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Kapitel 2

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Elias

Eines war sicher – so hatte sich Elias diesen Morgen nicht vorgestellt.

Er freute sich immer darauf, das Rise and Shine zu besuchen. Natürlich gab es dort auch köstliches Gebäck, aber vor allem konnte er diesen liebenswerten jungen Mann sehen. Er schien fast jeden Tag dort zu arbeiten und wenn das einmal nicht der Fall war oder er gerade einen anderen Kunden bediente, war Elias jedes Mal enttäuscht.

Auf dem Namensschild des jungen Mannes stand Ben. Elias vermied es, bei sich diesen Namen zu benutzen, weil es ihm irgendwie merkwürdig vorkam. Es war wie ein unfairer Vorteil, weil Ben keine Ahnung hatte, wie Elias hieß.

Aber jetzt war dieses Problem gelöst.

»Ben, kannst du mich hören?«, fragte er, der Panik nahe.

Als Ben umgekippt war – und das war nach der plötzlichen Mitteilung, er wäre ein potenzieller Millionär, nur verständlich –, hatte sich Elias sofort neben ihm auf den Boden gekniet und seine Ausbildung in Erster Hilfe angewandt. Glücklicherweise schien Ben nicht mit dem Kopf aufgeschlagen zu sein. Elias hatte ihn auf den Rücken gerollt und ihm die Beine hochgelegt. Jetzt kniete er mit einem Bein auf dem Boden und kam sich vor, als wollte er Ben einen Heiratsantrag machen.

Es war verrückt.

Ben blinzelte. »Was…?«

Elias seufzte erleichtert und nickte Lars, dem Besitzer der Bäckerei, zu, der unruhig neben ihnen stand. Die Kunden hatten sich ebenfalls um sie versammelt und beobachteten besorgt, was vor sich ging. Sie hatten heute schon Einiges geboten bekommen – erst den Auftritt von Mr. Cabot, dann Bens Ohnmachtsanfall.

»Immer mit der Ruhe«, sagte Elias, als Ben sich wieder aufrichten wollte. »Warte noch einen Moment, bis sich dein Kreislauf wieder stabilisiert hat. Du bist einfach umgefallen.«

Ben ließ sich von Elias sanft auf den Boden zurückdrücken. Elias konnte nicht verhindern, dass sein Körper auf den Kontakt reagierte. Es war ihm unheimlich, weil Ben mindestens zwanzig Jahre jünger war als er selbst und gerade mitten in einer Krise steckte. Jetzt war wirklich nicht der geeignete Zeitpunkt, um für einen so jungen Kerl zu schwärmen.

Aber die Botschaft drang nicht bis zu seinem Schwanz durch.

»Ich komme mir so lächerlich vor«, murmelte Ben, faltete die Hände auf dem Bauch und schaute sich um.

Elias grinste. »Du siehst auch lächerlich aus, also ist das verständlich.«

Ben stöhnte. »Arschloch«, sagte er und grinste ebenfalls.

Flirteten sie etwa? Uff. Elias musste sich zusammenreißen. Sie durften nicht flirten. Ben war viel zu jung. Nur weil er so erwachsen wirkte, hieß das noch lange nicht, dass Elias seinen Fantasien einfach so nachgeben durfte.

Elias war vor einigen Jahren nach Pine Cove zurückgekehrt, weil das Großstadtleben seinen Reiz verloren hatte. Er war schon immer ein Stammkunde der Bäckerei gewesen und als vor anderthalb Jahren der wunderschöne junge Mann mit seinen honigblonden Locken und den braunen Augen angefangen hatte, im Rise and Shine zu arbeiten, war er Elias sofort aufgefallen. Ben hatte etwas an sich, das Elias' Herz höherschlagen ließ.

Genug davon. Seine Gedanken waren schon unter normalen Umständen unangemessen. Und nach allem, was Ben heute widerfahren war, galt das erst recht.

»Ich denke, du kannst jetzt aufstehen«, sagte Elias. »Falls du dich danach fühlst.«

Ben nickte, legte die Beine auf den Holzfußboden und setzte sich auf. Es war auf eine altmodische Art idyllisch hier, deshalb war die Bäckerei bei ihren Kunden so beliebt. Auf den Regalen an den Wänden standen alte Getreidesäcke mit ausgebleichten Aufdrucken und in alten Gießkannen aus Blech blühten Blumen. Die Speisekarte war mit Kreide auf Wandtafeln geschrieben und im Schaufenster stand ein altes Fahrrad mit einem Einkaufskorb am Lenker, in dem ebenfalls Blumen blühten – selbst zu dieser Jahreszeit.

Elias fühlte sich immer gleich wie zu Hause, wenn er die Bäckerei betrat.

Ben runzelte die Stirn und sah ihn verwirrt an. »Hast du das eben wirklich gesagt oder habe ich es mir nur eingebildet?«, fragte er verzagt. »Das mit den fünfundsechzig… hm…« Millionen Dollar. Kein Wunder, dass er aus den Latschen gekippt war.

»Na ja, im Testament ist von fünfzig Millionen Pfund die Rede, aber ich habe kürzlich den Wechselkurs nachgesehen. Also ja…« Elias nickte. »Hey, meinst du, dein Boss würde dir eine Pause erlauben? Dann könnte ich dir helfen, die Unterlagen genauer durchzugehen.«

Ben riss die Augen auf. »Ich kann mir keinen Anwalt leisten«, stammelte er.

Elias schnaubte. Er konnte es nicht verhindern. »Ich denke schon«, sagte er und hoffte, Ben nicht zu weit zu treiben. Aber Ben verstand den Witz und rollte lachend mit den Augen. Elias wusste, wie kompliziert die Angelegenheit war. »Aber ich meine es ernst. Mach dir keine Sorgen. Meine Firma übernimmt auch einen bestimmten Anteil von Fällen umsonst, wenn sich jemand die Kosten nicht leisten kann. Ich habe im Moment keine dringenden Fälle und deshalb Zeit. Was meinst du? Glaubst du, dass dich Lars kurz entbehren kann?«

»Geht nur!« Die beiden schauten auf. Hinter der Theke stand Lars und winkte sie weg. »Die anderen sind hier«, sagte er mit seinem leichten Akzent, den Elias schon vor längerer Zeit als holländisch erkannt hatte. »Wir schaffen das schon. Die Sache ist jetzt wichtig für dich.«

Das war sie.

Elias half Ben lächelnd auf die Beine. »Hast du was dagegen, wenn wir ins Sunny's gehen? Wir können uns in eine Nische setzen und frühstücken. Dort sind wir ungestörter.«

Die Erleichterung in Bens Gesicht ließ Elias' dummes Herz tanzen. Ben war ihm nur dankbar. Es war kein Date. Elias musste wieder zu seiner Professionalität zurückfinden.

»Das hört sich prima an«, meinte Ben. »Ich hole nur schnell meine Sachen.«

Einige Minuten später schlenderte sie im Schein der Novembersonne den Bürgersteig entlang. Halloween war schon vorbei und die Läden bereiteten sich auf Thanksgiving vor. Die Luft war frisch und kalt, aber in ihren dicken Jacken und mit Handschuhen war es sehr angenehm.

»Ich muss dich vorwarnen«, sagte Elias, als sie das Diner betraten. »Ich bin amerikanischer Anwalt. In Großbritannien sind die Gesetze etwas anders und es kann sein, dass ich dir in einigen Punkten keine Ratschläge geben kann.«

Ben schnaubte. »Meine Rechtskenntnisse beschränken sich auf diese Fernsehserie mit den beiden heißen Typen, von denen einer nur so tut, als ob er Anwalt wäre.«

Er warf Elias einen Blick zu. Elias fühlte sich, als würde er auf die Probe gestellt. Aber es fühlte sich nicht wie eine Prüfung an.

Eher wie ein Geschenk.

Ben hatte gerade indirekt zugegeben, auf Männer zu stehen.

»Ja, die Chemie zwischen den beiden war toll«, sagte Elias kopfschüttelnd. »Ich mochte auch die Freundin, aber ich hätte sie am liebsten immer sanft aus dem Weg geschubst.«

Dieses Mal war Bens Erleichterung mit Händen greifbar und Elias freute sich darüber. »Ich wollte sie immer mit der frechen Staatsanwältin verkuppeln.«

Es war so einfach und locker, mit Ben über eine Fernsehserie zu schwatzen, während sie sich dem Sunny Side Up näherten. Elias gab den Kampf auf und fand sich damit ab, dass sie nichts Falsches taten. Es gab keinen Grund, warum er die Unterhaltung mit einem attraktiven jungen Mann nicht genießen sollte.

Er hatte mittlerweile sogar den Verdacht, dass Ben nicht mehr so jung war, wie er zuerst vermutet hatte. Sicher, Ben war ein kleiner, zierlicher Mann, aber in seinen Augen lagen eine Schärfe und eine Intelligenz, die ihn wesentlich älter wirken ließen.

Elias entgingen Tyee Perkins' neugierige Blicke nicht, als er mit Ben das Sunny's betrat. Es roch köstlich nach Bratkartoffeln und frischem Kaffee. Elias mochte die beiden Ehemänner gern, die das Diner betrieben. Besonders der freundliche, offenherzige Tyee, der sich meistens um die Gäste kümmerte, war ein sehr netter Mann. Trotzdem hoffte er, dass Tyee jetzt keine peinliche Bemerkung machen würde.

Glücklicherweise hielt Ben immer noch den weißen Umschlag umklammert und machte einen so verwirrten Eindruck, dass Tyee sich auf eine höfliche Begrüßung beschränkte. »Eine Nische zum Frühstücken und Arbeiten?«, erkundigte er sich und zog zwei Speisekarten aus dem Ständer.

Elias lächelte erleichtert. »Ja, danke.«

Als sie durch das gut gefüllte Diner gingen, fiel ihm Micha, Tyees jüngster Sohn, auf, der fröhlich eine Gruppe junger Mütter mit Kinderwagen bediente. Micha sah ihn nicht, aber das war in Ordnung. Elias kannte Michas Freund Swift und rechnete sich an, einen kleinen Beitrag dazu geleistet zu haben, dass die beiden jetzt ein Paar waren. Er freute sich immer sehr, wenn zwei Menschen zusammenfanden.

Auch wenn es ihn jedes Mal ein klitzekleines bisschen traurig stimmte.

Er schüttelte sich innerlich. Er hatte nicht das Recht, die glücklichen Paare zu beneiden. Er war Herr über sein eigenes Schicksal. Vielleicht standen auch für ihn eines Tages die Sterne richtig und er fand den richtigen Mann. Aber jetzt hatte er anderes zu tun.

Elias hatte seinem Chef schon eine Nachricht geschickt und ihn darüber informiert, dass er sich wegen eines unerwarteten Klienten verspäten würde. Er war ein sehr zuverlässiger Mitarbeiter, deshalb hatte er kein schlechtes Gewissen. Sein Chef sah das genauso und richtete ihm aus, er solle sich Zeit lassen.

Nachdem sie bei Rosa, Tyees Enkelin, ihre Bestellung aufgegeben hatten, machten sie sich an die Arbeit.

»Dann bin ich jetzt… Millionär?«, fragte Ben über Kaffee und Orangensaft. Er hatte drei Löffel Zucker in den Kaffee gegeben und rührte ihn gedankenverloren um, während er an die Wand starrte, als hoffte er, dass sich ein Loch auftun würde und er entkommen könnte.

Elias hätte aus gesundheitlichen Gründen eigentlich keinen Kaffee bestellen sollen, hatte aber seine letzte Tasse nicht ausgetrunken und nahm sich jetzt vor, den Rest des Tages nur noch grünen Tee zu trinken. Er beneidete Ben um seinen sorglosen Umgang mit Nahrungsmitteln.

»Es sieht so aus«, erwiderte er, trank einen Schluck Kaffee und leckte sich über die Lippen.

Ben rieb sich die Schläfen. »Es ist verrückt. Wie kann mir eine Dame aus England, von der ich noch nie gehört habe, ein solches Vermögen hinterlassen? Kein Wunder, dass ihre Familie stinksauer ist.«

Elias neigte den Kopf zur Seite. »Wie dem auch sei, es gibt einen guten Grund dafür, dass ein Testament der letzte Wille genannt wird. Es war ihr Wille und sie sollten ihn ehren.«

»Und wenn ich das Erbe gar nicht antreten will?«, fragte Ben ernst. Elias wurde warm ums Herz. Sicher, es war kitschig, aber Ben war so herzerfrischend unbedarft. Die meisten Menschen würden sich vermutlich die Finger lecken, wenn man ihnen ein solches Erbe anbot.

»Du willst die fünfundsechzig Millionen Dollar nicht?«, fragte er nach.

Bens Mundwinkel zuckten. »Das habe ich nicht behauptet«, gab er zu und brachte Elias damit zum Schmunzeln. »Es ist nur… Ich komme mir vor, als würde ich die rechtmäßigen Eigentümer bestehlen. Ihnen ihr Haus und ihr Geschäft abnehmen. Kein Wunder, dass sie mich hassen und nicht in ihrer Nähe sehen wollen. Was weiß ich schon über Apfelbäume? Oder die Herstellung von Apfelmost? Ich habe irgendwo gelesen, dass der Most in Europa Alkohol enthält. Ich darf erst seit zwei Jahren in der Öffentlichkeit Alkohol trinken!«

Er war also dreiundzwanzig. Definitiv älter, als Elias vermutet hatte, aber immer noch zu jung für einen Mann von neununddreißig.

Er lehnte sich trotzdem über den Tisch, legte die Hand auf Bens und rieb ihm mit dem Daumen über den Handrücken. »Es ist eine große Verantwortung. Aber…«

»Was?«, fragte Ben und zog die Augenbrauen hoch.

Elias zuckte mit den Schultern. »Nach allem, was ich in meiner beruflichen Laufbahn schon erlebt habe, muss ich dich einfach warnen. Es könnte eine Betrugsmasche sein.«

Ben runzelte die Stirn. »Wie denn das?«

»Da bin ich mir noch nicht so sicher«, erwiderte Elias. »Aber ich weiß aus Erfahrung, dass man lieber wachsam sein sollte, wenn etwas zu gut ist, um wahr zu sein. Und dieses Testament kommt mir vor wie ein Filmdrehbuch.«

»Wem sagst du das«, meinte Ben schnaubend. »Ich komme mir vor wie Harry Potter, als er den Brief aus Hogwarts bekommen hat.«

Elias' Herz flatterte. Er liebte Harry Potter, obwohl er die Bücher als erwachsener Mann gelesen hatte.

Er lächelte Ben verständnisvoll an. »Andererseits könnte es auch genau das sein, was es zu sein scheint. Die Anwaltskanzlei in London existiert wirklich. Aber es könnte auch eine andere Form von Betrug oder Täuschung dahinterstecken.«

Ben kniff die Augen zusammen. »Vom Rest der Familie. Es kommt mir merkwürdig vor, dass sie mich nicht in London sehen wollen und das Testament dieser Frau anfechten.« Elias war stolz auf ihn. Ben war ziemlich clever.

»Das stimmt«, gab er Ben recht. Dann wurde ihr Frühstück gebracht. Dampfende Hafergrütze für ihn und ein ganzer Stapel glänzender, süß duftender Bananenpfannkuchen für Ben. Das Diner war gut gefüllt. Überall unterhielten sich Gäste und das Klirren von Besteck war zu hören, aber Elias kam sich vor, als wäre er hier mit Ben allein in ihrer eigenen, kleinen Welt. »Und wenn das der Fall sein sollte und Mrs. Grimaldi de Loutherbergh dich wirklich als Alleinerben eingesetzt hat… Welches Recht haben sie dann, ihr Testament anzufechten?«

»Mr. Cabot hat sich sehr deutlich ausgedrückt«, sagte Ben mit leiser, zitternder Stimme.

Elias' Nackenhaare stellten sich auf, als er den Namen hörte. Er hasste es, wenn Menschen wie dieser Mr. Cabot versuchten, andere einzuschüchtern und um ihr Recht zu bringen. Elias fragte sich, ob der Kerl wirklich Anwalt war oder vielleicht nur ein angeheuerter Schlägertyp.

»Er hat keine rechtliche Grundlage für seine Forderungen«, sagte er. »Du kannst jederzeit nach London reisen und deinen Anspruch verteidigen. Wenn ihnen das nicht passt, haben sie Pech gehabt.«

Ben stöhnte und pikste die Gabel in seinen Pfannkuchen. »Ich komme mir so gierig vor. Und warum sollte ich es überhaupt akzeptieren? Ich wusste nichts von der Frau, als sie noch am Leben war. Grandpa ist schon vor fünfzehn Jahren gestorben. Warum hat sie sich nicht bei mir gemeldet, solange sie noch lebte?«

Elias schüttelte den Kopf. »Wenn dir das Erbe zusteht, solltest du darum kämpfen. Deine Urgroßmutter wollte dir ihr Vermögen hinterlassen – warum auch immer. Warum solltest du es also nicht bekommen?«

Ben überlegte eine Weile. »Ich weiß auch nicht. Vielleicht hast du recht.« Es hörte sich nicht sehr überzeugt an. »Aber was könnte ich denn tun? Ich sitze hier in Pine Cove und muss abwarten, was sie dort gegen mich unternehmen. Ich meine… Könnte ich denn einen Anwalt aus England beauftragen, mich zu vertreten?«

»Das könntest und solltest du tun«, stimmte ihm Elias zu. »Würdest du denn in Erwägung ziehen, selbst nach London zu fliegen?«

Ben lachte laut. »Mit einem Last-Minute-Flug? Was würde mich das kosten? Ich habe dazu nicht das Geld und wäre ein Narr, einfach Tausende von Dollars Schulden zu riskieren, die ich vielleicht nie zurückzahlen kann. Wer weiß, ob ich jemals auch nur einen Cent dieses Erbes sehe.«

»Das ist sehr vernünftig gedacht«, gab Elias ihm recht.

Aber es ging um Bens ganzes Leben. Diese Erbschaft konnte alles für ihn ändern. Alles. War es da fair, fremde Menschen darüber entscheiden zu lassen, ob Ben das Erbe antreten konnte, das seine Urgroßmutter ihm zugedacht hatte?

Die nächsten Worte rutschten ihm aus dem Mund, bevor er sie richtig zu Ende denken konnte.

Das Problem war nämlich nicht, dass Elias neununddreißig Jahre alt war. Das Problem war, dass er bald vierzig wurde. Und das machte ihm eine Heidenangst. Er hatte in den letzten Monaten oft darüber nachgedacht, dass er sich von Fehlern der Vergangenheit hatte beherrschen lassen, die ihn oft davor zurückhielten, das zu erreichen, was er sich von seinem Leben erhoffte. Und er hatte das dringende Bedürfnis, die verlorene Zeit nachzuholen.

Er dachte an Harry Potter und all die Bücher, die er als Kind gelesen hatte. Seine Midlife-Crisis hatte eine Abenteuerlust in ihm geweckt, wie er sie das letzte Mal als kleiner Junge verspürt hatte.

Und in diesem Moment erschien ihm sein Vorschlag die einzig vernünftige Lösung zu sein.

Bis er ihn laut ausgesprochen hatte.

»Ich habe noch Unmengen an Flugmeilen gut.«

Ben hielt inne und starrte ihn an. Von der Gabel mit dem Pfannkuchen, die sich auf halbem Weg zu seinem Mund befunden hatte, tropfte glänzender Sirup. »Hä?«

Hä. Das Wort traf es auf den Punkt.

»Ich meine, äh…«, stammelte Elias kopfschüttelnd. »Vergiss es. Es ist verrückt.«

Ben ließ die Gabel auf den Teller zurücksinken und runzelte die Stirn. »Ja. Nein. Ich könnte deine Flugmeilen niemals annehmen.«

Elias knabberte an der Unterlippe. War es denn wirklich so verrückt? »Die Sache ist die…«, fing er an. »Der Grund dafür ist nämlich, dass ich sie nie nutze. Ich fliege ständig aus beruflichen Gründen, aber wenn ich mir Urlaub nehme, verbringe ich ihn hier in der Stadt mit Freunden. Also verfallen sie nur.«

Ben sah ihn ernst an. »Das willst du für mich tun? Du kennst mich doch erst seit einigen Stunden.«

Elias leckte sich über die Lippen. Ja. Wenn man es so formulierte, hörte es sich wirklich verrückt an. »Tut mir leid«, murmelte er. »Es hört sich vielleicht an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aber ich löse gerne Probleme.«

Zu seiner Überraschung brach Ben in lautes Gelächter aus. »Nein, es hört sich eher verdammt großzügig an. Elias, wenn du das ernst gemeint hast, dann… wäre das unglaublich nett von dir. Ich… ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll.«

Vielleicht war es doch nicht so verrückt. Oder unheimlich. Was auch immer.

Vielleicht war es genau das Abenteuer, nach dem Elias gesucht hatte.

»Ich könnte dir den Flug buchen«, sagte er. »Das wäre absolut kein Problem. Aber…« Er schnaufte. Wenn er schon ins kalte Wasser sprang, sollte er gleich mit dem Kopf voraus springen. »Ich könnte dich auch begleiten, damit du Unterstützung hast, wenn du mit diesen Leuten redest. Außer… Sorry. Das ist lächerlich. Du hast vermutlich einen Freund oder Eltern, die dir helfen können.«

Ben zog schnaubend die Augenbrauen hoch. »Keinen Freund. Und meine Eltern reisen nicht. Sie sind schon ziemlich alt und überfordert, wenn sie nur die Stadt verlassen müssen. Ich kann mich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal den Staat verlassen haben, von Amerika gar nicht zu reden. Ihr Lebensmotto ist: Nur keine Aufregung.«

»Oh«, sagte Elias und unterdrückte die Hoffnung, die in ihm aufkeimen wollte. Jetzt, nachdem er diesen verrückten Plan vorgeschlagen hatte, wollte er ihn auch durchziehen. Wann hatte er das letzte Mal eine so spontane Entscheidung getroffen? »Nun, dann gibt es vielleicht einen Bekannten, der dich gerne begleitet. Ich schlage dir das nicht vor, weil ich einen Kurzurlaub in England einlegen möchte.«

Ben sah ihn merkwürdig an. »Das hatte ich auch nicht angenommen«, sagte er und es hörte sich ehrlich an. »Sicher, ich habe Freunde. Aber… Na gut, jetzt bin ich es, der sich verrückt anhört. Ich denke, ich wäre ein Idiot, wenn ich dein Angebot ablehne. Du kennst dich mit diesen Sachen aus. Du weißt, dass sich das englische Recht von unserem unterscheidet, aber du bist wenigstens ein Anwalt. Es muss doch auch Ähnlichkeiten geben, oder? Du merkst wenigstens eher als ich Landei, wenn sie mich übers Ohr hauen wollen.«

Elias konnte es nicht fassen. Hatte er richtig gehört?

Nun, wenn dem so war, handelte es sich um eine reine Geschäftsreise. Oder im besten Fall Hilfe unter Freunden. Es war nicht so, dass Ben ihn auf eine Reise in das Land eingeladen hatte, das er schon immer besuchen wollte.

Weil das so war. Elias hatte schon immer nach England reisen wollen. Sein ganzes Leben lang. Er wollte Ben nicht dazu benutzen, sich diesen Wunsch zu erfüllen. Aber andererseits war es nur ein glücklicher Zufall. Elias hatte es nicht geplant.

»Ich könnte dir wirklich helfen«, sagte er und stocherte in seiner Hafergrütze. Sie war schon kalt geworden und er hatte kaum einen Bissen gegessen. »Bei mir klingeln in dieser Sache sämtliche Alarmglocken. Ich hätte ein sehr schlechtes Gefühl, wenn du allein mit ihnen verhandeln müsstest.«

Ben lachte und sah ihn durch seine langen, goldenen Wimpern an. Elias' Herz fing zu flattern an. »Haben wir beide den Verstand verloren? Ich glaube, wir haben vor heute Früh noch keine hundert Worte gewechselt. Aber… mir gefällt dein Vorschlag. Wenn mein Leben schon total auf den Kopf gestellt wird, will ich wenigstens mit dem Kopf zuerst ins kalte Wasser springen.«

Elias rieb sich kopfschüttelnd die Schläfe. »Genau das habe ich eben auch gedacht.«

Ben legte das Besteck ab und schob den fast vollen Teller zur Seite. »Ich will nicht, dass du dich verpflichtet fühlst. Du musst mich nur begleiten, wenn du es wirklich willst. England ist verdammt weit weg.«

Elias lächelte gerührt. Er war so lange nicht mehr international geflogen, dass er sich nichts Schöneres vorstellen konnte. »Ich wollte schon immer nach England reisen. Seit ich als Kind Die Chroniken von Narnia gelesen habe.«

»Oh mein Gott! Ich auch. Ich liebe diese Bücher!«, rief Ben begeistert und grinste.

Elias' Herz schlug einen Purzelbaum. Damit hätte er nicht gerechnet. Aber warum sollte Ben die Bücher nicht auch gelesen haben? Elias stellte fest, dass er Ben gewaltig unterschätzt hatte. Er war mehr als ein einfacher Bäcker. Und er wollte auch nach England reisen. Die meisten jungen Männer interessierten sich mehr für große Städte oder Partys am Strand als für die idyllischen Landschaften Großbritanniens.

Sie sahen sich schweigend an. In Elias' Brust regten sich Gefühle, für die er keinen Namen fand. Hoffnung? Begeisterung?

Ben lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Ein kleines Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Also wirklich…«, sagte er und seine Augen funkelten. »Ich tue dir also einen Gefallen, wenn ich dich mitkommen lasse?«

Elias lachte so laut, dass sich die anderen Gäste nach ihnen umdrehten, aber er beachtete sie nicht. Es war wie eine Mischung aus Erleichterung, Freude, Nervosität und Ungläubigkeit, alles in einem Bündel.

»Wir helfen uns gewissermaßen gegenseitig. Hört sich das nicht gut an?«

Ben grinste. Es war ein schelmisches, wunderschönes Grinsen und Elias spürte wieder dieses Flattern. Natürlich würde zwischen ihnen nichts passieren, aber er fühlte sich trotzdem so beschwingt wie lange nicht mehr.

Ben streckte den Arm aus. »Es hört sich an, als würden wir zu einem Abenteuer aufbrechen.«

Elias wusste nicht, ob Ben absichtlich auf den Hobbit anspielte, aber es passte. Er streckte ebenfalls den Arm aus und schüttelte Ben die Hand. Sie fühlte sich warm und fest an.

Ja, sie würden zu einem Abenteuer aufbrechen. Und Elias konnte kaum glauben, wie sehr er sich darauf freute, sich mit Ben gemeinsam auf eine Reise ins Unbekannte zu begeben.

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