Читать книгу Rock wie Hose - Holger Hähle - Страница 3
Vorwort
ОглавлениеEigentlich sollte es eine der Fragen sein, die die Welt nur am Rande interessiert. Was ziehe ich an? Das ist doch nur mir wichtig für das ganz persönliche Wohlgefühl und vielleicht noch für meine Freundin. Tatsächlich sind aber Schüler schon von Schulen verwiesen worden und wurde Arbeitnehmern gekündigt, wenn sie mit den allgemeinen Bekleidungsgewohnheiten brachen. Dabei gibt es bei uns für Privatpersonen keine vorgeschriebene, geschlechtsspezifische Kleiderordnung. Wir sind frei in unserer Kleiderwahl. Für alle gilt Bekleidungsfreiheit. Warum nimmt dann die Öffentlichkeit Anteil daran, was wir anziehen?
Am Anfang war der Rock. Er hat über Jahrtausende unsere Modegeschichte bestimmt. In jeder alten Kultur wurde er getragen. Es hat ein paar tausend Jahre gebraucht, überhaupt die Hose zu erfinden. Bis dahin hatten die Männer kein Problem damit, ein Patriarchat im Rock zu etablieren. Trotzdem ist der Rock heute überwiegend weiblich und trennt die Geschlechter. Wie geht so etwas? Muss das so sein? Ist das ein Fortschritt? Feiern wir nicht gerade als moderne Menschen unsere Freiheit und Gleichheit? Hat sich das Verhältnis zwischen Frauen und Männern nicht auch deswegen verbessert, weil wir unsere Gemeinsamkeiten immer mehr entdecken? Wieso schränken wir uns dann durch die Bekleidung weiter ein?
Viele Dinge, und die Kleiderwahl gehört dazu, werden uns als weiblich oder männlich präsentiert, obwohl sie im intrinsischen Sinne nichts mit einer Geschlechtlichkeit zu tun haben. Ihr Status kommt durch sozio-kulturelle Vereinbarungen zustande. Sie repräsentieren das Empfinden der Bevölkerungsmehrheit einer Epoche. Im Laufe der Geschichte kann das Volksempfinden sehr variieren.
Solche Konventionen engen unsere Freiheit ein. Die Freiheitsberaubung geht dort besonders weit, wo ein enges Rollenverständnis von den Geschlechtern verlangt wird und Zuwiderhandlungen zu sozialer Ächtung führen. Da solche Regeln fast immer ohne Bezug zu biologischen Notwendigkeiten stehen, könnten wir sehr gut ohne diesen Ballast leben. Es wäre eine Befreiung von unnötiger Sexualisierung, vergleichbar dem Kampf der Frauen, Hosen tragen zu dürfen.
Heute kann man es kaum glauben, dafür ist es viel zu selbstverständlich geworden, aber die Forderung nach Frauenhosen musste gegen massiven Widerstand über Jahrzehnte langwierig erstritten werden. Heute tragen sogar katholische Ordensfrauen Hosen. Das hätte in den sechziger Jahren kein Priester geduldet.
Warum setzte sich im antiken Rom die Hose für Männer erst sehr spät und nach erheblichen Widerständen durch? Warum gilt eben nicht das Prinzip Jacke wie Hose oder in diesem Fall Rock wie Hose? Während des größten Teils unserer Kulturgeschichte haben Frauen und Männer gemeinsam Röcke und Kleider getragen. Warum sind sie heute zum Privileg der Frauen und teilweise zum Tabu für Männer geworden?
Auch logische Argumente zum Thema Rock für Frauen und Männer will man oft nicht hören, obwohl Röcke bei sommerlichem Wetter sehr bequem sein können. Durchgeschwitzte Hosen kleben an den Beinen. Das Gleiche habe ich im Rock nie erlebt. Eine öffentliche Diskussion hierüber gibt es entweder nicht oder sie schwenkt gleich emotional weiter, um leidenschaftlich festzustellen, dass Röcke, wider der tatsächlichen Historie, nur für Frauen gemacht sind. Der Rock zementiert heutzutage Geschlechtszugehörigkeit, die Hose auf den ersten Blick nicht mehr.
Heute dürfen Frauen Röcke und Hosen tragen, Männer aber nur noch bestimmte Hosen. Kritisch sind alle Hosen für Männer, die zu weit geschnitten sind, einen zu tiefen Schritt haben oder sehr bunt oder gar blumig gemustert sind. Die Hose ist nicht mehr ein Zeichen für Männlichkeit. Frauen fühlen sich in Jeans absolut weiblich. Männer, die glauben, dass umgekehrt das Gleiche für sie gilt, wenn sie z.B. den H&M-Rock aus der MenTrend Kollektion von 2010 tragen, irren. Sie fallen auf, werden behelligt und manchmal belästigt. In den Augen vieler Unwissender sind sie entweder schwul oder im falschen Geschlecht. Aber waren Roms Legionen, die ein Imperium in Kriegen brutal erschufen, ein Haufen berockter Schwuchteln?
Bekleidung ist immer kultureller Ausdruck von Zeitgeist. Sie ist das Werk gesellschaftlicher Regeln und Normen. Die sind extrem wandelbar. Es gibt keinen biologischen Zusammenhang zwischen Bekleidung und Geschlechtsidentität oder sexueller Orientierung, der wissenschaftlich belastbar ist. Jede Männerkleidung kann heute von Frauen getragen werden. Das hat die Frauen nicht verändert. Und auch meine freiere Auslegung der Geschlechterrollen hat mich weder als Familienvater noch in meiner Beziehung zu meiner Frau verändert. Ich ziehe lediglich an, was ich als bequem empfinde und meinem individuellen Geschmack entspricht. Was macht meine Kleiderwahl für die Gesellschaft so wichtig? Warum ist es für andere, die nicht mal meinen Namen kennen, so bedeutend, was ich anziehe? Wenn ich aus aktuellen Geschlechterrollen ausbreche, weil sie mich als Mensch und Individuum einschränken, kommt es zu irritierten Reaktionen und teilweise verrückten Unterstellungen, die mit wenig Wissen aber um so größerer Überzeugung vertreten werden.
Geschlechterrollen beruhen ganz überwiegend auf Konventionen, die sich im Laufe der Geschichte immer wieder verändert und zwischendurch auch schon mal ins Gegenteil verkehrt haben. Macht sie das nicht willkürlich? Warum folgen wir ihnen?
Als ich einen Rock anzog, weil ich meiner Schul klasse versprochen hatte, mich zum Karneval in der Schuluniform der Mädchen zu verkleiden, hatte ich Bauchschmerzen. Mein Bauchgefühl schrie geradezu: ‚Mach das bloß nicht.‘ Nur mit Mühe konnte sich mein Verstand durchsetzen. Ich hatte zugesagt und man hält doch sein Wort. Woher kam dies Bedürfnis, in vorauseilendem Gehorsam nicht mit einer Gesellschaftsregel zu brechen, die absolut unverbindlich ist?
Unser evolutionäres Erbe als Rudeltier lebt in uns. Unsere Instinkte begrüßen gruppenkonformes Verhalten. Wir sind unter Umständen für das Bestehen vieler Konventionen mitverantwortlich. Wenn wir die Gesellschaft weiterentwickeln wollen, müssen wir uns diesen Instinkten und Prägungen stellen, indem wir ihre Gültigkeit hinterfragen.
Es ist bemerkenswert, wie ein Kleidungsstück zur falschen Zeit, am falschen Ort, am falschen Körper für Aufregung sorgt. Von wegen, der Rock ist nur Ausdruck des persönlichen Geschmacks. In Abwandlung eines Zitats aus dem Gedicht Sacred Emily von Gertrude Stein muss ich feststellen: Ein Rock ist kein Rock ist kein Rock.
Ich will wissen, wie frei wir in unseren Entscheidungen dort sind, wo wir durch die Gesellschaft so geprägt werden, dass ein gesellschaftskonformer Verhaltensdruck entsteht. Wenn mir schon, trotz logischer Argumente, die Entscheidung für Rock oder Hose schwerfällt, wie sieht es dann mit den großen, gesellschaftspolitischen Entscheidungen aus, die beizeiten über Krieg und Frieden entscheiden? Wenn wir schon bei kleinen Herausforderungen ins Schwitzen kommen, können wir dann trotzdem Großes bewegen? Wie unabhängig und frei bin ich in meinen Entscheidungen? Wie viele Deutsche haben in den dreißiger Jahren Schlimmes heraufziehen sehen, aber geschwiegen, weil es ihrer Prägung zu gesellschaftskonformen Verhalten widersprach? War die vielleicht selbstverschuldete Unfreiheit der schweigenden Mehrheit das größere Übel?
Die Frage: ‚Rock oder Hose?‘, ist mir zu allererst eine Frage des persönlichen Geschmacks und der Bequemlichkeit. Bei sommerlichen Temperaturen ist ein weitgeschnittener Rock bequemer als jede Hose. Aber als Mann muss ich mich bei der Entscheidung Rock statt Hose ganz im Gegensatz zu Frauen rechtfertigen. Praktische Vorteile werden nicht so einfach akzeptiert. Der Rock für Männer ist heute ein Politikum. Ich behaupte: Männer müssen genauso wenig eine Frau werden um Rock zu tragen, wie Frauen nicht Männer werden mussten, um das Recht auf Hosen durchzusetzen.
Dies Buch ist ein Plädoyer für eine grundsätzliche Skepsis gegenüber Regeln, von denen wir unser Leben bestimmen lassen. Eine regelmäßige Evaluation hilft, sie zeitgemäß auszurichten, um sie unseren Bedürfnissen exakter anzupassen oder gegebenfalls ersatzlos zu streichen. Konventionen dienen dazu, uns das Leben leicht und friedlich zu machen, und nicht umgekehrt. Wir dienen nicht den Konventionen, damit sie uns als Mensch einschränken. Zuerst kommt der Mensch und dann seine Geschlechtlichkeit. Männer und Frauen verbindet mehr, als dass uns geschlechtliche Merkmale trennen. Dass wir das häufig anders wahrnehmen, liegt an unserer unkritischen oder passiven Zustimmung zu einer gewohnten Rollenverteilung, die trennt, statt auf das gemeinsame menschliche Potenzial zu fokussieren. Ich bin überzeugt, der Rock für Männer kann wie die Hose für Frauen zu mehr Normalität zwischen den Geschlechtern beitragen. Als Mensch ertrage ich es jedenfalls nicht, auf das Mannsein reduziert zu werden.