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Die Sorge um den Menschen

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Bildungsideal und geschichtliche Gesamtbewegung

Man pflegt den Fortgang der geschichtlichen Bewegung bisweilen dem Dahinfluten eines Stromes zu vergleichen. Das Bild hat einen guten Sinn, und doch ist es geeignet, einen wesentlichen Zug an dem, was in ihm versinnlicht werden soll, zu verdecken. Ein Strom bewegt sich unter normalen Umständen in seiner ganzen Breite gleichmäßig vorwärts; es gibt da kein Vorauseilen, kein Zurückbleiben. Der „Strom“ der Geschichte zerlegt sich in eine Vielzahl von Teilströmungen, Armen, Rinnsalen, die sich nicht nur in ihrer Färbung, sondern auch und erst recht in dem Tempo ihrer Fortbewegung stark voneinander unterscheiden. Er umfaßt die staatlich-rechtliche, die gesellschaftliche, die wirtschaftliche Entwicklung. Zu ihm gehört die Bewegung der Kunst, der Religion, der Wissenschaft, der Philosophie. Und es ist keine Rede davon, daß es in all diesen Teilsphären des geschichtlichen Lebens gleichmäßig vorwärts ginge. Es gibt da Beschleunigungen und Verzögerungen, die auf bestimmte Sonderbezirke des geschichtlichen Lebens beschränkt sind. Und nicht gering ist die Zahl der Unstimmigkeiten und Reibungen, die sich gerade daraus ergeben, daß die Geschichte als Ganzes der Gleichmäßigkeit des Fortschreitens so sehr ermangelt.

Allgemeine Erwägungen dieses Inhaltes sind es, die sich uns aufdrängen, wenn wir die Schicksale ins Auge fassen, die der Idee und der Praxis der „Menschenbildung“ gerade aus dem Grunde beschieden sind, weil die Teilsphäre geistigen Bestrebens, die mit diesem Worte bezeichnet wird, einen Eigenrhythmus entwickeln kann, der sie die Fühlung mit den nachbarlichen Dimensionen der geschichtlichen Bewegung fast völlig verlieren läßt. Ein jedes Kulturvolk erlebt in seiner Entwicklung einmal die große Stunde, da es ihm gelingt, die in ihm lebende Idee von Wesen und Bestimmung des Menschen zu einem durchgeformten Bilde zu verdichten. Es entsteht alsdann dasjenige, was man in der Sprache der pädagogischen Theorie das „Bildungsideal“ nennt. Ist aber einmal in den vereinten Bemühungen erlauchter Geister die Prägung eines solchen Bildungsideals geschehen, dann pflegt es nicht lange zu dauern, bis es jene kanonische Geltung gewinnt, die mit dem Worte „klassisch“ gemeint ist. Und das bedeutet: von Stund an halten alle Überlegungen, die sich auf das Problem der Menschenbildung beziehen, die Richtung ein, die durch den Ausblick auf das besagte Bildungsideal bestimmt ist. An ihm orientieren sich sogar diejenigen, deren bildnerischer Wille sich an dem Gegensatz zu dieser Zielbestimmung entzündet. Wie stark das Beharrungsvermögen des einmal zu kanonischer Geltung aufgestiegenen Bildungsideals ist, das bezeugt sich in der Tatsache, daß es selbst dann die Gemüter zu beherrschen nicht aufhört, wenn tief einschneidende Wandlungen, ja katastrophale Umwälzungen in der staatlich-gesellschaftlichen Sphäre die Bedingungen, unter denen das Geschäft der Menschenbildung zu betreiben ist, in eine völlig veränderte Gestalt überführen. Das „Bildungsideal“ hält die pädagogische Phantasie auch dann noch bei sich fest, wenn von der geschichtlichen Lage, aus deren Schoß es emporgestiegen ist, nur noch unerhebliche Reste vorhanden sind.

Die Humanität

Uns Deutschen ist unser neuzeitliches „Bildungsideal“ in jener gesegneten Erntezeit geschenkt worden, deren vielseitige Bestrebungen man unter dem Namen „die deutsche Bewegung“ zusammenfaßt. Es ist geschaffen worden in der Folge von dichterisch-denkerischen Bemühungen, die sich zeitlich vom Auftreten Winckelmanns bis in die letzten Tage Hegels und Goethes erstrecken. Klassische Altertumswissenschaft, Dichtung und Philosophie haben sich die Hände gereicht, um es zu klarer und überzeugender Gestaltung herauszuarbeiten. Es ist das Ideal der „Humanität, das in diesen vereinten Geistesmühen geboren worden ist. Daß ein Bildungsideal, welches sich so erlauchter Geburtshelfer erfreuen durfte, alsbald den Charakter der „Klassizität“ annahm – wie war es anders möglich! Und so kann es uns nicht verwundern, daß die Grundvorstellungen, die sich in diesem Ideal vereinigten, alle die grundstürzenden Wandlungen überdauerten, die die seitdem verflossenen anderthalb Jahrhunderte über unser Volk gebracht haben – ja, daß auch heute noch, in einer um ihre totale Neugestaltung ringenden Welt, die pädagogische Meinungsbildung sich weithin an den Gedanken meint orientieren zu sollen, in denen die Generation eines W. v. Humboldt ihr bildnerisches Wollen ausgesprochen fand.

Die Divergenz

Nun läßt aber der Rückblick auf die anderthalb Jahrhunderte, die uns vom Zeitalter Goethes trennen, uns eben das Phänomen gewahr werden, von dessen Betrachtung wir ausgingen: die Entfremdung, ja Verfeindung von geschichtlichen Bewegungen, die durch das Tempo ihres Fortschreitens empfindlich voneinander abweichen. Vielleicht dürfen wir sogar sagen, daß nur in seltenen Fällen die so entstehende Diskrepanz eine so krasse Gestalt angenommen und so tief eingreifende Folgen gezeitigt hat wie gerade in jenem Verhältnis von Bildungsideal und geschichtlichem Gesamtprozeß, das einen wesentlichen Teil des deutschen Schicksals ausmacht. Es ist, wie mir scheint, nicht immer genügend beachtet worden, daß unser klassisches Bildungsideal kaum in einem ungünstigeren Augenblick hätte ans Licht treten können als in dem Moment, da die gesellschaftliche Welt zu einer ihrer gewaltigsten Umgestaltungen ansetzte. War doch der Umschlag, der damals vor der Tür stand, so geartet, daß er die Bedingungen, die eine sei es auch kurz dauernde Verwirklichung jenes Ideals ermöglicht hatten, binnen kurzem in ihr Gegenteil verkehren sollte.

Das Gemeinte zu verdeutlichen, genügt der Blick auf zwei Ereignisse, die gerade in ihrer zeitlichen Nachbarschaft das Auseinanderstreben der Entwicklungstendenzen symbolisch zur Darstellung bringen. 1769 erfindet Watt die Dampfmaschine. 1774 erschüttert Goethe die gebildete Welt durch „Werthers Leiden“. Der Vorbote und Wegbahner der industriellen Gesellschaft – der Fürst der Humanität: innerhalb eines Jahrfünfts erheben beide sich zu Geistestaten, in denen eine werdende Welt sich vernehmlich ankündigt. Aber es ist wahrlich nicht das gleiche, von dessen Annäherung der eine und der andere Zeugnis ablegt. Es sind einander widerstreitende Strebungen und Bewegungen, die in ihnen ihre Ansprüche anmelden.

Die Tatsache der hier angedeuteten Divergenz ist natürlich keinem kritischen Betrachter der deutschen Bildungsgeschichte verborgen geblieben. Dagegen ist ihr tiefster Grund meist über oberflächlicheren Phänomenen übersehen worden. Zu dem Kern der Sache führt folgende Überlegung.

Zu jedem „Ideal“ gehört ein Wirkliches, über dem es als zu erfüllende Forderung, als anzustrebendes Ziel, als richtungweisende Wertgestalt aufgerichtet ist. In ihm spricht sich ein „Sollen“ aus, das einem „Sein“ gegenübertritt. An welches Wirkliche sich das „Bildungsideal“ wendet, versteht sich von selber: es ist der Mensch, dem es als Norm und Vorbild vor Augen steht. Insofern scheint der Begriff der „Humanität“ nur dasjenige nochmals auszusprechen, was im Begriff des „Bildungsideals“ bereits enthalten ist.

Allein wenn wir den Gehalt, der der Idee der „Humanität“ bei unseren Klassikern zuwächst, genauer prüfen, so entdecken wir, daß in ihm noch mehr beschlossen ist. Nicht nur dies will die genannte Idee besagen, daß es dem Menschen überhaupt aufgegeben sei, sich im Hinblick auf eine als Ideal vorschwebende Gestalt zu modeln – eine Aufgabe, deren Bejahung die Hingabe an weitere, als gleich gewichtig anzuerkennende Ziele nicht ausschließen würde –, sondern die Meinung ist die, daß in der Idee der Humanität sich alles das zusammenfasse, was seinem Dasein einen höheren, ja den eigentlich „menschlichen“ Sinn verleihe. Es ist die Bestimmung, ja die einzige Bestimmung des Menschen, sich zum Menschen zu „bilden“. Wird mit dieser Zielbestimmung Ernst gemacht, so liegt in ihr als Konsequenz enthalten, daß alle Inhaltlichkeit des geistig-geschichtlichen Lebens, alles, was dies Leben an Erfahrungen und Forderungen an den Menschen heranträgt, letztlich unter dem Gesichtspunkt zu bewerten sei, was es zu seiner Menschwerdung beitrage – daß folglich der Mensch, wo und wann immer er mit dieser Inhaltlichkeit in Berührung komme, sein Verhältnis zu ihr auf Grund der Überlegung zu regulieren habe, was sein Menschsein sich von dem Umgang mit ihr versprechen dürfe.

Das ist der „anthropozentrische“ Zug, der der durchgebildeten Humanitätsidee ihr charakteristisches Gepräge verleiht. In letzter Zuspitzung tritt er uns überall da entgegen, wo die Gesamtheit der Kulturgehalte sich geradezu zu „Mitteln“ für den „Zweck“ der Menschwerdung muß herabsetzen lassen. Hier ist nun wirklich der Mensch zum „Maß aller Dinge“ geworden.

Zweites Kapitel

Theodor Litt: Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt

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