Читать книгу Giftmord statt Goldschatz - Holger Rudolph - Страница 7
Entsetzen
ОглавлениеBlühende Krokusse in den Vorgärten bringen Sandy Schmitting zum Lächeln. Gestern waren die Blüten noch verschlossen. Heute recken sie die hellblaue, gelbe und weiße Pracht gen Himmel. Der Frühling kommt mit neuem Leben. Nach mehreren Wochen Dauerfrost hatte es vor wenigen Tagen zu tauen begonnen. Erst die Blumen, dann die Menschen, denkt Sandy. Bald würden auch die grimmigsten Rheinsberger wieder etwas freundlicher dreinblicken. Auch ihr selbst geht die Arbeit heute gleich viel besser von der Hand. Montags bis sonnabends trägt die hübsche Mittzwanzigerin mit den leicht gelockten schulterlangen blonden Haaren in der Prinzenstadt den Märkischen Anzeiger aus, das hiesige Regionalblatt. Um 5 Uhr morgens sind die Bürgersteige noch leer. Es ist dunkel in der kleinen Stadt. Und ein bisschen neblig.
Neben den ersten Frühblühern in den Gärten sorgt an diesem Morgen nur die Feuerwehr für etwas Abwechslung. Ihre sämtlich ehrenamtlich arbeitenden Kameraden werden schon zum fünften Mal im noch keine drei Monate alten Jahr zum Aquapark am Großen Rheinsberger See gerufen. Wieder einmal soll es dort ein Feuer geben. Jedenfalls hat ein elektronischer Brandmelder Alarm geschlagen. Weshalb die Technik immer wieder behauptet, Flammen zu erkennen, wo es überhaupt keine gibt, bleibt ein Rätsel, das den Brandbekämpfern seit Jahren einen Teil ihrer Freizeit raubt.
Sandy kennt ihre Pappenheimer: Im nächsten Haus auf der linken Seite wird gleich ein Dobermann gegen den Zaun springen und energisch kläffen. Und danach wird aus dem geöffneten Badezimmerfenster des Hauses dahinter das Einlaufen des Wassers in die Wanne zu hören sein, so wie an jedem Morgen. Manchmal hört sie kurz darauf den dort lebenden Rentner in seiner Badewanne Gassenhauer einer längst vergangenen Zeit singen: „La Paloma“, „Die Capri-Fischer“, „Wenn der weiße Flieder wieder blüht“. In seiner Wanne wird der alte Herr wieder zum gefeierten Tenor, so wie vor Jahrzehnten in Wien, Bayreuth und zuletzt in Berlin. Seine Stimme ist noch immer wunderbar voll und jeder Ton sitzt. Nur, dass er heute keine Arien mehr schmettert, sondern sich - der Situation der Kleinstadt angemessen – volkstümlich gibt. Über die ollen Kamellen in der Frühe wird sich bestimmt niemand beschweren, glaubt der Künstler. Bisher hat er damit recht behalten. Wer lange genug verweilt, kann erleben, wie er sich nach jedem Gesangsvortrag überschwänglich beim imaginären Publikum für dessen Applaus bedankt.
Bis zu dem alten Herrn kommt Sandy Schmitting heute nicht. Auf der Straße liegt ein Mann. Sie kennt ihn, so wie ihn halb Rheinsberg kennt. Bautischler Bernd Bergner ist alle paar Wochen in der Lokalzeitung abgebildet. Einmal geht es um seine Mitarbeit im Karnevalsverein, ein anderes Mal um ihn als Stadtverordneten einer Bürgerliste, nicht zuletzt wird auch über seine Arbeit als Umweltschützer und Freizeithistoriker berichtet. Noch vor einer Woche hatte sie den fröhlich vor sich hin pfeifenden Mann auf ihrer morgendlichen Tour getroffen. Eigentlich habe er gar keinen Grund, derart lustig drauf zu sein, sagte er damals. Denn es plagten ihn enorme Zahnschmerzen. Dann grinste er: „Sandy, Du Schöne, ich pfeife trotzdem, denn ich habe ein wunderbares Geheimnis.“ Plötzlich hatte er inbrünstig zu singen begonnen: „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh'n“. Sandy dankte für das Kompliment. Sie hatte ihm schon fast empfehlen wollen, dass er sich doch sehr gut mit dem Badewannen-Tenor zusammentun könnte. Vielleicht würde daraus eine super Karnevalsnummer. Doch sie lächelte nur.
Die Blumen, der Hund, aber kein Sänger. Plötzlich ist alles anders und erschreckend ungewohnt. Bernd Bergner liegt vor ihr auf der Fahrbahn. Sie springt entsetzt vom Rad, sie spricht ihn laut an, doch er reagiert nicht. Seinen Puls sucht sie vergebens. Auch Herzdruckmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung holen den Toten nicht mehr ins Leben zurück. Andere Frauen, auch viele Männer, hätten in so einer Situation die Nerven verloren und geschrien. Doch Sandy bleibt ruhig und tippt auf ihrem Smartphone den Notruf der Polizei ein, 110. Bis Rettungskräfte und Polizisten eintreffen, soll sie vor Ort bleiben und die vermutliche Unfallstelle sichern. Doch es gibt um diese Tageszeit hier nicht viel zu sichern. So bleibt ihr genug Zeit, ihren Arbeitgeber von dem Vorfall zu verständigen. Dabei denkt sie allerdings nicht an den Leiter der Zustellung. Sie will die Redaktion über den Toten informieren, damit der Märkische Anzeiger möglichst schnell vor Ort sein kann.