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Kapitel 3

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Ben

Hatte Ben den Verstand verloren? Würde er erst erdrosselt und dann als Wasserleiche in der Themse enden? Welcher normale Mensch, der seinen Verstand noch beisammenhatte, nahm ein solches Angebot von einem nahezu fremden Mann an und ließ sich von ihm über den Atlantik begleiten, um dort mit seiner verloren gegangenen Familie ein schwerwiegendes rechtliches Problem zu lösen?

Nun, ein Mensch wie Ben offensichtlich. Weil – so verrückt es sich auch anhören mochte – er tief im Innersten wusste, dass es richtig war.

Und mit seiner dummen Schwärmerei hatte das nicht das Geringste zu tun. Nicht das Allergeringste.

Wenn Elias ein Börsenmakler oder Ingenieur oder der Manager der Bank von Pine Cove gewesen wäre, hätte sich Ben auf diesen verrückten Plan niemals eingelassen. Aber Elias hatte einen soliden beruflichen Hintergrund – wenn auch nicht in britischem Recht – und die Flugmeilen, die er gesammelt hatte, ermöglichten ihnen eine kostenlose Reise. Andernfalls wäre Ben diesen Menschen, die ihm – ob zu Recht oder Unrecht – sein Erbe nicht gönnten, hilflos ausgeliefert.

Natürlich konnte es nicht schaden, dass sein Überraschungsanwalt so unglaublich sexy war. Hätte Ben dieses Angebot auch von einem anderen Menschen angenommen? Würde er auch einfach mit ihm ins Flugzeug steigen, wenn er ein schmieriger Kerl in den Sechzigern gewesen wäre? Oder eine Mom mit zwei Kindern, die zufällig Anwältin war?

Mit Sicherheit nicht. Aber spielte das wirklich eine Rolle? Er hatte zwei Möglichkeiten. Entweder er fühlte sich schuldig, dass sein Schwarm gleichzeitig jemand war, der ihm aus dieser verrückten Sache raushelfen konnte, oder er ließ sich die Möglichkeit auf juristische Hilfe entgehen, die er so dringend nötig hatte.

Aber so oft er sich das auch einredete, ihm wurde jedes Mal schwummrig zumute, wenn er daran dachte, seine Eltern darüber informieren zu müssen.

Es war grotesk. Widersinnig. Absurd. Ben war genauso wenig ein Millionär, wie er ein Bodybuilder war. Er hatte sich von einem älteren Mann, in den er verschossen war, zu dieser Reise überreden lassen. Er war offensichtlich anfällig für Manipulation. Er war leichtsinnig und naiv.

Sollte er also das Angebot ablehnen, mit Elias nach London zu fliegen? Sollte er so tun, als hätte er dieses Testament nie gesehen?

Diese Option erschien ihm irgendwie noch absurder.

Er war den ganzen Tag abgelenkt und konnte sich kaum auf seine Arbeit hinter der Theke konzentrieren. Gott sei Dank hatte Lars Verständnis dafür. Jedenfalls am Anfang. Als es ihm zu viel wurde, verbannte er Ben zum Putzen in die Backstube.

Ben hatte oft Konzentrationsproblem und so sehr er sich über seine Verbannung ärgerte, er konnte Lars verstehen. Und Lars wusste das auch. Deshalb hatte er ihn nach hinten geschickt. Die stumpfsinnige Putzarbeit wirkte, wie Lars wusste, beruhigend, obwohl Ben normalerweise kreative Tätigkeiten bevorzugte. Er spülte bergeweise Geschirr, ohne sich dessen richtig bewusst zu werden. Seine Gedanken waren wie abgeschaltet und die Arbeit versetzte ihn in eine meditative Stimmung.

Für eine Weile half es ihm gegen den Stress, aber er wusste auch, dass damit Schluss sein würde, sobald er wieder Zeit zum Nachdenken hatte. Dann würde die Grübelei sofort wieder von vorne losgehen. Er musste über die Sache reden. Aber nicht mit seinen Eltern. So sehr er sie liebte, sie konnten mit Veränderungen nicht umgehen, fällten nicht gerne Entscheidungen und gingen allem aus dem Weg, was ihnen auch nur ansatzweise leichtsinnig vorkam.

Er konnte erst mit ihnen reden, wenn sein Plan feststand.

Aber wem konnte er sich anvertrauen?

Nicht Elias. Sie hatten schon lange genug darüber geredet und sich entschieden, die Herausforderung anzunehmen. Wenn Ben ihm jetzt eine Nachricht schickte, würde Elias denken, dass er einen Rückzieher machen wollte. Und das war nicht der Fall. Er wollte nur über ihren verrückten Plan reden und sich selbst davon überzeugen, dass es eine gute Idee war, gemeinsam nach England zu fliegen. So, wie es sich heute Früh im Sunny Side Up angehört hatte.

Es war schon unglaublich, dass er Elias überhaupt eine Nachricht schicken konnte. Er hatte den Mann über ein Jahr lang insgeheim angehimmelt und wäre nie auf die Idee gekommen, dass sie eines Tages ihre Telefonnummern austauschen würden. Ben schaute immer wieder auf sein Handy, aber es war keine neue Nachricht eingetroffen – von den Testnachrichten abgesehen, die sie sich heute Früh geschickt hatten.

Ben hatte noch nie so freimütig mit einem nahezu Fremden gesprochen wie mit Elias. Vielleicht auch deshalb, weil Elias schon älter war und genau der Mensch, der Ben hoffte, eines Tages werden zu können. Ein Mensch, der sich seiner selbst sicher war und wusste, was er tat. Deshalb konnte Ben ihm vertrauen, ohne ihn allzu gut zu kennen. Die Zweifel hatten sich erst wieder gemeldet, nachdem sie sich heute Früh getrennt hatten. War er zu gutgläubig? Es fühlte sich nicht so an, aber das mochte auch an seiner mangelnden Lebenserfahrung liegen.

Er musste mit jemandem reden, der schon etwas – wenn nicht sogar sehr viel – mehr Erfahrung in solchen Dingen hatte als er selbst.

Ben hatte Freunde – Mitarbeiter aus der Bäckerei, ehemalige Schulkameraden und sogar einige Online-Bekanntschaften, mit denen er sehr offen diskutierte, weil er sich durch die Anonymität des Internets sicher fühlte. Manchmal war es einfacher, seine Gedanken mit Menschen auszutauschen, die man nicht persönlich kannte und deren Gesichter man noch nie gesehen hatte.

Doch er traute sich nicht, diese Geschichte übers Internet mit Unbekannten zu teilen. Es war zu gefährlich. Als er am Nachmittag ruhelos die Bäckerei verließ, kam es ihm vor, als müsste er nur die Augen aufmachen, um eine Antwort zu finden. Wer würde ihm diese verrückte Geschichte glauben? Wer würde ihm glauben, dass eine verrückte alte Dame ihm ihr Vermögen hinterlassen hatte, dass irgendein mysteriöses Familiendrama dahinterstecken musste und er jetzt mit dem Gedanken spielte, mit einem älteren Mann um die Welt zu fliegen, in den er verschossen war und der ihm helfen wollte, sein Erbe zu sichern und…

Oh. Natürlich.

Es gab in der ganzen Stadt einen Menschen – einen einzigen –, dessen Leben noch verrückter war.

Ben hoffte nur, dass sich dieser Mensch in der Stadt aufhielt und nicht zum Schnorcheln auf den Seychellen war oder irgendwo in der Antarktis ein Musikvideo drehte.

»Liebling!«, rief Emery Klein nach dem dritten Klingeln des Handys. »Ich lasse meinem Igel gerade die Krallen maniküren. Wie geht es dir?«

Nein, es war überhaupt nicht verrückt. Keinesfalls.

Ben saß auf einer der Bänke am See. Das Wasser reflektierte die letzten Sonnenstrahlen. Ein eiskalter Wind wühlte die Wasseroberfläche auf und drang Ben durch die dicke Jacke bis auf die Knochen. Zitternd holte er Luft und kniff die Augen zusammen. »Ich bin gerade Millionär geworden und überlege, ob ich mit einem fremden Mann nach London fliegen soll.«

Emery kreischte so laut, dass Ben das Handy vom Ohr zog. »Oh em gee! Das ist unglaublich! Ich will sofort alles wissen. Nein! Warte! Wie schnell kannst du im Aquarium sein? Sie trinkt einen Pornostar Martini und etwas Buntes zum Nachspülen. Irgendwas, was man anzünden kann. Wir sehen uns in einer halben Stunde. Küsschen!«

Ben konnte nicht behaupten, dass der überschwängliche Influencer sein bester Freund wäre, aber sie hatten sich im Laufe der letzten beiden Jahre gut kennengelernt. Sie sahen sich bei den Ehemaligen-Treffen der LGBT-Gruppe ihrer Oberschule, besuchten gemeinsam Veranstaltungen und trafen sich gelegentlich auch privat. Einmal hatte Emery Freitickets für irgendeine Promo-Veranstaltung verteilt und Ben zu seinen einundzwanzigsten Geburtstag nach Las Vegas eingeladen. Solche Erlebnisse schweißten zusammen.

Hätte Elias nicht schon angeboten, ihn nach London zu begleiten, wäre Emery vielleicht der richtige Mann gewesen, Ben zur Seite zu stehen. Emery reiste viel und hatte genug Geld. Nicht gerade Millionen, aber genug, um Ben nie selbst bezahlen zu lassen, wenn sie ins Kino oder eine Bar gingen. Er wäre vermutlich sofort mit ihm nach London geflogen, um Bens entfremdete Familie kennenzulernen.

Aber er war nicht Elias.

Weil Elias Anwalt war. Nur deshalb.

Wenn Emery von einer halben Stunde sprach, meinte er gewöhnlich anderthalb Stunden. Ben hatte also noch Zeit, nach Hause zu gehen – er lebte noch bei seinen Eltern –, eine Dusche zu nehmen, sich umzuziehen und dann mit einem Uber ins Aquarium, der einzigen Schwulenbar in Pine Cove, zu fahren. Seine Eltern interessierten sich nicht für sein Kommen und Gehen und falls sie ihn fragten, wie sein Tag gewesen wäre, konnte er sie mit einem einfachen Gut abwimmeln. Alles andere konnte er ihnen später erklären, wenn er es selbst richtig begriffen hatte.

Das Aquarium war zwar die einzige Schwulenbar Pine Coves, aber eine zweite hatte die Stadt auch nicht nötig. Einrichtung und Musik waren prima und alle waren willkommen, egal, welchem Teil der Gemeinschaft sie sich zurechneten. Nicht so wie in anderen Städten, in denen es Bars gab, die nur für schwule Männer gedacht waren. Im Aquarium gab es Abende, an denen wurde Countrymusik gespielt, an anderen Rockmusik. Und es gab sogar alkoholfreie Abende. Es gab Drag-Shows und Poesielesungen, manchmal sogar Tarot- oder Malkurse.

Eine Bar wie das Aquarium war eine große Hilfe, wenn man als junger schwuler Mann in einer Kleinstadt aufwuchs und lebte. Es war nicht einfach, sich so sehr von seinen Mitmenschen zu unterscheiden, und wenn man wusste, dass es einen Ort gab, an dem man Menschen treffen konnte, die genauso waren, fühlte man sich nicht so allein. Dazu gab es in Pine Cove noch das Sunny Side Up, das von einem schwulen Paar geführt wurde. Ben hatte zwar immer gewusst, dass er anders war, aber er hatte sich nie ausgeschlossen gefühlt.

Es war also der perfekte Ort für diesen Moment der Verwirrung, und das nicht nur wegen der hervorragenden Cocktails. Die glitzernden, blauen Tapeten und die Unterwasserdekoration, die dem Aquarium seinen Namen gab, wirkten beruhigend auf Bens Nerven.

Was immer ihn auch bedrückte, er konnte es schaffen.

Um einen seiner Lieblingsautoren – Shakespeare – zu zitieren: Ben mochte klein sein, aber er war wild.

Er scrollte durch Facebook und nippte an einem der beiden Pornostar Martinis, während er in seiner Nische darauf wartete, dass Emery in einer Glitzerwolke auftauchte. Es schien nichts Ungewöhnliches passiert zu sein. Für seine Freunde war heute ein Tag wie jeder andere auch.

Er musste lachen, als er überlegte, wie er seinen eigenen Tag in wenigen Worten zusammenfassen könnte. Wenn er schrieb, er wäre seit heute eine Art englischer Aristokrat, würde ihm das kein Mensch abnehmen.

Er konnte es ja selbst noch nicht glauben.

»Die wesentliche Frage ist doch…«, sagte Emery, der plötzlich neben ihm auftauchte, »…ob sich das wirklich anzünden lässt oder nicht.«

Er ließ sich gegenüber von Ben auf die Bank fallen und zeigte auf die beiden Gläser mit der neongrünen Flüssigkeit, die zwischen ihnen auf dem Tisch standen. Ben hatte strenge Instruktionen, was er mit den Drinks tun durfte und was nicht, wenn er sich jemals wieder hier blicken lassen wollte.

Aber er machte sich darüber keine Sorgen. Emery wusste schon, was er tat.

Bens farbenprächtiger Freund trug kniehohe, schwarze Stiefel zu Shorts aus Jeansstoff, die nicht mehr waren als eine Unterhose. Ergänzt wurde das Ensemble durch eine luftige Folklore-Bluse. Bei jedem anderen hätte sich Ben underdressed gefühlt, aber Emery war eine Ausnahme. Emery fand, jeder Mensch müsste er selbst sein, egal wie. Und für Ben bedeutete das eine einfache Jeans mit einem T-Shirt. Er hatte es bisher noch nicht geschafft, sich eine erwachsenere Garderobe zuzulegen.

Andererseits trug er unter seinen Jeans einen Jockstrap, was aber niemand wissen musste. Ben fühlte sich also durchaus angemessen gekleidet.

Er seufzte erleichtert und schob Emery einen der Drinks zu. »Der Barkeeper meinte, es wäre Absinth, also auf jeden Fall anzündbar.«

Emery fasste sich japsend an die Brust. Sein Lidschatten glitzerte im Licht der Discokugel. »Absinth? An einem ganz normalen Wochentag?« Er lachte und man hätte sein Lachen fast als manisch bezeichnen können. »Deshalb liebe ich dich so, mein Hübscher. Schau nur! Mama hat ein Feuerzeug mitgebracht!«

Ben war nicht sicher, ob es eine gute Idee war, aber nach diesem Tag brauchte er etwas, um seine Hirnzellen wieder aus ihrer Erstarrung zu lösen. Außerdem musste er morgen nicht arbeiten und konnte deshalb ausschlafen.

Er folgte Emerys Vorbild und sie zündeten den Absinth an, legten die Hand übers Glas, um die Flamme wieder zu löschen, und atmeten den Duft ein. Dann kippten sie den Absinth auf ex.

Gottverdammt aber auch. Nach dem Zeug würden ihm die Brusthaare nur so sprießen. Es brannte in der Kehle und sie mussten husten. Ben war froh, dass er vorsorglich auch Eiswasser für sie beide bestellt hatte. Wie war er nur auf diese verrückte Idee gekommen?

»Du Spinner«, sagte Emery mit Tränen in den schwarz umrandeten Augen. »Lass uns das nie wieder tun.«

Ben gab diesem Vorsatz drei Wochen. Jedenfalls für Emery. Bei ihm selbst würde er wahrscheinlich mehrere Monate halten.

Oder Jahre.

»Also dann«, sagte Emery, als sie sich wieder beruhigt und einen Schluck Wasser getrunken hatten. Der Absinth brannte immer noch in Bens Hals und er spürte schon, wie ihm der Alkohol ins Blut schoss. Ben trank gerne, aber er wollte erst abwarten, ob der Absinth sich mit dem Pornostar Martini vertrug.

»Also dann«, äffte er Emery nach und sah ihn vielsagend an.

Emery zog den Lipgloss aus der Tasche und warf Ben einen nachdenklichen Blick zu, während er ihn auftrug. »Das war kein Scherz, nicht wahr?«, sagte er ernst. »Du bist wirklich zu Geld gekommen.«

Ben wusste nicht, warum er so nervös war. Er hatte Emery das Wesentliche schon am Telefon mitgeteilt und außer den Fischen in dem Aquarium, das ihre Nische von der benachbarten abtrennte, war niemand in Hörweite. Trotzdem fiel es ihm schwer, laut darüber zu reden. Der Alkohol half ihm allerdings, sich nicht ganz so verrückt vorzukommen. Andere Menschen führten ein aufregendes Leben und nur weil das bei ihm bisher nicht der Fall war, musste das noch lange nicht heißen, dass er nicht auch etwas Aufregung verdient hatte.

»Also gut. Es sieht aus, als wäre meine Urgroßmutter gestorben.«

Emery legte ihm die Hand auf den Arm und sah ihn mitfühlend an. »Das tut mir leid, mein Hübscher.«

Ben schüttelte den Kopf. »Mir auch, aber ich habe sie nicht gekannt. Ich wusste noch nicht einmal, dass sie überhaupt existiert. Aber sie hat mir alles hinterlassen. Alles. Ihr ganzes Vermögen in England.«

»Und wie viel ist das wert?«, erkundigte sich Emery.

Ben sagte es ihm.

»Ich bestelle noch eine Runde Schnaps«, sagte Emery und sprang auf die Füße.

»Nein, nein!« Ben zog ihn wieder auf die Bank zurück und schob ihm seinen Martini hin. »Lass uns erst den austrinken. Ich versuche so lange, dir alles zu erklären.«

Und dann fing er an.

»Und dieser Elias hatte zufällig all die Flugmeilen und ist ganz wild darauf, mit dir nach Europa zu fliegen?«, fragte Emery ungläubig. »Das ist schon was. Ich würde an deiner Stelle sofort zuschlagen, aber die meisten würden das wohl anders sehen.«

»Ich weiß«, murmelte Ben und rührte mit dem Strohhalm die letzten Eiswürfel in seinem Glas um. »Wenn man es laut ausspricht, hört es sich vollkommen verrückt an. Aber wie soll ich sonst nach Großbritannien kommen und die Wahrheit herausfinden? Warum hat diese Anne mir alles hinterlassen? Und… was ist, wenn es mir wirklich zusteht und ich lasse es mir durch die Finger gleiten? Ich denke… ich denke, dass Elias mir eine große Hilfe sein könnte. Er ist nicht nur Anwalt, er ist auch erwachsen.«

»Ich bin auch erwachsen«, grummelte Emery und spielte mit seinem Ring. Es war ein My-Little-Pony-Ring.

Ben lachte und rieb ihm über die Hand. »Um ehrlich zu sein, bist du meine zweite Option.«

»Ach du lieber Gott!«, quiekte Emery. »Nein, Ben! Bist du verrückt? Nimm den klugen Anwalt mit, nicht mich! Solange du nicht denkst, dass er merkwürdige Sachen vorhat.« Emery legte ihm die Hand an die Wange. »Du bist so umwerfend süß.«

Ben rieb sich mit der Wange an Emerys Hand. Er wusste, es war nur freundschaftlich gemeint, aber es tat ihm gut. Ben liebte Sex, hatte aber noch nie einen festen Freund gehabt. Jemanden, der ihn in den Armen hielt und ihm sagte, dass alles wieder gut werden würde. Es wäre schön, einen solchen Menschen zu haben. Deshalb war er froh, dass Emery mit seiner Zuneigung so großzügig umging.

»So ist Elias nicht«, sagte er. Ihm wurde warm ums Herz, wenn er an Elias' wunderbares Lächeln dachte und die Art, wie Elias ihm sofort geholfen hatte, mit der Überraschung fertigzuwerden. »Er ist lieb und nett und respektvoll. Ich fühle mich bei ihm in guten Händen.«

Emery zog die Hand weg und sah ihn merkwürdig an. Dann winkte er einen der Kellner an den Tisch, der zufällig vorbeiging. »Oliver, mein Schatz«, sagte er und klimperte mit den Wimpern. »Könntest du uns bitte das Gleiche noch einmal bringen, wenn ich dich ganz nett darum bitte?«

Oliver zwinkerte zurück. »Nein. Aber wenn du mir ein schönes Trinkgeld gibst…«

Emery riss empört den Mund auf. »Wie gemein!«, rief er und winkte mit einem Zwanziger, den er weiß Gott woher gezogen hatte.

Oliver nahm ihm den Schein ab. »Kommt sofort, mein Süßer.«

Kaum war er verschwunden, sah Emery ihn wieder mit diesem allwissenden Blick an. »Dieser Elias…«, schnurrte er. »Ich kenne ihn. Er sieht sehr gut aus und ist zweifellos schwul.«

Ben rutschte nervös hin und her. Ihm fiel auf, dass er schon ziemlich beschwipst war. »Vielleicht sollten wir uns etwas zu essen bestellen…«, sagte er und verzog das Gesicht.

Emery winkte ungeduldig ab. »Wir bestellen Pommes oder was immer du willst, sobald Oliver zurück ist. Konzentrier dich, mein Schatz. Mama braucht ihren Tee. Elias ist ein heißer Daddy. Habe ich recht?«

Ben zog die Nase kraus. »Ich stehe nicht auf Daddys«, sagte er unsicher. »Es ist nicht böse gemeint.«

Emery leckte sich lachend über die feucht glänzenden Lippen. »Aber du gibst mir recht, dass Elias heiß ist, oder?«

»Ja, schon«, murmelte Ben. Oliver brachte ihre Drinks und Emery bestellte einige Snacks. Dann waren sie wieder allein. »Aber das ist nicht der Punkt. Er ist nett.«

»Oh, er ist sogar sehr nett«, gab Emery ihm recht und zündete die nächste Runde Absinth an.

Mist. Sollte Ben den noch trinken? Oh, zum Teufel aber auch… Dieser Tag war mit nichts vergleichbar, was er jemals erlebt hatte. Emery und er wiederholten das Ritual, kippten den Absinth ab und fingen zu husten an. Es war keinen Deut besser als beim ersten Mal.

»Süßer«, sagte Emery, nachdem er sich die Tränen aus den Augen gewischt hatte. »Es ist alles gut. Nichts spricht dagegen, dass du mit einem heißen Kerl eine Urlaubsreise unternimmst! Es ist so aufregend!«

»Nein«, stammelte Ben indigniert. »So ist das nicht! Ich bin sein Klient. Wie gesagt, er passt auf mich auf.«

»Mit all seiner Erfahrung über die britische Gesetzgebung.« Emery wackelte schelmisch mit den Augenbrauen und nippte an seinem Cocktail.

»Immer noch besser als meine nicht vorhandene Erfahrung über keine Gesetze.« Ihm fiel erst zu spät auf, dass er ihn angeschnauzt hatte. Schnell trank er einen großen Schluck Wasser. »Sorry«, murmelte er beschämt. »Es war ein seltsamer Tag und ich weiß genau, wie verrückt sich das alles anhört.«

Zu seiner Überraschung brach Emery in lautes Gelächter aus. »Babe«, sagte er und warf die Hände in die Luft. »Du hast gerade im Lotto gewonnen! Du reitest mit einem Prachtkerl von Mann in den Sonnenuntergang! Hossa!« Das letzte Wort näselte er mit einem – erbärmlichen – Oxford-Akzent und wedelte mit den Fingern.

Ben musste ebenfalls lachen, schüttelte aber gleichzeitig den Kopf. »Du findest wirklich, ich sollte diese bekloppte Idee mitmachen?«

Emery starrte ihn einen Moment lang wortlos an. »Aber sicher«, sagte er dann, als hätte Ben nicht alle Sinne beisammen. »Das Leben ist viel zu kurz, um eine solche Chance in den Wind zu schlagen. Wer weiß, was noch alles auf dich zukommt. Wenn dir Millionen von Dollar und ein so sexy erfahrener Mann geboten werden, dann packst du die Gelegenheit beim Schopf und versuchst, das Beste daraus zu machen. Bis zum Ende des Regenbogens.«

»Und was ist, wenn dort kein Topf mit Gold auf mich wartet?«, fragte Ben. »Und damit meine ich nicht nur das Geld. Was, wenn ich nur ausgenutzt werden sollte? Entweder von Elias oder meiner sogenannten Familie? Ich bin… nicht sehr lebenserfahren.«

»Süßer«, sagte Emery und griff nach Bens Hand. »Das wirst du nicht zulassen, hörst du? Diese Familie hat dir ausrichten lassen, dass du nicht kommen sollst? Fantastisch. Dann wirst du so schnell wie möglich dort auftauchen und ihnen zeigen, wer hier der Boss ist. Und ich gebe dir einen Tipp: Das bist du! Was immer auch passiert, du kannst jederzeit wieder nach Hause zurückkehren, wo du geliebt und akzeptiert wirst. Wenn du es nicht wenigstens versuchst und herausfindest, was passiert… Würde dich das zufriedenstellen?«

Selbst durch den Alkoholnebel in seinem Kopf konnte Ben noch erkennen, dass Emery recht hatte. Er brummte zustimmend. »Und Elias?«, fragte er und fügte dann hastig hinzu: »Nicht, dass zwischen uns etwas wäre!«

»Natürlich nicht«, erwiderte Emery verschmitzt und ließ sich alle Zeit der Welt, um an seinem Cocktail zu nippen und Ben über das Glas hinweg zu beobachten. »Aber wenn etwas passieren würde, wäre das auch in Ordnung. Weil das Leben nämlich auch zu kurz ist, um sich einen solchen Mann entgehen zu lassen. Halte dir einfach alle Optionen offen, mein Hübscher.«

Ben schnaubte kopfschüttelnd. Elias wäre an einem so jungen, unerfahrenen Mann wie ihm niemals interessiert. Ben mochte sich zwar mit Männern auskennen, aber nicht mit dem Leben. Was hatte er einem so klugen und erfolgreichen Mann wie Elias schon zu bieten?

Emery trat ihm mit der Stiefelspitze an den Fuß. »Versprichst du es mir, Babe?«

Ben lachte und rollte mit den Augen. »Ja, schon gut. Ich verspreche es«, sagte er, um seinen Freund zu beruhigen.

In diesem Moment wurden – Gott sei Dank – ihre Snacks geliefert und sie wurden wieder etwas nüchtern. Ben knabberte nachdenklich an seinen Zwiebelringen. Er konnte nicht behaupten, dass er nichts zu verlieren hätte. Es ging schließlich um eine Menge Geld.

Und dann war da sein Herz. Darauf musste er aufpassen, wenn er es nicht verlieren wollte. Eine Reise ins Ausland mit seinem Schwarm? Das war um Klassen gefährlicher als das gelegentliche Gespräch in der Bäckerei. Es war nicht auszuschließen, dass es ihm das Herz brechen würde.

Aber Emery hatte recht. Wie konnte er es nicht wenigstens versuchen? Er musste sehen, wohin ihn sein Weg führen würde. Wenn alles schiefging, hatte er wenigstens eine Geschichte zu erzählen und neue Erfahrungen gewonnen. Er konnte nicht darüber jammern, dass sein Leben langweilig war, wenn er bei der ersten Gelegenheit auf ein Abenteuer den Schwanz einzog.

Die nächsten Cocktails bestätigten ihn in seinem Entschluss. Ja, es war ein verrückter Plan. Aber das Leben war langweilig, wenn man immer nur auf der sicheren Seite stehen wollte.

Er musste es wenigstens versuchen. Und wenn er dabei noch einen so wunderbaren Mann an der Seite hatte… einen Mann, der so bezaubernd lächeln konnte und an Ben glaubte? Nun, dann konnte das jedenfalls nicht schaden.

Bright Horizon

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