Читать книгу Mein liebes, liebes Kind - Holde-Barbara Ulrich - Страница 10
4. Der Tod tritt herein
ОглавлениеIch bleibe jetzt bei ihr und gehe nicht mehr weg“, sagt Marie zu der Schwester, die ins Zimmer gekommen ist, um die Werte zu kontrollieren. „Puls 170, Blutsättigung 60, Temperatur 41“, liest sie die Zahlen ab und überträgt sie in die Krankenakte. Dann klammert sie die Akte wieder sorgfältig ans Bett und wendet sich Marie zu.
„Sie wollen hier bleiben? Das kann doch noch eine Ewigkeit dauern.“
Marie stockt der Atem. Was bedeutet dieser Satz: Das kann doch noch eine Ewigkeit dauern? Für Marie beschreibt er das schlimmste Unglück, das einem Menschen zustoßen kann, etwas Unvorstellbares, etwas das nicht zu ertragen ist. Er bedeutet das langsame, qualvolle Sterben des eigenen Kindes, ihrer erstgeborenen Tochter, die gerade erst achtzehn Jahre alt geworden ist. Das kann doch noch eine Ewigkeit dauern – was für ein unmenschlicher Satz!
Eine Ewigkeit dauern? – Nein, das kann es nicht, und das darf es auch nicht! Was redet die Schwester denn da?! Weiß sie nicht, was hier geschieht? Sieht sie nicht, dass Marie am Bett ihres sterbenden Kindes sitzt? Einer Sterbenden, die vor drei Monaten noch, an einem vor Kälte klirrenden Tag, mit ihrer Familie und ihrem Liebsten am Meer war und sich vor Glück in den Himmel reckte. Sie wird auch nicht wissen, dass der Krebs, ein unvorstellbar seltener, bösartiger, heimtückischer Krebs, ein Krebs, der so junge Menschen höchst selten anfällt, dieses Glück in Windeseile vernichtet hat.
Ja, eine Sterbende, die wegen ihrer Schmerzen und ihrer Todesangst vor Tagen ins Koma geschickt wurde, die seit Wochen nicht mehr sprechen kann, die auch das Sehen verloren hat, die nicht mehr imstande ist, ihren Kopf zu bewegen und nicht mehr allein atmen kann, die nur noch mit einem Schnitt in die Luftröhre in der Lage ist, mühsam dem Tod entgegen zu röcheln. Das alles steckt in dem grausamen Wörtchen das und schlägt jede Ewigkeit aus dem Feld. Wenn die Schwester meint, das Wort Ewigkeit verheiße vielleicht Trost, dann irrt sie sich, oder sie ist herzlos und abgestumpft. So unglaublich es scheint, Marie kann für Aline nur noch hoffen, dass sie so schnell wie möglich aus dieser Art Ewigkeit, bar jeder Hoffnung, erlöst werden wird.
Bleich und bewusstlos, wie sie da liegt, mit ihren dichten blonden Stoppelhaaren und den langen dunklen Wimpern auf ihren weißen Wangen sieht sie aus wie eine leblose, aus Wachs geformte Puppe. Aber noch lebt sie. Apparate, Spritzen und Infusionsnadeln bewegen ihren Kreislauf, stoßen den Takt ihres Herzens an, helfen ihr bei der schweren, knisternden Arbeit des Atmens und halten ihren Stoffwechsel in Gang.
Marie nimmt Alines leichte, schmale Hand, die schlaff auf dem Laken liegt, und drückt sie an ihre Wange, während die Schwester geübt den Sitz der Kanülen prüft. Als sie den Kopf der Kranken zur Seite hebt, sieht Marie, dass auch in die Halsbeuge eine Kanüle gepflanzt ist, was an dieser zarten, empfindlichen Stelle besonders grausam aussieht.
Es ist ihre Tochter, die hier liegt, ihr kleines Mädchen, mit dem sie von Anfang an ihr Herz teilt, so dass sie beide einherzig sind. Wie soll sie, wenn Aline jetzt stirbt, mit halbem Herzen weiterleben?
Einem plötzlich eintretenden Impuls beim Anblick der in der Halshaut steckenden Kanüle folgend, will Marie der Schwester, die immer noch an den Drähten, Kabeln und Schläuchen hantiert, diese Frage vorhalten. Aber sie tut es nicht. Die Schwester ist nicht zuständig für solche Fragen. Da müsste sie sich schon an Gott wenden, wenn es ihn gäbe, an das Schicksal vielleicht, wenn sie wüsste, was das ist, oder an einen allwissenden Psychologen.
Nein, sie will niemanden fragen. Was helfen Antworten, wenn sie ihr Kind nicht gesund machen können?! Selbst wenn ihr jemand erklären könnte, wie sie ohne Aline leben soll, würde sie es nicht wissen wollen. Erklärungen dieser Art sind sinnlos für sie, weil sie ohne ihr Kind vielleicht leben könnte, aber nicht leben will.
Plötzlich, panisch geradezu, steht sie von ihrem Stuhl auf und läuft erregt durch den Raum, so dass die Schwester, die gerade die Medikamente austeilt, erstaunt aufblickt. Gibt es denn überhaupt noch etwas, was sie für Aline tun kann, fragt sich Marie. Sie kann doch hier nicht einfach nur sitzen und auf den Tod warten!
Vor innerer Erregung beginnt sie zu zittern. Ganze Szenarien laufen durch ihren Kopf. Sie könnte Aline auf den Arm nehmen und sie nach Hause bringen, sie könnte sich gemeinsam mit ihr aus dem Fenster stürzen, sie könnte ein Schlafmittel nehmen, sich neben sie legen und mit ihr zusammen sterben...
Soll sie den Professor rufen, von ihm Rechenschaft verlangen, ihn zum Handeln auffordern? Und, falls er nichts tut, ihn des Totschlags bezichtigen?
Langsam sackt sie in sich zusammen, geht zu Alines Bett, setzt sich wieder neben sie. Es ist ohne Belang, ihr Kind noch in irgendein Recht zu setzen, jetzt, wo der Tod schon die Tür aufstößt. Begriffe wie Recht und Unrecht haben keine Bedeutung mehr. Das einzige Maß, das hier gilt, ist die Zeit. Sekunden, Minuten, die verrinnen, ganz und gar unabhängig von Besserung oder Verschlechterung, Leben oder Tod. Die Zeit verrinnt und nimmt Alines Leben mit. Die Zeit ist der Tod.
*
Die Schwester ist fertig mit ihren Verrichtungen und streicht dem Mädchen behutsam über den Kopf, hebt ihren Oberkörper ein wenig an und schüttelt ihr das Kissen auf. Aline reagiert mit einem knarrenden Ton aus dem Röhrchen, das aus der Schnittwunde unter dem Kehlkopf kommt. Marie erschrickt, nimmt es aber als Lebenslaut und ist dankbar dafür. Sie sieht hoch und versucht ein Lächeln. Die Schwester nickt ihr zu und sagt: „Ich besorge Ihnen einen Schlafsessel.“
Zwei Pfleger bringen kurz darauf einen Armlehnensessel aus dem Besucherraum und stellen ihn ans Fenster. Später kommt ein Arzt. Er blickt kurz auf den Monitor, ohne etwas zu sagen, und sieht vor sich hin. Dann erkundigt er sich, weil irgendetwas gesagt werden muss, nach Maries Befinden.
„Ich werde bei Aline bleiben“, sagt sie und weist mit dem Kopf auf den Sessel.
„Sie können unmöglich in dem Sessel schlafen, sie brauchen ein Bett. Ich kümmere mich darum“, sagt der Arzt, froh darüber, etwas veranlassen zu können, weil sonst nichts mehr zu veranlassen ist. Er geht mit einem freundlichen Kopfnicken aus dem Zimmer. Kurz darauf rollt ein Pfleger ein zweites Bett in den Raum.
Marie rückt es dicht an Alines Bettgestell heran und legt sich nieder. So eng, wie es geht, schiebt sie sich an die Kranke heran. Sie nimmt ihre Hand, streichelt ihr Gesicht, legt vorsichtig ihren Kopf auf Alines Schulter, spürt das tröstliche Pochen der Halsschlagader, küsst sie immer wieder, umfängt sie sacht, behält sie weinend in ihren Armen, bis sie erschöpft neben ihr einschläft.
Kurz vor halb sieben wacht sie auf. Ihr ist, als hätte sie jemand angestoßen. Das Gesicht von Nässe aufgequollen, blickt sie um sich. Nichts hat sich in dem Raum verändert. Alles ist so, wie wenige Stunden zuvor. Das milchige Licht der Nachtlampe fällt matt auf Alines Gesicht. Sie liegt unbeweglich in ihrem Bett. Aber die Stille um sie herum hat einen anderen Ton. Es fehlt etwas. Und plötzlich weiß Marie, was es ist: Das Rasseln des Luftholens ist verstummt. Aline atmet nicht mehr! Gleich darauf setzt der schrille Warnlaut des Kontrollgerätes ein. Marie springt aus dem Bett und stürzt den endlosen, leeren Klinikkorridor entlang. Laut ruft sie um Hilfe.
Die diensthabende Ärztin, die gerade einem anderen Notruf gefolgt war, kommt ihr eilig entgegen. „Was ist denn passiert?“, fragt sie.
„Sie atmet nicht mehr...“, stößt Marie hervor.
„Wie bitte?“
„Die Beatmungsmaschine schrillt!“
„Das passiert manchmal. Ihre Tochter wird gehustet haben, darauf reagiert das Gerät.“
Gehustet, hat sie gesagt, als ob das Kind noch husten könnte, mein Gott, wenn sie doch nur gehustet hätte – denkt Marie in ihrer Angst. Die beiden Frauen hasten in Alines Zimmer. Als sie in die geöffnete Tür treten, tönt das Gerät immer noch. Der Monitor zeigt eine lange gerade Linie, die 0-Linie des Todes
„Herzstillstand“, sagt die Ärztin in sachlichem Ton. Sie ruft keine Verstärkung, spritzt kein Medikament, unternimmt keine Wiederbelebungsversuche, setzt keinen Defibrillator in Gang. Das einzige, was sie macht, weil alles andere keinen Sinn mehr hat, sie befreit die Patientin, deren Herz stehen geblieben ist, von allem technischen Zubehör. Sie wendet sich zu Marie und sagt einige Sätze, deren Bedeutung nicht in ihr Bewusstsein gelangen. Dann geht sie hinaus und schließt leise die Tür hinter sich.
*
Marie setzt sich ohne Begreifen neben die Tote auf die Kante des Bettes und beschließt, solange hier zu bleiben, bis jemand sie abholen wird, um sie irgendwohin zu bringen. Denn ihr ist klar, dass mit einem Menschen, dessen Herz nicht mehr schlägt, irgendetwas getan werden muss.
Eine Schwester kommt ins Zimmer, eine andere als am Abend zuvor, und packt Alines Sachen zusammen. Es sieht aus, als solle sie verlegt oder entlassen werden. Sie geht um das Bett herum, in dem das tote Mädchen liegt, und verrichtet wortlos ihre Arbeit.
Marie sieht ihr zu. Als die Schwester endlich fertig ist und hinausgeht, spürt sie eine Erleichterung, als hätte sie nun endlich ihre Tochter zurück. Aline liegt da wie eine Schlafende, entspannt und erleichtert. Keine Drähte, keine Schläuche, keine Kabel mehr. Sie ruht sich aus. Endlich hat sie es geschafft! Es ist überstanden. Nicht so, wie es alle erhofft haben, aber so, wie es für sie in diesem Moment am besten ist.
Marie nimmt sie vorsichtig in die Arme, um vielleicht doch noch einen kleinen Rest Lebenswärme zu retten. Behutsam wiegt sie sie hin und her, als wolle sie ihr Baby in einen sanften Schlaf bringen. Während sie sie in ihren Armen hält, merkt sie, wie Alines Haut kälter wird. Sie erstarrt vor Schreck. Es ist, als hätte der Tod sie soeben berührt, um ihr die Wahrheit zu sagen.
Sie legt den Körper sacht auf das Kissen zurück und setzt sich zitternd wieder auf die Kante des Bettes. Sie spürt, was das für eine Macht ist, der Tod, und das sie nichts gegen ihn ausrichten kann. Hat es überhaupt einen Sinn, hier sitzen zu bleiben und auf etwas zu warten, was ihr das Herz zerreißen wird, fragt sie sich. Aber es geht gar nicht anders, sie muss hier bleiben, um ihrem armen, wehrlosen Kind bis zum bitteren Ende beizustehen - bis jemand kommt, ein Tuch über sie deckt und sie aus diesem Zimmer schiebt.
Sie rückt ans Fußende des Bettgestells und sieht Aline an.
Sieht, wie der Tod seine Arbeit verrichtet. Langsam, sorgfältig, unbeirrbar. Das Gesicht wird schmaler und spitzt sich zu. Die Haut spannt sich an gewissen Stellen und wird durchsichtig. Es wird nicht lange dauern, und sie kann Adern, Muskeln und Sehnen sehen. Ihr schaudert’s vor Kälte und Entsetzen. Sie bleibt jedoch fest entschlossen, ihre tote Tochter nicht im Stich zu lassen. Sie sitzt und schaut. Stille. Nur das Ticken der Uhr. Sie versinkt in sich. Schwankt ein wenig, der Blick erlischt, die Lider fallen zu. Der gefühllose Schlaf der Erschöpfung.
Irgendwann schreckt sie auf. Sieht das Kind. Weiß sofort, was geschehen ist. Noch bricht der Schmerz nicht los; Aline braucht sie noch. Unverändert liegt sie da. Beim näheren Hinsehen gewahrt sie, dass die Lippen sich blau gefärbt haben. Sie scheinen sich auch verschmälert zu haben, denn sie schließen sich nicht mehr ganz. Durch den offenen Spalt zwischen den Lippen kann sie mehr und mehr die Zahnlücke sehen. Diesen kleinen Schönheitsfehler, der ihr stets etwas Spitzbübisches verlieh, wenn sie lächelte oder redete. Eben etwas Besonderes.
Welches junge Mädchen hatte so etwas schon - eine Zahnlücke? Im Alter von sechs Jahren wird kurz und relativ schmerzlos das dünne Zahnbändchen durchschnitten, und schon wächst die Lücke zu. Auch bei Aline wurde es so gemacht, das hatte die Zahnärztin bereits im Kindergarten angeordnet. Aber die Zahnlücke wuchs nicht zu, sie blieb und wurde zu ihrem Markenzeichen.
Der Gedanke, Alines Lächeln mit der neckischen Zahnlücke nie mehr sehen zu können, ist von einer solchen Wucht, dass Marie ihre Hände, als müsse sie Halt suchen, in das Betttuch krallt, sie wieder losreißt, sich vom Bett hochstemmt und auf die Tote starrt. Es scheint ihr, als hätte der Mund sich ein wenig weiter geöffnet. Ihr fällt ein, dass man das Kinn von frisch Verstorbenen mit einem Band um den Kopf fixiert, so dass es nicht nach unten fallen kann mit heraushängender blutleerer Zunge.
Sie starrt unentwegt auf Alines Mund. Nun fällt ihr eine Unebenheit auf, die nicht ins Bild gehört. Die abgebrochene Zahnecke vorn... Sie zuckt zusammen, als hätte sie jemand bei etwas Verbotenem überrascht. Hatte sie Aline nicht hoch und heilig versprochen, mit dem Zahn käme alles wieder in Ordnung? Und nun? Einen Moment lang überlegt sie, ob sie einen Zahnarzt bitten könnte, den Schaden noch schnell zu reparieren. Als trage sie die Verantwortung dafür, dass ihr Kind, ihr wunderschönes Kind, nun mit einem Makel sein glückliches, reiches Leben verlassen müsse. Glücklich? Bei diesem Gedanken wird ihr überfallartig wieder die Zerstörung bewusst, die diesen zarten, weißen Körper heimgesucht und vernichtet hat. Ja, ein Vernichtungsfeldzug. Grausam und unerbittlich. Was bedeutet da das kleine Stück Zahn? „Nein“, schluchzt sie, „nein, nein nein...“
Nein, es geht nicht mehr, sie kann hier nicht länger bleiben, nicht noch mehr solcher Bilder in sich hineinziehen. Die Fratze des Todes auf dem geliebten Gesicht ihrer Tochter...
Lass alle Liebe weg und geh endlich fort von hier, sonst wirst du den Anblick nie mehr vergessen können!, fordert eine innere Stimme sie auf. Sie stürzt hinaus und hastet den Flur entlang.
Weg von hier – nur weg, weg, weg!