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6. Eine Tochter!

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Marie ist fünfundzwanzig als sie schwanger wird. Sie hat ihr Studium erfolgreich beendet und ist nun Bauingenieurin. Sie verdient gut und besitzt bereits eine eigene kleine Wohnung. Nützliche Kontakte in ihrem Bauunternehmen haben ihr dazu verholfen.

Zu allem Glück reagieren ihre Eltern begeistert, als sie von der Aussicht auf ein Enkelkind erfahren. Sie sagen ihrer Tochter jegliche Unterstützung zu. Trotzdem, sie ist sich nicht sicher. Es kommt alles so unerwartet, so schnell und ungeplant. Sie hatte nicht vor, jetzt schon Mutter zu werden. Und schon gar nicht mit Gerd als Vater. Sie kennt ihn schon lange, schon aus der Kinderzeit. Für beide wurde es die erste große Liebe.

„Ich war achtzehn und er sechzehn, und ich zeigte ihm, wie man küsst“, erzählt sie.

Durch die vielen Trennungen während des Studiums bleibt das Liebesgefühl lebendig. Aber seit sie sich wieder täglich sehen, ist es abgeflacht. Marie erkennt, den Höhen und Tiefen des Zusammenlebens hält diese Liebe nicht Stand.

„Nicht dass wir uns ständig gestritten haben, wir hatten uns einfach nichts mehr zu sagen. So etwas passiert. Es ist auch nicht tragisch, aber dann muss man sich trennen“, sagt sie.

In der Nacht, als sie ihm ihre Haltung erklären will, überfällt sie ein völlig überflüssiger Wehmutsanfall. Sie schläft noch einmal mit ihm. Am Morgen darauf muss er verreisen. Für ein Gespräch bleibt keine Zeit. Sie ärgert sich über die verpasste Gelegenheit. Noch bevor er zurückkommt, weiß sie, dass sie schwanger ist.

Das Trennungsgespräch schiebt sie erstmal beiseite, stattdessen erzählt sie ihm von der Schwangerschaft. Er freut sich nicht, sagt ein paar belanglose Sätze, bleibt unentschlossen. Nur einen Moment lang erwägt sie abzutreiben.

„Ich horchte in mich hinein, um eine Antwort zu finden. Und dabei merkte ich, dass ich bereits begonnen hatte, mein Baby zu lieben.“

Gerd überbringt eine Nachricht von seinen Eltern. Keine Freude, kein Glückwunsch, kein frohes Erwarten. Eher ein unentschlossenes Hin und Her. Am Ende kommt ein „Besser-wohl-nicht“ dabei heraus. Gerd steht hinter dieser Entscheidung. Er gibt zu bedenken: „Überleg doch mal, wie viel Geld so ein Kind kostet.“

Das ist die Gedankenwelt seiner Mutter, zu der Marie kein besonders vertrautes Verhältnis hat. Und wie zur Bestätigung dieser Vermutung gibt sie für Marie einen Zettel mit, auf dem der Termin einer Abtreibung vermerkt ist. Sie hat also hinterrücks schon alles geregelt.

Als ihr Gerd das Stück Papier übergibt, sieht er ihr nicht in die Augen. Mit Blick auf den Zettel sagt er: „Wenn du nicht abtreibst, müssen wir uns trennen.“ Er ahnt nicht, wie leicht er es ihr mit dieser Bedingung macht.

„Okay, dann trennen wir uns“, antwortet sie ohne Bedauern, da ist sie im vierten Monat.„Ich fand mich ab, denn es gab keinen Grund zu klagen. Mein Leben war in Ordnung. Ich hatte einen Beruf, verdiente Geld, besaß eine eigene Wohnung, und meine Eltern freuten sich auf ihr Enkelkind. Es fiel mir leicht, meinem innersten Gefühl zu folgen und mich auf mein Kind zu freuen. Und ich wusste von da an, dass es immer, was auch geschehen würde, mein über alles geliebtes Kind sein würde.“

Die Schwangerschaft verläuft ohne Probleme. Marie wird immer runder und schöner. Dass sie gynäkologisch besonders fürsorglich betreut wird, liegt an dem für damalige Verhältnisse außergewöhnlich hohen Alter dieser Erstgebärenden. Sie geht auf die sechsundzwanzig zu.

*

Der errechnete Geburtstermin ist der 11. Juli 1984. Sechs Tage vorher setzen starke Wehen ein. Ihr Vater, ein Pilot, der gerade auf Urlaub zu Hause ist, bringt sie ins Krankenhaus. Zwei Tage hängt sie am Wehentropf. Nach sechsundzwanzig Stunden Quälerei entscheiden sich die Ärzte für eine Operation. Marie hat vierzig Grad Fieber und einen Blutdruck von hundertachtzig. Am 7. Juli wird das kleine Mädchen Aline mit einer Glocke ins Leben gesaugt.

Marie ist vom ersten Blick an hingerissen von ihrem Kind. Täglich wartet sie mit Ungeduld darauf, dass die Kleine zum Stillen gebracht wird. Und wenn die Schwester sie wieder abholt, ist es ein schwerer Abschied.

Die Operationswunde heilt mühsam. Marie muss zwei Wochen länger in der Klinik bleiben. Es ist kein Drama, ihr Kind ist ja bei ihr.

Eine der ersten Besucherinnen ist Gerds Mutter, die das Kind von Anfang an abgelehnt hat. Marie erscheint es, als wolle sie sich rächen, als sie ihre Prophezeiung hört: „Meine Freundin hat genauso unnatürlich entbunden wie du, und ihr Kind ist bald darauf gestorben.“

Marie haftet dieser Satz ein Leben lang an. Bei der kleinsten Unpässlichkeit ihres Kindes versetzt er sie in irrationale Ängste. Zu Hause, in ihrer kleinen Wohnung, die ganz auf das Baby eingestellt ist und aussieht wie eine Puppenstube, fühlt sie sich mit dem kleinen Mädchen geborgen. Unter der Fürsorge ihrer Mutter wird sie schnell wieder gesund und vergräbt ihre Ängste.

Anderthalb Jahre bleibt sie zu Hause und kümmert sich um Aline. Die Kleine kann mit einem Jahr laufen und braucht ein halbes Jahr später keine Windeln mehr. Sie ist ein auffallend hübsches und freundliches kleines Mädchen. Und wenn es mit seiner lustigen Zahnlücke lächelt, hat es die halbe Welt gewonnen. Später hört Marie, dass in Afrika eine Zahnlücke als besonderer Schutz- und Gunstbeweis der Götter gilt. Von da an steht fest, sie wird sie nicht noch einmal korrigieren lassen. „Meine Tochter war mein Leben, und es gab kein anderes neben ihr“, sagt sie.

Der leibliche Vater kommt selten. Meist zu Gelegenheiten, zu denen sich Väter anstandshalber sehen lassen: Geburtstage, Weihnachten, ab und an auch zu Ostern. Er ist freundlich, bringt kleine Geschenke mit und erkundigt sich nach diesem und jenem. Sehnsucht nach dem Kind ist nicht zu bemerken.

Das kleine Mädchen nimmt wahr, dass der Mann, der ihr Vater ist, sie nicht vermisst in der langen Zeit, in der er unsichtbar bleibt. Nach seinen Besuchen vergisst auch sie ihn immer wieder schnell. Als sie größer ist, erzählt ihr Marie von ihrem Vater. Sie lässt ganz bewusst nicht aus, dass er der Schwangerschaft damals skeptisch gegenüber stand. Immer in Sorge um das Wohlergehen ihrer Tochter erkundigt sie sich später einmal vorsichtig bei ihr, ob ihr womöglich der Vater fehle. Alines Antwort ist kurz und schlüssig: „Er wollte dich nicht, dann will ich ihn auch nicht.“

*

Unsere kleine Prinzessin ist nun schon sechs Jahre alt geworden. Wir haben so schön Geburtstag gefeiert. Mit Oma und Opa und mit der anderen Oma, die sie inzwischen auch in ihr Herz geschlossen hat. Ihr Vater war auch kurz da, aber Alinchen hat das nicht besonders beeindruckt. Sie ist schon so vernünftig. Sie sieht, was ihre Mama macht und sie sieht, wie sich dieser Mann verhält, der sie ab und zu besucht. Und so entscheidet sie einfach mit ihrem Herzen. Ich bin froh, dass sie ihn nicht vermisst, obwohl ich nie ein schlechtes Wort über ihn verloren habe. Er kommt einfach zu selten und dazu noch ohne große innere Anteilnahme. Das empfindet ein Kind eben sehr schnell.

Aber dafür lieben wir die Kleine umso mehr. Ich natürlich sowieso und Oma und Opa auch. Die beiden reißen sich Arme und Beine aus für die geliebte süße Maus. Wenn ich sie nicht hätte, sähe es ziemlich finster aus, zumal ihre andere Oma, die unsere kleine Aline angeblich so überschwänglich liebt, ins Ausland verzogen ist. Aber an das alles will ich gar nicht denken. Und schon gar nicht an die unglaubliche Sache mit der bereits vorbereiteten Abtreibung.

Mein liebes, liebes Kind

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