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4. Die Stagnation des Naturalismus
ОглавлениеKehren wir nach diesem kleinen Exkurs über Metaphysik zum Naturalismus zurück, der inzwischen zur Metaphysik so vieler Philosophen aufgestiegen ist. Viele glauben, der Naturalismus sei keine Metaphysik, denn er halte sich strikt und ausschließlich an die Ergebnisse der Wissenschaften. Über diesen Glauben vieler Philosophen kann man sich nur wundern. Er träfe zu, behauptete der Naturalismus lediglich, dass es die Erfahrungswelt gibt und sie durch die Wissenschaften zureichend erkannt wird. In der Tat, wer wollte das bezweifeln? Der Naturalist hingegen behauptet etwas anderes: Es gibt nur die durch die Wissenschaften erkennbare Erfahrungswelt.
Der Naturalismus gibt wie jede Metaphysik Auskunft über das Ganze der Wirklichkeit und die Stellung des Menschen in ihr. Nun drängen sich zwei Arten von Gegenständen derart auf, dass jedes metaphysische Panorama vom Ganzen der Wirklichkeit mit ihnen zurechtkommen muss. Da sind zum einen die materiellen Dinge und Prozesse in der Welt, wie insbesondere die Naturwissenschaften sie beschreiben und erklären. Da sind zum anderen wir Menschen als erlebnisfähige selbstreflexive Ich-Subjekte. Jede ernstzunehmende metaphysische Auskunft über das Universum und unseren Platz in ihm ist daher mit der Frage konfrontiert: Wie haben wir uns die Wirklichkeit im Ganzen vorzustellen, damit wir verstehen, wie materielle Dinge und Prozesse und zugleich erlebnisfähige selbstreflexive Ich-Subjekte zusammen ein und dieselbe Welt bilden?
Die verschiedenen naturalistischen Antworten auf diese unausweichliche Frage leiden alle unter derselben Schwierigkeit: Sie können uns nicht wirklich verständlich machen, warum in einer an sich rein materiellen Erfahrungswelt eines Tages erlebnisfähige selbstreflexive Ich-Subjekte mit ihrer spezifischen Ich-Perspektive die Bühne betreten haben. Ich möchte mit vier Argumenten schlaglichtartig beleuchten, warum der Naturalismus hier in erheblichen Erklärungsnöten steckt.
Das erste Argument findet sich im wesentlichen bei Thomas Nagel.21 Es ist ein wunderbar einfaches Argument. Sollte sich die Wirklichkeit vollständig durch die Erfahrungswissenschaften beschreiben und erklären lassen, müsste sie aus der objektiven Beobachterperspektive vollständig beschreibbar sein. Der Leser möge sich vorstellen, er wäre mit einer solchen Beschreibung konfrontiert. Dem Anspruch nach würde darin auch alles über ihn gesagt, was über ihn zu sagen wäre. Oder würde doch noch etwas fehlen?
Für jeden von uns würde sogar das Entscheidende in dieser angeblich vollständigen Beschreibung fehlen. Jeder von uns müsste noch erkennen: »Übrigens, die Person, von der da unter der Bezeichnung N.N. so ausführlich die Rede ist, das bin ich selber.« Und diese Feststellung, obwohl für jeden das A und O, um überhaupt ein Teil der objektiv beschriebenen Welt sein zu können, käme schon deshalb in der erfahrungswissenschaftlichen Beschreibung nicht vor, weil dort über Personen intersubjektiv mit Eigennamen oder Kennzeichnungen geredet werden muss, während wir unsere Selbstidentifizierung mit einer objektiv beschriebenen Person nur mit dem indexikalischen Ausdruck »Ich« vollziehen können. Bereits diese einfache Beobachtung belegt die Schwierigkeit, erlebnisfähige selbstreflexive Ich-Subjekte und ihre besondere Erste-Person-Perspektive verständlich in einer objektiven, rein materiellen Welt zu plazieren.
Prämisse: Für jede in der Beobachterperspektive vollzogene Beschreibung von Tatsachen, die eine bestimmte Person betreffen, muss diese Person noch den Gedanken in der Erste-Person-Perspektive in Ich-Sätzen vollziehen, dass sie es ist, von der die Beschreibung handelt.
Prämisse: Diese Ich-Sätze, in der eine Person sich selbst identifiziert, sind nicht Teil einer erfahrungswissenschaftlichen Beschreibung der Wirklichkeit.
Prämisse: Ohne diese Selbstidentifizierung von Personen ist aber jede erfahrungswissenschaftliche Beschreibung von Personen unvollständig (und für die betreffende Person selber nutzlos).
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Konklusion: Also sind erfahrungswissenschaftliche Beschreibungen von Personen unvollständig.
Nun zum zweiten Argument. Es hat eine ehrwürdige Tradition, denn bereits René Descartes (1596–1650) und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) verdanken wir wirkungsmächtige Versionen dieses Arguments. Eine moderne und überaus elegante Version hat jüngst Franz von Kutschera22 (*1932) vorgelegt. Das psychologische Vokabular, mit dem wir im Alltag uns selbst, unsere Erlebnisse, unsere Gedanken, unsere Wahrnehmungen und so weiter aus unserer Erste-Person-Perspektive beschreiben, kann nicht definiert oder begrifflich expliziert werden mit Hilfe des naturwissenschaftlichen Vokabulars. Daher lässt sich aus rein physikalischen Prämissen niemals logisch-begrifflich auf mentale Sachverhalte schließen. Mithin scheitert eine rein physikalische Erklärung des Mentalen. Denn eine Erklärung hat immer die Form eines Schlusses, und eine physikalische Erklärung des Mentalen müsste ein Schluss aus rein physikalischen Prämissen auf mentale Sachverhalte sein.
Prämisse: Das Mentale wird nur dann naturalistisch verstanden, wenn es möglich ist, logisch-begrifflich von physikalischen Aussagen auf Aussagen über Mentales zu schließen.
Prämisse: Es ist aber nicht möglich, logisch-begrifflich von physikalischen Aussagen auf Aussagen über Mentales zu schließen.
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Konklusion: Also ist es nicht möglich, Mentales rein naturalistisch zu verstehen.
Wer aus physikalischen Sachverhalten auf mentale Sachverhalte schließen will, benötigt unter seinen Prämissen immer mindestens ein Brückenprinzip23, das aus beiden Vokabularen, dem physikalischen und dem (alltags)psychologischen, zusammengesetzt ist. Brückenprinzipien, auf die Naturalisten zielen, haben die Form: »Die mentale Eigenschaft M ist genau dann realisiert, wenn eine der physischen Eigenschaften P1 bis Pn realisiert ist.« Man nennt die Eigenschaften P1,…,Pn physische Korrelate der mentalen Eigenschaft M und die oben genannten Brückenprinzipien Korrelationsbehauptungen. Gibt es für Eigenschaften immer auch physische Korrelate, so supervenieren, wie man in der Philosophie des Geistes dazu sagt, die mentalen Eigenschaften über den physischen. Supervenienz ist wie folgt definiert: Mentale Eigenschaften verändern sich nur, wenn sich auch physische Eigenschaften verändern.
Naturalisten behaupten die Supervenienz des Mentalen über dem Physischen. Aber Supervenienz lässt sich unterschiedlich stark behaupten. Die entsprechenden Korrelationsbehauptungen könnten begrifflich wahr sein, so wie die Sätze »Junggesellen sind unverheiratet« oder »Die Sonne geht im Westen unter« aufgrund von Bedeutungsfestlegungen der Ausdrücke »Junggeselle« oder »Sonne« und »Westen« wahr, mithin begrifflich wahr sind. Man spricht dann von logischer oder begrifflicher Supervenienz. Jedoch hat niemand überzeugende begrifflich wahre Korrelationsbehauptungen präsentieren können. Darauf beruht auch das eben skizzierte zweite Argument.
Etwas schwächer, aber immer noch stark, wäre die sogenannte naturgesetzliche Supervenienz, wonach sich die Korrelationsaussagen aus den grundlegenden Naturgesetzen für das Physische (und möglicherweise gewissen physischen Rand- und Anfangsbedingungen) ableiten lassen. Doch auch hier meldet die Wissenschaft »Fehlanzeige«. Wie sollten psychophysische Korrelationsbehauptungen aus den Naturgesetzen überhaupt logisch-begrifflich folgen? Nehmen wir an, aus den Naturgesetzen N folgten tatsächlich logisch-begrifflich Korrelationsbehauptungen der Form »Der mentale Zustand M ist dann und nur dann realisiert, wenn einer der physischen Zustände P1,…,Pn realisiert ist«. Die Naturgesetze sind jedoch ganz im Vokabular der Naturwissenschaften formuliert. Das aber würde bedeuten, dass aus den Naturgesetzen und einer Aussage der Form »Einer der physischen Zustände P1,…,Pn ist realisiert«, mithin aus rein physikalischen Aussagen, die Aussage »Der mentale Zustand M ist realisiert«, also eine Aussage über Mentales logisch-begrifflich folgt. Und diese Möglichkeit hatten wir oben schon verworfen.
Deshalb muss sich der Naturalismus mit schwacher Supervenienz zufriedengeben. Sind die physischen Zustände der Welt und die grundlegenden Naturgesetze gegeben, so sind damit trotzdem die mentalen Zustände in der Welt noch nicht zwingend determiniert. Das beinhaltet die These von der schwachen Supervenienz. Ihr zufolge lässt das Mentale sich nicht erwarten. Vielmehr tritt es überraschend als etwas Neuartiges gegenüber dem Physischen und seinen Gesetzen in Erscheinung. Bei schwacher Supervenienz spricht man auch von starker Emergenz.24
Doch damit verflüchtigt sich die naturalistische Kernthese, das Mentale sei letztlich etwas Physisches, ins Nebulöse. Die These der starken Emergenz ist zwar mit dem Naturalismus verträglich, kaschiert gleichwohl jedoch gemessen an seinen Erklärungsansprüchen eine Erklärungslücke, die der Naturalismus bisher nicht zu schließen vermag. Starke Emergenz ist bereits Dualismus, aber noch im Gewande des Naturalismus. Das ist ein weiterer Grund dafür, warum der Naturalismus stagniert.
In Wahrheit ist die Sachlage noch prekärer. Die wissenschaftliche Forschung kennt bisher jedenfalls nur mehr oder weniger grobschlächtig formulierte notwendige physische Bedingungen für das Mentale. Von hinreichenden physischen Bedingungen für psychische Zustände ist weit und breit nichts zu sehen.
Prämisse: Für keine der zwei Behauptungen, dass das Mentale über dem Physischen entweder logisch-begrifflich oder naturgesetzlich superveniert, liegen bisher auch nur im Ansatz plausible Begründungen, geschweige denn solide empirische Hinweise vor.
Prämisse: Wenn keine der zwei Behauptungen ausreichend begründet ist, muss sich der Naturalismus auf die im Kern bereits dualistische These zurückziehen, dass das Mentale aus dem Physischen stark emergiert.
Prämisse: Die dualistische These der starken Emergenz des Mentalen gegenüber dem Physischen ist für den Naturalisten das Eingeständnis einer gravierenden Erklärungslücke.
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Konklusion: Also muss sich der Naturalismus auf die bereits dualistische These der starken Emergenz des Mentalen gegenüber dem Physischen zurückziehen und damit faktisch eine gravierende Erklärungslücke eingestehen.
Schließlich leidet der Naturalismus noch unter einem weiteren Defekt. Selbstverständlich glauben Naturalisten, die materielle Realität zumindest in ihren Grundzügen zureichend erkennen zu können. Zugleich hat sich der Naturalist darauf verpflichtet, alles naturgesetzlich zu erklären. Es ist freilich ausgeschlossen, vollständig naturgesetzlich und zirkelfrei zu erklären, warum wir Menschen die materielle Realität zureichend erkennen. Eine solche Erklärung müsste nämlich die folgende Form annehmen:
Prämisse: Es gelten in Bezug auf uns Menschen als körperliche Wesen die Bedingungen B.
Prämisse: Es gelten in Bezug auf die materielle Welt die Bedingungen U.
Prämisse: Es gilt naturgesetzlich: Insofern wir als körperliche Wesen die Bedingungen B erfüllen und die materielle Welt die Bedingungen U, können wir die materielle Welt hinsichtlich ihrer Aspekte A zureichend erkennen.
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Konklusion: Also können wir die materielle Welt hinsichtlich der Aspekte A erkennen.
Wenn wir die ersten beiden Prämissen für wahr halten, so glauben wir, die materielle Welt wenigstens hinsichtlich der Aspekte B und U bereits zutreffend erkannt zu haben. Natürlich ist vorstellbar, dass wir unser Wissen der Aspekte B und U seinerseits naturgesetzlich erklären können. Gleichwohl kündigt sich damit ein unendlicher Regress an. Ihm entrinnen wir nur, wenn wir schließlich doch auf einen erklärenden Sachverhalt stoßen, den wir nicht mehr naturgesetzlich, sondern auf andere Weise erklären können.
Welche Konsequenz sollten wir aus den erheblichen Erklärungsdefiziten des Naturalismus ziehen? Verkehrt wäre es, den Naturalismus für widerlegt zu halten. Vielleicht versorgt uns die empirische Forschung ja doch eines Tages mit hinreichenden empirischen Evidenzen für echte Korrelationen zwischen mentalen und physischen Eigenschaften. Wer will definitiv ausschließen, dass sich unser Verständnis der fundamentalen Naturgesetze noch so ändern könnte, dass möglicherweise sogar naturgesetzliche Supervenienz des Mentalen über dem Physischen gut begründet erscheint.25 Zudem kann der Naturalist, wenn alle Stricke reißen, immer noch den erkenntnistheoretischen Joker ziehen.26