandem«, sagte er lachend. »Gelegentlich scheint sie sich über meine Gesellschaft zu freuen und besucht mich. Ich weiß nicht, wie sie wirklich heißt. Aber sie sieht aus wie der Mond und ist auch fast so groß.«
Er lachte über seinen eigenen Witz. Sie kamen an eine große Kreuzung mit einer Verkehrsinsel in der Mitte. Ben meinte sich zu erinnern, dass man das Kreisverkehr nannte. Es war ziemlich verwirrend. Die Autos fuhren durch den strömenden Regen auf der falschen Straßenseite im Kreis, schafften es aber irgendwie, keine Unfälle zu verursachen.
Gazza sagte, sie würden ungefähr zwei Stunden brauchen, um Whittingar Abbey zu erreichen. Das Anwesen lag etwas außerhalb einer kleinen Stadt namens Horncaster, die wiederum auf halbem Weg zwischen Swindon und Bristol lag. Ben war ein Nervenbündel. Elias und er hatten geplant, sich erst hier einzurichten und mit den Anwälten zu reden, bevor sie ein Treffen mit der Familie vereinbarten, die Nancys Testament angefochten hatte. Es ging alles so schnell. Er hatte noch nicht einmal die Zeit gefunden, sich die Zähne zu putzen.
Ben kam sich vor, als wäre er in einem Roman von Jane Austen gelandet und müsste sich den neuen Nachbarn vorstellen, die ihn jetzt schon hassten. Es war so surreal.
Aber es war wirklich so. Er kam sich vor wie in einem Regency-Roman. Theoretisch könnte er jeden vor die Tür setzen, der sich auf dem Anwesen aufhielt. Dem Testament nach gehörte es ihm. Es war also nicht ganz unverständlich, dass die Familie misstrauisch war und ihn loswerden wollte. Er war ein Fremder, der ihnen ihr Zuhause nehmen konnte. Ben hatte allerdings nicht die Absicht, das zu tun. Es war also vielleicht keine schlechte Idee, so bald wie möglich mit ihnen zu reden und es ihnen in einem persönlichen Gespräch mitzuteilen.
Die Straße führte durch weite Felder. Am Himmel hingen dunkle Wolken. Es war ein fremdes Land und obwohl seine Familie ihn hier nicht wollte, war es ein aufregendes Gefühl für Ben.
Er drehte den Kopf zu Seite und sah, dass Elias ihn beobachtete. Er wurde rot. »Was ist?«, fragte er leise. Gazza hatte das Radio eingeschaltet und lauschte einem Sportreporter. Er konnte sie wahrscheinlich nicht hören.
Elias lächelte. »Dein erstauntes Gesicht. Ich habe nur deine Begeisterung genossen. Die meisten Menschen hätten sich vermutlich über den Regen beschwert.«
Es war lächerlich, aber Ben wurde warm ums Herz, als er das Kompliment hörte. Er wusste, es hatte nichts zu bedeuten, aber er schloss es trotzdem in der Schatzkiste seiner Erinnerungen ein, um es nie wieder zu vergessen.
»Bei Sonnenschein sieht es bestimmt ganz anders aus«, gab er zu. »Der Regen macht die Landschaft irgendwie dramatisch. Als hätte er gewusst, dass wir kommen.«
»Vermenschlichung der Natur«, sagte Elias mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. »So nennt man das in der Literatur. Wenn es scheint, als würde das Wetter auf menschliche Stimmungen reagieren.«
Ben kannte außer Elias niemanden, der das gesagt hätte. Sein Herz pochte, als er Elias anlächelte. Guter Gott, er wollte jedes Wort des Mannes aufsaugen. Dass Elias so kluge Dinge sagen konnte, machte ihn in Bens Augen noch bewundernswerter. Es war wie ein Geschenk. Sie waren beide Bücherwürmer und liebten britische Klassiker.
»Also dann«, meldete sich Gazza von vorne. »Wir nähern uns langsam dem Anwesen. Ich wollte Sie nur vorwarnen.«
Ben wurde wieder nervös. Das war es. Sie fuhren durch einen dichten Wald. Das schlechte Wetter verbreitete eine düstere Atmosphäre. Bald würden sie um eine Ecke biegen und es vor sich sehen.
Sein Erbe.
Verdammt. Als es kurz darauf wirklich so weit war, blieb ihm fast das Herz stehen.
Das war mehr als ein Anwesen. Das war schon fast ein Schloss. Das Haus war einige Stockwerke hoch und das Grundstück so riesig, dass man seine Grenzen nicht sehen konnte. Wie konnte das alles jetzt ihm gehören?
Er fing an zu zittern und biss sich auf die Lippen. Was, wenn er diese Menschen nicht dazu bringen konnte, ihn nicht zu hassen? Was, wenn die Familie, nach der er sich immer gesehnt hatte, mit ihm nichts zu tun haben wollte? Es war eine große Verantwortung, ein ganzes Haus und ein Unternehmen zu führen. So viele Menschen, deren Lebensunterhalt von ihm abhing – Angestellte und Familienmitglieder. Was, wenn…
Zum zweiten Mal innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden fasste Elias nach seiner Hand und drückte sie. Aber dieses Mal ließ er sie nicht wieder los. Ben sah ihn überrascht an.
»Tief durchatmen«, sagte Elias leise. »Alles wird gut.«
Ben war nicht sicher, ob er ihm das glauben sollte. Aber Elias' warme Hand an seiner zu fühlen, half ihm vielleicht, es sich für eine Weile einzureden.
»Okay«, sagte er. »Alles wird gut.«
Das war es natürlich nicht. Aber wenigstens würde Elias an seiner Seite sein, wenn alles zum Teufel ging.