Читать книгу Theodor Litt: Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt - Holger-Sven Burckhart - Страница 10
Kulturkritik als Hintergrund des Humanitätsideals
ОглавлениеAuflehnung wider den Zeitgeist
Wir haben den Strang der geschichtlichen Gesamtentwicklung, der der „Sache“ zu einem unaufhaltsam sich steigernden Übergewicht über den Menschen verholfen hat, so dargestellt, wie er sich uns, den heute Lebenden, im Rückblick auf die drei Jahrhunderte darstellt, die seit dem Hervortreten der mathematischen Naturwissenschaft verflossen sind. Es ist, für uns nicht schwer, die Grundmotive dieser Bewegung aufzudecken, weil wir das Ganze der Entwicklung überschauen, in der sie das schon in ihren Anfängen Angelegte mit unablenkbarer Folgerichtigkeit und rapide zunehmender Geschwindigkeit zu allseitiger Entfaltung gebracht hat und mit jedem neuen Tage zu bringen fortfährt. Es macht uns deshalb auch keine Mühe, jene Richtungsabweichung, kraft deren sich der staatlichgesellschaftliche Prozeß von der durch das klassische Bildungsideal angezeigten Wegweisung fortbewegt, schon in der Physiognomie einer Epoche zu gewahren, welche – es sei an das Geburtsjahr von Watts Erfindung erinnert – die der Versachlichung zudrängenden Gewalten nur in den ersten schüchternen Andeutungen sichtbar werden ließ.
Wir würden uns, da dem so ist, nicht wundern, wenn, im Unterschiede von uns, die noch jener Epoche angehörenden Verkünder der Humanitätsidee gar nicht bemerkt hätten, daß sie ein normatives Menschenbild aufrichteten, dem eine erst im Anlaufen begriffene gesellschaftlich-wirtschaftliche Bewegung immer mehr die Bedingungen der Verwirklichung entziehen sollte. Wir hätten in ihnen alsdann die Opfer einer zwar den Geist beschwingenden, aber die Realität verschleiernden Täuschung zu erblicken.
Allein wenn wir uns den literarischen Selbstbezeugungen der Humanitätsbewegung zuwenden, dann finden wir diese Erwartung durchaus nicht bestätigt. Wir sind im Gegenteil überrascht, wenn wir feststellen, mit welcher Klarheit schon die Wegbereiter dieser Bewegung den Gegensatz bemerkt und ausgesprochen haben, den wir erst im nachklassischen Zeitalter deutlich meinen hervortreten zu sehen. Überraschend ist uns diese Entdeckung deshalb, weil, wenn wir unsere allgemeine Lebenslage mit derjenigen vergleichen, aus welcher der Geistesfrühling unserer Klassik hervorbrach, es uns scheinen möchte, als habe jenes Zeitalter der Verwirklichung der „Humanität“ ebensoviel an Vergünstigungen zuteil werden lassen, wie das unsrige ihr an Hindernissen in den Weg legt. Müssen wir nicht die Zeitgenossen eines Goethe gerade deshalb beneiden, weil sie noch nicht in den Panzer einer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung eingeschnürt waren, in der dem Drang nach menschlicher Selbstvollendung der Atem ausgehen mußte? Um so mehr befremdet es uns, daß auch sie, die anscheinend so Bevorzugten, sich in eine geschichtliche Umwelt verschlagen glaubten, deren herrschenden Gewalten die Verwirklichung ihres Menschheitsideals abgekämpft werden müsse. Und wenn wir uns dann nach den Gründen umschauen, mit denen sich diese Frontstellung wider den Geist der Epoche rechtfertigt, dann widerfährt es uns, daß wir Klagen und Anklagen zu hören bekommen, die uns in die Ohren klingen, als seien sie durch die seelischen Bedrängnisse unserer Tage, durch die Widrigkeiten unserer gesellschaftlichen Einzwängung ausgepreßt. Wie sollen wir es verstehen, daß die führenden Geister der Klassik, sie, die uns gleich seligen Göttersöhnen vor Augen stehen, bereits den Druck von Lebensverhältnissen verspürten, in denen wir eine den Hinterherkommenden aufgesparte Heimsuchung meinen erblicken zu sollen?
Zerteilung und Totalität
Daß die Apostel der Humanität dergestalt mit ihrem Zeitalter auf dem Kriegsfuß standen, dem ist um so mehr Gewicht beizulegen, als ihr Ideal überhaupt erst in der Auseinandersetzung mit ihm seine Gestalt gewonnen hat. Die Zustände dieses Zeitalters waren nicht bloß der dunkle Hintergrund, von dem sich das Bild wohlgearteten Menschentums in leuchtender Klarheit abheben sollte. Wesentliche Züge dieses Bildes sind geradezu als Verneinung der zu überwindenden Gebrechen der Epoche konzipiert und formuliert. Die Verkünder der Humanitätsidee stehen, so betrachtet, insgesamt in der Nachfolge des beredtesten unter den Anklägern ihres Jahrhunderts: in der Nachfolge Rousseaus. Wie seine ganze Erziehungsprogrammatik geboren ist aus dem Abscheu vor einem Kulturzustande, der den Menschen gerade in dem, was ihn zum Menschen macht, zur Verkümmerung verurteilt, so ist auch die Idee der „Humanität“ gedacht als das einzige Heilmittel, das einer von der Gefahr des radikalen Selbstverlustes bedrohten Menschheit zur Rettung ihres Eigentlichen und Wesentlichen verhelfen könne. Von dem Evangelium der Humanität ist nicht abzutrennen die Kritik der modernen Kultur. In ihr hat das sie beseelende missionarische Pathos seine Wurzel.
Welches aber sind die Züge im Antlitz der Epoche, durch die sich der Anwalt der Humanität zum Widerspruch gereizt fühlt? Ihr Fluch ist die Zerrissenheit, verschuldet durch die künstliche Trennung von Funktionen, die nur vereint zum Heile wirken können. Der die Folgen dieser Sonderung zu tragen hat, das ist, wie selbstverständlich, der Mensch. Für eine der ausgesonderten Tätigkeiten ganz und gar mit Beschlag belegt, wird er selbst zu einem gewaltsam vereinseitigten, mit den nicht beanspruchten Teilen seines Wesens verkümmernden Geschöpf. Er wird Bruchstück dessen, was er sein sollte. Der Widerspruch wider diese Verstümmelung der menschlichen Natur bildet sich zur positiven Forderung um in jenem Begriff, der recht eigentlich das Herz der Humanitätsidee ausmacht: im Begriff der „Totalität“. Es ist die Sehnsucht nach dem ganzen Menschen, dem Vollmenschen, die sich gerade an dem Anblick von so viel fragmentarischem Menschentum zur Leidenschaft entzündet. Und die schier abgöttische Verehrung, mit der die Humanitätsbewegung auf die Gestalten und Begebenheiten von Hellas hinblickte, hatte ihren Grund vor allem in der Überzeugung, daß es dem griechischen Menschen, ihm allein, gelungen sei, das Wesen des Menschen überhaupt zu der Allseitigkeit zu runden, die anderwärts und zumal in der modernen Welt vergebens gesucht werde.
Wenn wir diesen Lobpreis des unverstümmelten, des zur Ganzheit entfalteten Menschen lesen, dann wundern wir uns nicht, daß die pädagogische Gedankenbewegung der Gegenwart so oft und gerne auf die Formeln der Humanitätsbewegung zurückgreift. Denn alles das, was schon die Generation eines W. v. Humboldt an Verkürzungen des Menschentums meinte beklagen zu sollen, ist doch ein Kinderspiel, verglichen mit dem Zwang zur radikalen Vereinseitigung, dem der Mensch durch den fortschreitenden Siegeszug der sich zur Herrin aufschwingenden „Sache“ unterworfen worden ist. Ein „ganzer“ Mensch sein zu dürfen – dies eben ist doch das in der Tiefe bohrende Verlangen desjenigen, dem die sein Zeitalter beherrschende Arbeitsordnung zumutet, in einer vom Ganzen abgespaltenen Teilverrichtung von beschämender Geringfügigkeit seinen Lebensinhalt zu finden.
Gestalten der Kulturkritik
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Siebtes Kapitel