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Werra, die Ausreißerin

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Die Gischt spritze hoch und kühlte ihre von der Sonne erhitzte Haut. Onta sog die salzige Luft tief ein. Die Wellen schlugen mit solcher Wucht an die Küste, dass der Boden unter ihren Füßen leicht vibrierte. Rechts von ihr turnten ein paar Touristen über die sechs- und fünfeckigen Basaltsäulen. Immer wieder schrien sie sich Kommandos zu, bevor sie zu Stein erstarrten und sich fotografieren ließen. Onta genoss ihren Ausflug zu dem Giant´s Causeway, den einer Legende nach Fionn mac Cumhaill gebaut hatte. Ein bisschen vermisste sie in Deutschland diese Geschichten über Riesen, Trolle und Kobolde im Alltag der Menschen. Deutschland war für sie nüchtern und realistisch. So wie Sophie, schmunzelte Onta. Für große Fantastereien war dort kein Platz. Es musste alles wissenschaftlich erklärbar sein.

Onta betrachtete die Basaltsäulen unter ihren Füßen. Natürlich kannte sie die wissenschaftliche Erklärung für deren Entstehung, doch die Geschichte des Riesen, der den Giant´s Causeway gebaut hatte, fand sie viel schöner. Sie betrachtete noch einmal die Touristen, die sich unter viel Geschrei fotografieren ließen, bevor sie sich an den Aufstieg machte. Oben angekommen blickte Onta kurz über das wogende Meer, bevor sie sich auf ihr Fahrrad schwang und nach Hause, zu ihren Eltern radelte. Nur noch wenige Tage konnte sie die Meerluft und das Zusammensein mit ihren Eltern genießen bevor es wieder zu Aimee, Tante Hummel und der Friedrich-Stein-Schule ging. Sie seufzte. Während sie heimwärts radelte, schweiften ihre Gedanken zum gestrigen Abend ab.

„Willst du nicht wieder hier in Irland auf die Schule gehen Onta?“, hatte sie ihr Vater gefragt. Erst war sie über die Frage geschockt gewesen. Einerseits verstand sie ihre Eltern: Ohne ihre Töchter war es leer im Haus. Anderseits hatte sie sich in Deutschland eingelebt. Also hatte sie ihren Eltern wahrheitsgemäß geantwortet: „Nein, ich vermisse euch zwar wahnsinnig, doch möchte ich bei Tante Hummel bleiben.“ Und jetzt, wo sie so gemütlich durch die irische Landschaft fuhr und noch mal über alles nachdachte, spürte sie, dass es die richtige Antwort gewesen war. Bei Tante Hummel war immer jemand da, mit dem man reden konnte. Sie hatte Freundinnen gefunden, mit denen sie nicht im ständigen Konkurrenzkampf stand. Als Gruppe hatten sie in den letzten Monaten einiges erlebt: die Goldblatt-Hochzeit gerettet, den Saboteur des Schulwettkampfs gestellt und hingen nicht ihre Fotografien in einer Kunstsammlung? Eben! Wenn sie ehrlich war, hatte sie in ihrer gesamten Zeit in Irland nicht so viel erlebt, wie dort. An ihrer alten Schule war es immer nur um die besten Schwimmzeiten und Wettkampfergebnisse gegangen. Die Friedrich-Stein-Schule war kein Zuckerschlecken, so ehrlich war sie zu sich selbst und ihren Eltern, dennoch, war sie alle Anstrengungen wert.

Ein einsames dickes Schaf auf der Straße riss Onta aus ihren Überlegungen. Fast hätte sie es angefahren, so blöd stand es auf der Straße. „Hoppla, wo kommst du denn her?“ Ein anklagendes „Mäh“ war die Antwort auf ihre Frage. Was sonst?, dachte Onta schulterzuckend. Sie stellte ihr Fahrrad an die Seite und schaute sich um. Weit und breit war keine Schafherde zu sehen. Sie dachte nach. Der nächste Bauernhof lag noch zwei Kilometer entfernt in ihrer Richtung. Aber so einfach stehen lassen konnte sie das Schaf nicht, überlegte sie. Wenn einer der angeschickerten Touristen hier vorbeifuhr, dann war es tot. Sie kramte in ihrem Rucksack. Von ihrem Proviant waren noch ein Apfel und ein Stück Brot übrig. Und ein Schal hatte sie auch noch dabei, den könnte sie als Leine verwenden. Onta ging vorsichtig auf das leise blökende Schaf zu, sie streichelte das wollig-wachsige Fell und versuchte den Schal festzumachen. „Komm, kleines Schäfchen, ich bring dich nach Hause“, flötet Onta leise und zog probeweise an dem Schal. Nichts passierte. Also gut. Mit einem Seufzer biss vom Apfel ein Stückchen ab und hielt es dem Schaf hin. Das Schaf hob seinen Kopf, machte sich lang und stibitzte das Apfelstückchen aus Ontas Hand. Warm und weich fühlte sich die Schnauze an, doch vorwärts bewegte es sich nicht. Onta fluchte leise auf Gälisch, wie sie es sich von ihrer verstorbenen Großmutter abgeschaut hatte. Doch das Schaf blieb unbeeindruckt stehen. Onta ging hinter das Schaf und drückte. „So, jetzt aber“, sprach sie laut zu dem störrischen Biest. Vergebens. Plötzlich hob das Schaf den Kopf und trabte los. Mit einem „Hoppla“, landete Onta überrascht auf der Straße. Die ruckartige Bewegung hatte sie aus dem Gleichgewicht gebracht. Onta wischte sich ihre Hände an der Hose ab. Verdammter Schafsdreck! Das Schaf blieb wieder stehen, schaute sie kurz an, blökte und blickte in Richtung Kurve. Es war fast so als würde es das schnaufende Geräusch, das sich hinter der Kurve näherte, kennen. Tatsächlich wedelte es kurz mit seinem Stummelschwänzchen, wie Onta bemerkte. „Na, kommt, da jemand den du kennst?“, fragte Onta leise und strich ihm über den Bauch. Ganz schön dick, fiel ihr jetzt auf. Ein leise „Mäh“ kam als Antwort zurück, bevor sich das Schaf wieder in Bewegung setzte und auf den gelbgrauen Pritschenwagen zulief. Onta versuchte es aufzuhalten und krallte ihre Finger in das Fell, doch das Schaf trottet unbeirrt auf den Wagen zu. Ein letztes schnaufen, ein schrilles quietschen und der Wagen blieb stehen. „Hallo, na da bist du ja, du Ausreißer“, sagte eine sonore Männerstimme, als sich die Wagentür öffnete. Ein alter Mann stieg aus. Sein wettergegerbtes Gesicht blickte erst zu dem Schaf und dann zu Onta. Lächelnd kam er auf sie zu und nickte. Ontas Finger entspannten sich. „Hallo, ich bin Oran Mac Conmara und das hier“, er deutete grinsend auf das Schaf. „Ist Werra, meine kleine Ausbrecherkönigin.“ Onta nickte erst Werra zu und reichte dann, Oran Mac Conmara die Hand. „Ich bin Onta Namara, sehr erfreut“, stellte sie sich vor. Onta merkte, wie die grünen Augen ihres Gegenübers sie musterten. „Namara? Sind Sie die Tochter von Niall Namara aus Dervock?“ Onta nickte. Ihre Wangen färbten sich leicht rot, er hatte „Sie“ gesagt. Ich bin doch erst dreizehn, dachte sie bei sich. Herr Mac Conmara hatte sich zwischenzeitlich Werra zugewandt und hievte sie auf die Laderampe des Pritschenwagens. „Du kannst dein Rad hinten hinlegen und mitfahren, wenn du willst“, bot er ihr freundlich an. Onta schüttelte den Kopf. „Dankeschön, aber ich fahre die kurze Strecke lieber mit dem Rad", erwiderte sie freundlich aber bestimmt. Herr Mac Conmara schüttelte den Kopf und sagte leise, mehr zu sich selbst als zu Onta. „Ja, das sind Zeiten.“ Mit einem lauten Klack schloss er die Fahrertür und lehnte sich aus dem Fenster. „Danke, dass Du auf Werra aufgepasst hast, und sag´ deinem Vater einen schönen Gruß von mir.“ „Keine Ursache Herr Mac Conmara“, erwiderte Onta höflich und schwang sich auf ihr Fahrrad.

Dreißig Minuten später kam sie bei ihren Eltern an. Mit einem „Hallo Töchterlein“, begrüßte sie ihre Mutter in der Küche. Bevor sie antwortete, blieb Onta erst mal stehen und sog den Duft des frischgebackenen Brotes ein. Herrlich! Während sie ihrer Mutter von ihrem Ausflug und der Begegnung mit Werra und Herrn Mac Conmara erzählte, klingelte es. „Nanu, wer kann das den sein?“, fragte ihre Mutter überrascht und schaute sie belustigt an. Onta zuckte mit den Schultern und nuschelte ein „Weiß nicht“, zwischen zwei Brotbissen hervor. Es klingelte erneut. Neugierig machten sich beide auf zur Vordertür. Ein mittelgroßer Schatten mit einem bunten Klecks in der Mitte konnte Onta hinter der Milchglasscheibe ausmachen. Frau Namara öffnete die Tür. „Guten Tag, womit kann ich ihnen behilflich sein?“, fragte sie den jungen Mann, der vor ihr stand, höflich. „Mein Name ist Rian Mac Conamara.“ Onta verschluckte sich. Wow!, schoss ihr durch den Kopf. Groß, schlank, sandfarbenes Haar, grüne Augen und niedliche Sommersprossen, wie sie kurz bemerkte. Bevor der junge Mann weiter sprechen konnte, unterbrach ihn Ontas Mutter: „Ich glaube Sie wollen zu meiner Tochter“, und gab den Weg frei. „Hallo“, war alles, was Onta sagen konnte. „Hallo“, strahlte sie Rian an. „Mein Vater schickt mich und ich soll dir seinen Dank ausrichten für Rettung der schwangeren Werra“, und mit diesen Worten streckte er Onta einen Strauß Blumen entgegen. „Dankeschön“, stotterte Onta. „Keine Ursache“, winkte Rian ab und fügte hinzu. „Wenn du magst, kannst du Werra mit deiner Familie auf der Farm besuchen kommen“, er nickte Ontas Mutter zu. „Sie bekommt in den nächsten Tagen ihr Kleines“, erklärte er den beiden Frauen. „Sicher gerne machen wir das“, sagte Frau Namara und Onta fast gleichzeitig und lachten einander zu. „Also bis dann“, rief Rian ihnen zum Abschied zu, bevor er sich auf seinen Roller schwang und hupend davonbrauste. „Na, dann wollen wir den schönen Strauß mal versorgen“, meinte Ontas Mutter lächelnd und schob ihre Tochter sanft wieder in das Haus herein. So fühlen sich also Schmetterlinge im Bauch an, dachte Onta noch, bevor sie erneut ihre Nase im Blumenstrauß eintauchte. Herrlich!

Das Törtchen-Team in Turbulenzen

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