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Sophie – Das Zuckerstückchen
ОглавлениеSophie stieg aus dem Bus. Weiße Wölkchen ausatmend, ging sie durch die verwinkelten Gässchen des mittelalterlichen Stadtviertels mit seinen schiefen Häusern. Sie schaute sich um, egal wie oft sie in den letzten Wochen diesen Weg genommen hatte, immer wieder konnte sie etwas Neues entdecken. Die Eisblumen auf den Fenstern im zweiten Stock der Metzgerei. Vorgetrieben Hyazinthen auf einer Fensterbank, die gefleckte Katze, welche die Straße beobachtete. Seit drei Monaten kam sie zweimal in der Woche in das Altstadtviertel, um zu arbeiten. In einer kleinen Confiserie: das Zuckerstückchen.
Goldenes Licht strömte aus den Schaufenstern in die hereinbrechende Dunkelheit, ein leichter Duft nach Schokolade und Zimt umwehten den Laden. Sophie schaute noch einen Augenblick durch das Schaufenster bevor sie mit einem Lächeln durch die alte Ladentür eintrat und „Guten Abend Frau Hummel“, rief. Früher war das Zuckerstückchen eine alte Apotheke gewesen, die Frau Hummel einfach umgebaut hatte. Statt Pillen und Salben beherbergten kleine Törtchen, Kekse unterschiedlichster Art, bunte Bonbons und gedrehte Lutscher ebenso wie Pralinen die durchgehende Verkaufstheke. Die beiden winzigen Tischchen, die an dem großen Schaufenster standen, erlaubten den Kunden gleich ihren Appetit auf Süßes zu stillen. Hinter dem Verkaufsraum befand sich die große Küche, in der Sophie zweimal die Woche Frau Hummel half. Mit einem „Hallo, da bist du ja“, begrüßte sie die kleine korpulente Frau Hummel. Nachdem die Ladentür abgeschlossen war, gingen sie gemeinsam nach hinten in die Küche. Dort zog Sophie ihren schweren Wintermantel und die Schuhe aus. Versonnen streifte sie sich den weißen Kittel über, setzte das Haarnetz auf, schlüpfte in die Pantoletten und wusch sich die Hände. Frau Hummel hantierte in der Küche und der Duft von heißer Schokolade durchzog den Raum. Während Sophie ihre Finger selig um den Schokoladenbecher legte und die aufsteigenden Duftschwaden einatmete, schaute sie sich um. Als war so sauber wie immer. Sie nahm einen tiefen Schluck und überlegte, was sie wohl heute machen durfte. Vielleicht Pralinen überziehen oder Bonbons schneiden? „Heute müssen wir Inventur machen“, riss Frau Hummel sie aus ihren Überlegungen. „Mach, nicht so ein Gesicht, einmal im Jahr muss es sein. Und jetzt kommen eh nicht so viele Kunden, so kurz nach Weihnachten“, fügte sie mit leisem Bedauern hinzu.
In den nächsten zwei Stunden zählten und katalogisierten sie, was sie in der Küche fanden: Zutaten, Geschirr, Formen, Pinsel, Geräte. Plötzlich durchbrach ein Telefonläuten die betriebsame Küchenatmosphäre.
Frau Hummel eilte so schnell sie konnte in die Diele zum Telefon. „Ja hier, das Zuckerstückchen. Frau Hummel am Apparat“, hörte Sophie sie noch sagen, bevor die Tür wieder zuging und sie alleine in der Küche stand.
Sie öffnete den letzten Schrank mit einem Seufzer der Erleichterung. Nachdem sie die Anzahl der Schüssel, Tortenringe und Tartletts in die Liste eingetragen hatte, machte sie sich um Frau Hummel Sorgen. Eine Dreiviertelstunde war seit dem Anruf vergangen und sie war immer noch nicht wieder zurück. Vorsichtig ging sie zur Dielentür und rief nach ihr. Keine Antwort. Behutsam drückte sie die Klinke runter und lauschte.
Niemand sprach, der Telefonhörer war aufgelegt. Hinter der Diele schloss sich das Treppenhaus an, das nach oben in die Wohnung von Frau Hummel führte. Sophie rief lauter nach Frau Hummel, erhielt aber wieder keine Antwort. In der Stille des Treppenflurs konnte sie, aus der Wohnung ein leises Weinen und Schluchzen hören. Sophie stieg die Stufen empor, klopfte an der angelehnten Tür und betrat die Wohnung.
Ein orangefarbenes Bild in der Diele setzte einen Farbakzent in der sonst weiß gehaltenen Wohnung. Sophie kam an alten schwarz-weiß Modefotografien aus den 50er und 60er Jahren vorbei, als sie tiefer in die Wohnung vordrang und dem Weinen folgte. Frau Hummel saß in ihrem Wohnzimmer, ein gefülltes Likörglas stand auf dem Tisch und sie hielt weinend ein Bild in der Hand. Als sie Sophie bemerkt, schniefte sie in ihr Taschentuch und legte das Bild mit einem „Oh, Sophie tut mir leid, ich habe dich ganz vergessen. Setz dich doch bitte“, ab. Zittrig nahm Frau Hummel einen Schluck aus dem Gläschen, trocknete nochmals ihre verweinten Augen und schaut Sophie an. Weiß, verheult und unendlich alt, wie Sophie schien. „Der Anruf war von meiner Schwester aus Irland. Es gab einen Anschlag. Auf einen Schulbus.“ Nach einem Schniefen und einem weiteren Schluck Likör setzte sie erneut zu sprechen an, aber die Stimme versagt ihr. Unbehaglich rutscht Sophie auf dem Sessel hin und her. „Meiner Nichte, sie ist in deinem Alter, ist zum Glück nichts Schlimmes passiert. Nur ein Knalltrauma und ein paar Schnittwunden.“ Sie schniefte nochmals. „Doch hat mich das an meine jüngste Schwester Annegret erinnert, die bei einem Bombenanschlag getötet wurde“, schloss Frau Hummel ihre Erklärung und hielt Sophie ein Familienbild mit vier jungen Frauen hin. Alle lachten in die Kamera und Sophie konnte sogar Frau Hummel auf dem Schwarz-Weiß-Foto erkennen: schlank und glücklich, als Kleinste der Viererbande. Frau Hummel sah es melancholisch an, Erinnerungen aus einer fernen Zeit schienen wieder gegenwärtig sein, Sophie fühlte sich als Störenfried. „Kann ich etwas für sie tun?“, fragte Sophie leise anstandshalber. Denn was konnte eine Zwölfjährige schon tun in einem solchen Moment, ging es ihr durch den Kopf. Mit einem „Nein, nein Kind. Geh nach Hause, die Inventur schließe ich morgen ab. Ich lasse den Laden geschlossen, das fällt sowieso keinem auf um diese Jahreszeit“, entließ sie Sophie und schenkte sich einen weiteren Likör ein.
Langsam ging Sophie durch die verschneiten Straßen des Altstadtviertels nach Hause. Sie hätte auch mit dem Bus fahren können, doch so konnte sie über das Geschehene nachdenken. Ihre Probleme erschienen ihr jetzt unbedeutend – Geldsorgen und Schulkarriere.