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Das Verhältnis von Mensch und Welt bei Goethe

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Goethe und die moderne Arbeitswelt

Eine besondere und besonders beachtliche Abwandlung der von den Befragten behandelten Daseinsproblematik haben wir in der Gedankenwelt desjenigen vor uns, den wir bisher absichtlich im Hintergrund gehalten haben: in der Gedankenwelt Goethes. Was er zu diesem Thema zu sagen hat, das hat schon aus dem Grunde besonderes Gewicht, weil er im Unterschiede von der Mehrzahl der vor ihm abberufenen Klassiker lange genug gelebt hat, um die den Humanitätsaposteln anstößige Funktionalisierung des Menschen auch über das technisch-ökonomische Gebiet sich ausbreiten zu sehen. Das aufkommende „Maschinenwesen“ hat ihm schwere Beklemmungen bereitet. Die „Wanderjahre“ sind der dichterische Ausdruck für die Lebensstimmung eines Geschlechts, das in eine Epoche tief einschneidender gesellschaftlicher Umgestaltungen eingetreten zu sein gewiß ist2. So werden wir durch das Werk des alternden Goethe wesentlich näher an jene Verwicklungen herangeführt, deren letzte Gründe aufzudecken unsere oben vorgetragene Darlegung bestimmt war. Ja, wir finden diese Verwicklungen bis in ihr Herz hinein mit einer Klarheit bloßgelegt, die an den ahnenden Spürsinn eines prophetischen Geistes gemahnt.

Weil Goethe vor den hier sich anbahnenden Entwicklungen nicht die Augen verschlossen hat, darum hat er auch – so lautet die herkömmliche Darstellung – das Evangelium der Humanität, als deren unübertroffene Verkörperung er den bewundernden Zeitgenossen gegolten hatte, so abgewandelt, wie die Rücksicht auf die sich umlagernden Zeitumstände es forderte. Die Pädagogik seiner Altersjahre ist, so meint man, die Brücke zwischen dem zu Ende gehenden Zeitalter der klassisch-bürgerlichen Kultur und der aufsteigenden Welt der industriellen Gesellschaft.

Es ist vor allem die den „Wanderjahren“ eingefügte Utopie der „pädagogischen Provinz“, in der man das Dokument dieser Versöhnung mit dem Geist einer neuen Zeit meint erblicken zu sollen3. Und zwar sind es besonders zwei Grundzüge in dem Gemälde dieses pädagogischen Gemeinwesens, in denen man den Hinweis auf eine veränderte Grundhaltung finden will.

Zum ersten: das der ursprünglichen Humanitätsbewegung selbstverständliche Postulat der „allgemeinen Bildung“ („Universalität“!) wird nicht nur aufgegeben, sondern nachdrücklich verneint. „Narrenpossen sind eure allgemeine Bildung.“ „Ja, es ist jetzo die Zeit der Einseitigkeiten.“ „Eines recht wissen und ausüben gibt höhere Bildung als Halbheit im Hundertfältigen.“

Zum zweiten: zu den Vermögen, die im Interesse der Bildung mit bewußter Einseitigkeit zu entwickeln die Weisheit der pädagogischen Provinz gebietet, zählen auch und gerade diejenigen Fertigkeiten, die der Mensch im Sichmessen mit den Stoffen und Kräften der „Natur“ erwirbt. Die Hand wird als Organ der Menschwerdung anerkannt, ja gepriesen. Humanität tritt aus den Bezirken des „reinen“ Geistes, der „Innerlichkeit“ heraus – wie stark die Neigung war, sie innerhalb ihrer festzuhalten, wird sich noch zeigen – und bezieht die „äußere“ Welt in ihre Kreise ein.

Mit dem einen wie mit dem anderen aber hat doch wohl der alternde Goethe – dies die so manchen Pädagogen beherrschende Vorstellung – die Vorbehalte fallenlassen, mit denen bis dahin die Humanitätsbewegung der arbeitsteiligen Lebensordnung der modernen Welt gegenübergestanden hatte. Er hat der Spezialisierung, und zwar auch der Spezialisierung der manuell zu vollziehenden Produktion, den pädagogischen Segen erteilt.

Es hätte für den Freund der Humanität etwas ungemein Beruhigendes, wenn er sich sagen dürfte, daß die Arbeitsordnung, die den modernen Menschen so sehr um sein Menschentum bangen läßt, durch den glaubwürdigsten Vorkämpfer unverkümmerter Menschlichkeit von dem Verdacht der Un-menschlichkeit losgesprochen sei. Soll, darf er sich von ihm überreden lassen, seine Besorgnisse als Ausfluß einer unbegründeten Hypochondrie zu verabschieden?

So verlockend die hier winkende Beschwichtigung sein mag, sowenig dürfen wir uns verführen lassen, uns ein Beruhigungsmittel zu verschreiben, das – eine vollkommene Fehlinterpretation Goethes zur Voraussetzung haben würde. Es lohnt sich, zuzusehen, warum die angeführte Pädagogenmeinung in die Irre geht. Wir werden für die Klärung unseres Problems Wesentliches gewinnen, wenn wir das Mißverständnis aufklären, das ihr zugrunde liegt – wenn wir uns Rechenschaft geben, warum ein Geist nach Art des goetheschen sich selbst hätte aufgeben müssen, um mit der Arbeitsordnung der industriellen Gesellschaft einen vorbehaltlosen Frieden schließen zu können.

Sinnesorgan und Apparat

Um die Undenkbarkeit dieser Versöhnung zu erkennen, genügt die Erinnerung, wie unzertrennlich das Bündnis ist, das die industrielle Produktionsform mit der Technik und diese hinwiederum mit der mathematischen Naturwissenschaft zusammenhält. Wer zu der industriellen Produktionsordnung ja sagt, der billigt auch Technik und mathematische Naturwissenschaft. Wer umgekehrt die mathematische Naturwissenschaft verneint, der verwirft auch Technik und industrielle Produktionsordnung. Es gibt keinen Denker, an dem man die letztgenannte Verknüpfung besser studieren kann als an Goethe.

Wie sehr gibt es schon zu denken, daß dieselben „Wanderjahre“, die von dem Übel, welches mit dem Maschinenwesen „sich in die Menschheit eingeschlichen habe“, so beweglich zu reden wissen, im gleichen Zusammenhang noch eine weitere Störung beklagen – die Störung nämlich, die in das Verhältnis von Mensch und Natur dadurch hineingekommen sei, daß das theoretisch die Natur erforschende Subjekt dazu übergegangen sei, die ihm vom Ursprung her mitgegebenen Sinnesorgane durch vorgeschaltete Apparaturen zu Leistungen emporzusteigern, die in der natürlichen Beschaffenheit dieser Organe gar nicht vorgesehen waren. Teleskop und Mikroskop, der exakten Naturwissenschaft einerseits durch ihre Herkunft verpflichtet, andererseits durch ihre Dienste unentbehrlich, werden von Goethe deshalb abgelehnt, weil durch ihre Zwischenschaltung die Proportion zerstört wird, die von Rechts wegen zwischen dem der Natur sich zuwendenden Menschen und der ihm sich öffnenden Natur obwalten sollte. Diese Proportion ist in der beide umfassenden Allnatur vorgezeichnet; sie wird durch ein flagrantes Mißverhältnis ersetzt, wenn der Mensch die Leistungskraft seiner Organe durch künstliche Zurüstungen über die ihnen mitgegebenen Möglichkeiten emporzusteigern versucht. „Der Mensch an sich selbst, insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann, und das ist eben das größte Unheil der neuen Physik, daß man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat und bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja, was sie leisten kann, dadurch beschränken und beweisen will.“

Dabei ist es für Goethe nicht einmal das Schlimmste, daß durch diese Verkünstelung der Beobachtungsbedingungen die Erkenntnis mißleitet wird. Bedenklicher noch stimmt es ihn, daß „diese Mittel, wodurch wir den Sinnen zu Hilfe kommen, keine sittlich (!) günstige Wirkung auf den Menschen ausüben“. Der Mensch selbst wird desorganisiert, wenn sein Verhältnis zur Natur in Unordnung gebracht wird.

Schwerlich wird man einem Autor, der schon in den theoretischen Voraussetzungen der Technik eine Gefährdung der menschlichen Integrität meint aufdecken zu können, es zutrauen, daß er im nämlichen Werk der von dieser Technik diktierten Arbeitsordnung eine dem Menschen heilsame und daher erzieherisch auszuwertende Rückwirkung zugesprochen habe. Schon jetzt wird es uns fraglich, ob die in der „pädagogischen Provinz“ geübte Spezialisierung der Tätigkeiten die nämliche sei wie die, in welche die technisch-ökonomische Entwicklung der Neuzeit eingemündet ist.

Goethe als Anwalt der sinnlich erfaßten Natur

Zu den tiefsten Gründen aber der Haltung, in der Goethe diesem Gefüge theoretischer Forschungen und praktischer Veranstaltungen gegenübersteht, dringen wir erst dann vor, wenn wir von den „Wanderjahren“ zurückgehen auf das Werk, in dem Goethe diesem Problemkomplex in Gestalt einer wissenschaftlichen oder wenigstens wissenschaftliche Ansprüche erhebenden Untersuchung zu Leibe geht. Dies geschieht in der „Farbenlehre“4. Wenn wir im Vorausgegangenen immer wieder die Solidarität hervorzuheben hatten, welche die der Neuzeit eigentümlichen Ordnungen menschlicher Arbeit mit der sie ermöglichenden, ja provozierenden Wissenschaft von der Natur verbindet, so entspricht dem der ebenso strenge Zusammenhang, der zwischen Goethes Anweisung zur rechten Lebensgestaltung und der von ihm kanonisierten Naturanschauung obwaltet. Weil die letztere in der „Farbenlehre“ ihre ausführlichste Darlegung findet, darum darf behauptet werden, daß „Farbenlehre“ und „Pädagogische Provinz“ enger zusammengehören, als die landläufige Auffassung wahrhaben will. Was die pädagogische Provinz in sich einläßt und was sie sich fernhält, das entscheidet sich aus jener Deutung des Verhältnisses von Mensch und Natur, die in der „Farbenlehre“ kodifiziert ist.

Diese Deutung aber hinwiederum gelangt erst dadurch zu letzter Klarheit und begrifflicher Präzisierung, daß sie sich in einer durchgeführten Polemik von einer anderen Interpretation desselben Verhältnisses abzusetzen genötigt ist – nämlich derjenigen Interpretation, die aus den Ergebnissen der mathematischen Naturwissenschaft als selbstverständliche Folgerung hervorzugehen behauptete. Wie Goethe in den „Wanderjahren“ das Recht, den Wahrheitsgehalt, ja die Überlegenheit der Eindrücke verficht, welche die nicht durch künstliche Apparaturen bewaffneten Sinnesorgane dem Menschen bescheren, so setzt er sich in der „Farbenlehre“ für Eigenwert, Eigengeltung, ja Überlegenheit der Sinneseindrücke ein, in denen die nicht durch künstliche (mathematische) Theorien transformierte Natur dem Menschen entgegentritt.

Und zwar bedurfte es dieser Rehabilitierung, weil die von ihm befehdete Theorie, repräsentiert durch die physikalische Optik Newtons, von der mathematischen Umformung der Natur zu der Behauptung weitergegangen war, daß das aus dieser Umformung hervorgegangene Relationsgefüge uns die „eigentliche“ und „wirkliche“ Natur sichtbar mache, wohingegen uns in den Eindrücken unserer Sinne nur eine durch die Beschaffenheit unseres Organismus bedingte Umbildung, ja Verfälschung jenes Eigentlichen und Wirklichen dargeboten werde. Auch hier ist es also so, daß der „größte und genaueste physikalische Apparat“, den der Mensch an seinem Leibe besitzt, sich durch das Resultat einer künstlichen (in diesem Fall theoretischen) Zurüstung soll desavouieren lassen. Und auch hier ist es nach Goethes Überzeugung so, daß durch diese Verkehrung der in der Natur vorgezeichneten Ordnung nicht bloß die Erkenntnis mißleitet wird, sondern auch und besonders sittlich anfechtbare Wirkungen hervorgerufen werden. Wer den Menschen in dem Vertrauen zu der Echtheit und Wahrheit seiner Sinneseindrücke wankend macht, der rührt an die Grundlagen seiner sittlichen Existenz. Denn zu dieser Existenz gehört das Insgesamt der in ihrem Vollgehalt unbeschnittenen, in ihrem Wahrheitswert unbestrittenen Sinneseindrücke als unabdingbares Moment hinzu. Trägt doch Goethe kein Bedenken, den elementaren Sinneseindrücken, die das Auge uns in Gestalt der Farben zuführt, eine „sinnlichsittliche“, also eine den Menschen als solchen betreffende „Wirkung“ zuzuschreiben. Kommt ihnen eine solche zu, was ist dann von einer Wissenschaft zu halten, die ihrem methodischen Prinzip gemäß darauf aus ist, den qualitativen Reichtum der Farben durch eine Skala mathematischer, also rein quantitativer und insofern völlig abstrakter Werte zu verdrängen? Sie macht sich eines Angriffs auf die sittliche Integrität des Menschen schuldig. Denn sie bringt ihn in ein schiefes Verhältnis zu der ihm als Partner gesellten Natur und desorganisiert damit das Bild der Wirklichkeit, mit der sich ins rechte Verhältnis zu setzen seine sittliche Bestimmung ist.

Goethe als Anwalt des Umgangs

Wir sind damit an der Stelle angelangt, an der es angezeigt ist, von der Auslegung, die Goethe dem Verhältnis Mensch–Natur widerfahren läßt, die Brücke zu schlagen zu derjenigen Gestaltung dieses Verhältnisses, die wir oben als Phase des von uns analysierten Entwicklungsganges kennenlernten. Denn dies ist kaum zu übersehen: das, was Goethe als die einzig gesunde und förderliche Form dieses Verhältnisses darstellt und feiert, ist nichts anderes als jene innige Wechselbezogenheit füreinander bestimmter Partner, deren Betätigung wir oben mit dem Namen „Umgang“ belegten. Und die Eigentümlichkeiten dieses Verhältnisses, auf denen ihm seine Zukömmlichkeit zu beruhen scheint, sind genau diejenigen, durch die der Umgang mit der Natur sich von der naturwissenschaftlich-technischen Auseinandersetzung mit ihr unterscheidet. Der Umgang ist ja, wie wir sahen, diejenige Form der Begegnung mit der Natur, in deren Wesen es liegt, daß sie zwischen den einander begegnenden Partnern das Verhältnis einer wohlausgewogenen Proportion selbsttätig herstellt und bewahrt. Und daß sie diese Proportion getreulich einhält, das hat eben darin seinen Grund, daß sie die Natur nur in den Grenzen ihrer sinnlichen Anschaulichkeit und Greifbarkeit sichtbar und zugänglich macht. Genau diese Selbstbegrenzung ist es aber, die nach Goethes Überzeugung gewahrt werden muß, wenn das Verhältnis des Menschen zur Natur „sittlich“ in Ordnung sein soll – sie ist es, die zum Schaden der sittlichen Gesundheit des Menschen durchbrochen zu haben er der mathematischen Naturwissenschaft zur Last legt. Wir dürfen also feststellen, daß das, was Goethe uns in den einschlägigen Darlegungen gibt, nichts anderes ist als eine eindringliche und liebevolle Darstellung desjenigen Verhältnisses von Mensch und Natur, das sich als „Umgang“ realisiert, unter nachdrücklicher Hervorhebung dessen, was den einzigartigen Vorzug dieses Verhältnisses ausmacht. Ob wir zusammen mit dieser Darstellung auch das Verdikt anzunehmen haben, das über die den besagten Vorzug preisgebende naturwissenschaftlich-technische Naturbearbeitung ergeht – diese Frage muß einstweilen offenbleiben.

Die pädagogische Provinz

Wenn wir aber von der Aufdeckung dieser Übereinstimmung her unseren Blick zurücklenken auf die „pädagogische Provinz“, dann erhellt erst recht die Notwendigkeit der Verbindung, die wir zwischen dieser und der „Farbenlehre“ glaubten herstellen zu sollen. Denn dann zeigt sich: die Grenzsetzung, durch welche die Anthropologie der „Farbenlehre“ sich von den Erkenntnisformen der mathematischen Naturwissenschaft scheidet, steht in vollkommener Entsprechung zu der Grenzsetzung, durch welche die Pädagogik der „Wanderjahre“ sich von den Arbeitsformen der technisch-ökonomischen Welt scheidet. Hier wie dort ist es der „Umgang“, in dessen Namen und zu dessen Gunsten das Werk der radikalen Versachlichung verworfen wird.

Sind wir für diese Unterscheidung sehend geworden, dann fällt es uns nicht schwer, zu erkennen, wie tief sich das, was die pädagogische Provinz als Spezialisierung der Arbeit anerkennt und pflegt, von dem unterscheidet, was die technisch-ökonomisch durchorganisierte Arbeitswelt unter dem gleichen Titel entwickelt hat und unaufhaltsam vorwärtstreibt. Zunächst fragen wir uns: Ist die Spezialisierung der Tätigkeiten, der wir in der pädagogischen Provinz begegnen, diktiert durch die Forderungen einer Sache, deren Produktion erst durch Zerlegung der sie produzierenden Arbeit möglich wird oder wenigstens durch diese Zerlegung sich wesentlich vervollkommnet? Nein: sie erfolgt ausschließlich im Hinblick auf die Besonderheit der Begabungen. Sie sind es, denen die Spezialisierung der Tätigkeiten zugute kommen soll. Ist es doch die Aufgabe der Erziehung, sie durch eine ihnen gemäße Ausbildung zu der ihnen erreichbaren Vollkommenheit emporzuführen. „Es ist unser höchster und heiligster Grundsatz, keine Anlage, kein Talent zu mißleiten.“ Es ist nicht das Arbeitsprodukt, sondern einzig und allein der Mensch, um dessentwillen auf Viel-, wo nicht Allseitigkeit der Ausbildung verzichtet wird.

Die spezielle Tätigkeit aber, die dem Zögling als die seiner Anlage entsprechende Aufgabe zugewiesen ist, kann und wird, das ist die leitende Überzeugung, nur dann den erstrebten bildnerischen Erfolg haben, wenn sie ihrerseits nicht die Hervorbringung von etwas Fragmentarischem, der Ergänzung Bedürftigem einmündet, sondern ein Ganzes zustande bringt, das seinen Sinn in sich selbst hat und nicht von einem übergeordneten Gefüge zu Lehen trägt. Denn nur von einem solchen gilt dasjenige, was notwendiges Ingrediens des bildnerischen Ertrages ist: nur von ihm darf behauptet werden, daß es sich „als ein zweites Selbst von ihm (dem Produzierenden) ablöst“.

Genügt schon diese nähere Bestimmung der „spezialisierten“ Leistung, um ihren Abstand von dem Bau eines die Arbeit zerstückelnden industriellen Systems sichtbar zu machen, so braucht man weiterhin nur zuzusehen, welche Tätigkeiten in der pädagogischen Provinz zugelassen, welche von ihr ausgeschlossen sind, um vollends gewahr zu werden, wie weit wir hier von der Arbeitswelt der industrialisierten Gesellschaft entfernt sind. Was in der pädagogischen Provinz als bildnerisch wirksam anerkannt und gepflegt wird, das ist: Bergbau (aber nur soweit er es auf die Gewinnung von Metallen wie Zinn und Silber5, nicht auf diejenige von Kohle abgesehen hat), Viehzucht, Ackerbau, Handwerk mannigfaltiger Art; von rein geistigen Tätigkeiten die Sprachen und das Rechnen (nicht die Mathematik). Aber das Rechnen wird nicht in abstrakter Reinheit geübt, sondern nur im Anschluß an die Musik, also bloß in der Anwendung als Maßkunst, zugelassen und gepflegt.

Daß diese Pädagogik, soweit sie die Bearbeitung der „äußeren“ Welt in den Kreis der bildenden Tätigkeit einbezieht, sich nicht weniger streng als die Farbenlehre innerhalb jener Grenzen hält, die der Begriff des „Umgangs“ markiert, das wird durch nichts so deutlich bezeugt wie durch die bevorzugte Stellung, die dem Handwerk innerhalb des Ganzen zufällt, und durch die Begründung, die seiner Auszeichnung beigegeben wird. Denn diese Begründung greift auf eben die Eigentümlichkeiten handwerklichen Tuns zurück, die uns oben veranlaßten, in ihm die reinste Form des Umgangs mit der Natur anzuerkennen. Seine Lebensbedeutung erleuchtet der Satz: „Allem Leben, allem Tun, aller Kunst muß das Handwerk vorausgehen, welches nur in der Beschränkung erworben wird.“ Und daß es der Bildung des Menschen so dienlich ist, das wird auf genau diejenige Eigentümlichkeit zurückgeführt, deren Abwesenheit den Dienst in arbeitsteiliger Industrieproduktion kennzeichnet. Es ist der ganze, seine leiblichseelische Einheit zum Einsatz bringende, Tun und Denken vereinende Mensch, der ein Ganzes schafft, das er ohne Abzug sich selbst zurechnen darf und in dem er deshalb sich selbst wiederfindet. In dem, was hier geschieht, ist wahrlich die Forderung erfüllt: „Was der Mensch leisten soll, muß sich als ein zweites Selbst von ihm ablösen, und wie könnte das möglich sein, wäre sein erstes Selbst nicht ganz davon durchdrungen?“ Nehmen wir noch hinzu, daß das ganze Leben in der pädagogischen Provinz erheitert und verklärt wird durch eine allgegenwärtige musische Stimmung und zumal durch einen jegliches Tun begleitenden Gesang, so erkennen wir in dieser Pflegestätte „spezialisierter“ Tüchtigkeit geradezu das Gegenbild zu dem in der Zucht strenger Sachdienstbarkeit disziplinierten Arbeitsgetriebe der industriellen Gesellschaft.

Grenzen der Weltoffenheit

Unter den Verkündern der Humanitätsidee ist Goethe derjenige, der am energischsten darauf dringt, der Mensch könne nur dadurch Mensch werden, daß er sich in verantwortlichem Handeln mit der Welt einlasse, an der Welt messe, für die Welt einsetze. Auf sich allein gestellt bleibe er unerfüllte Versprechung. Da er als einzelner notwendig unvollständig sei, so müsse er, wie es in dem Winckelmann-Aufsatz heißt, dahin streben, „mit der Welt verbunden ein Ganzes zu bilden“. Goethe hielt es für angezeigt, diese Notwendigkeit einzuschärfen, weil er gerade an „vorzüglichen Geistern“ seiner Epoche die Eigentümlichkeit zu bemerken glaubte, „eine Art Scheu vor dem wirklichen Leben zu empfinden, sich in sich selbst zurückzuziehen, in sich selbst eine eigene Welt zu erschaffen“. Sie wollen also nichts Geringeres, als in sich selbst, aus eigener Kraft, hervorbringen, was nur im Verein mit der Welt zustande kommen kann.

Gerade weil Goethe im Gegensatz zu den Gerügten den Menschen, der er selbst werden will, so nachdrücklich an die Welt verweist, ist es um so lehrreicher, festzustellen, wie weit diese Anerkennung der Welt als des notwendigen Lebenspartners geht und an welchem Punkte sie der bedingungslosen Verneinung weicht. Die „pädagogische Provinz“ ist gerade deshalb so aufschlußreich, weil sie haargenau die Grenze bezeichnet, bis zu der der Anwalt der klassischen Humanität den Arbeitsformen der „Welt“ glaubt entgegenkommen zu können, ohne sein Ideal aufgeben zu müssen. Es muß uns zu denken geben, daß selbst ein Goethe, in seiner Weltoffenheit den meisten Mitstrebenden voraus, hier auf eine Schranke stößt, über die er nicht hinauskann. Er gibt sich keiner Täuschung darüber hin, daß keine Macht dieser Erde der Ausbreitung des „Maschinenwesens“ Einhalt gebieten kann. Schillers geschichtsphilosophische These, es sei nur eine zu überwindende Durchgangsstufe, die von ihm ihr Gepräge erhalte, findet bei ihm keine Gegenliebe. Aber deshalb die Arbeitsformen und -ordnungen, die an der Maschine ihr sichtbares Symbol haben, in das Heiligtum der „humanen“ Wirkensmächte einzulassen – das kann er nicht über sich gewinnen. Er bringt es aus dem Grunde nicht fertig, weil er sich nicht verhehlen kann, daß mit ihrer Zulassung die „Harmonie“ der Wesensentfaltung gestört werden würde, die dem Anwalt der Humanität über allem steht.

Allein wird durch diese Weigerung an dem tatsächlichen Stande der Dinge etwas geändert? Sprechen wir das unumwunden aus, was Goethe ausdrücklich einzugestehen unterläßt, so müssen wir sagen: jene „Welt“, mit der nach Goethe der Mensch es aufnehmen muß, um wahrhaft Mensch werden zu können, ja mit der er einen „Bund“ eingehen muß, auf daß ein Ganzes herauskomme – sie schließt nach seinem eigenen Eingeständnis einen Bereich in sich, der durch die von ihm ausgehenden Nötigungen der Menschwerdung, wie sie von ihm gefordert und gefeiert wird, nicht nur nicht dienlich ist, sondern entgegenarbeitet. Die Welt, wie sie nun einmal ist, läßt sich nicht ohne Rest mit dem auf Harmonie hinarbeitenden Streben des Menschen in Einklang bringen. Der Schein einer möglichen Harmonie läßt sich nur so lange aufrechterhalten, wie man diese Partien des Menschenlebens künstlich abblendet – also etwa den Zögling in den Naturschutzpark einer „pädagogischen Provinz“ versetzt. Werden sie umgekehrt unabgeschwächt und unbeschönigt in das Bild des Daseins aufgenommen, so ist es um die Harmonie geschehen und der Zwiespalt der der Menschwerdung förderlichen und der ihr bedrohlichen Lebenstendenzen als unverdrängbares Daseinsmotiv anerkannt.

Wenn wir aber Goethe durch Aussprechen des von ihm Übergangenen so zu Ende denken, sehen wir dann sein Sinnen nicht auf eine Auslegung des menschlichen Daseins herauskommen, die derjenigen Pestalozzis auffallend nahesteht? Daß der Widerstreit der aus der „kollektiven“ und der aus der „individuellen“ Existenz entfließenden Ansprüche nicht aus dem Leben zu verbannen sei: das wäre darnach die Überzeugung nicht bloß des Anwalts der im Schatten der Dienstbarkeit Dahinlebenden, sondern auch des Abgotts der im Lichte des Geistes Wandelnden gewesen. Und der einzige Unterschied wäre der, daß jener ohne Schonung auszusprechen sich nicht gescheut hätte, was dieser unbelichtet im Hintergrunde zu halten vorzog.

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Theodor Litt: Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt

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