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10. Kapitel
ОглавлениеBetr.: Bernd Ziegenhals.
Anlage zum psychiatrischen Gutachten. Abschrift des Tonbandes 3/4.
Locker assoziierende Selbstdarstellung des Probanden. Vom Autor überarbeitet.
Kolczyk setzte seinen Kleinkrieg mit allen möglichen Mitteln fort, manchmal auch mit Mätzchen, die seiner unwürdig waren. Es war klar, dass er mich mit vorgetäuschten Mordanschlägen so lange systematisch zermürben wollte, bis ich Selbstmord beging. Und in mancher Nacht zweifelte ich kaum noch daran, dass seine Rechnung über kurz oder lang aufgehen würde. So wie die Dinge standen, war ich seinen Attacken völlig wehrlos ausgeliefert, und bei meiner fortgeschrittenen Zerrüttung brachten mich schon einige Mückenstiche aus dem Gleichgewicht. Mit meiner Drohung, ihn wegen des Plagiats anzuzeigen und seine steile Karriere jäh zu unterbrechen, besaß ich zwar gleichsam eine H-Bombe, aber Kolczyk wusste genau, dass ich sie nicht hochgehen ließ, weil wir in diesem Fall beide hopsgegangen wären. Solange er sich also unterhalb einer bestimmten Schwelle bewegte, konnte er mich mit seinen Schrotkugeln jederzeit in Angst und Schrecken versetzen.
Nehmen wir mal einen Vorfall, der mir recht typisch für Kolczyks Vorgehen erscheint. Und war es auch idiotisch und höchst kindisch, was er da tat, so hatte es zweifellos Methode.
Es war an einem Mittwoch, kurz vor Weihnachten, und ich war gerade von einer Grippe genesen. Ich stand auf, zum ersten Mal nach drei Tagen, und war noch ziemlich wacklig auf den Beinen. In meinem Kopf dröhnte es noch immer, und ich hatte verdammt trockene Lippen.
Auf dem Weg zur Toilette erlitt ich einen leichten Schwindelanfall und musste mich sekundenlang gegen die Wand lehnen. Obwohl ich am Abend zuvor meine Beruhigungspille geschluckt hatte, war ich nicht vor drei Uhr morgens eingeschlafen, und auch dann war mein Schlaf noch von wüsten Träumen gestört worden. Ich hatte mit Riesenkraken gekämpft, gefesselt auf glühenden Eisenbahnschienen gelegen und mich im klebrigen Schoß kolossaler Sirenen bis zur Bewusstlosigkeit betätigt.
Endlich stand ich vor dem Becken, klappte den Deckel hoch und schlug den Bademantel auseinander. Was ich dann sah, war so erschreckend, dass ich vor der Badewanne zusammenbrach.
Mein Urin war grünlich blau.
Wie ich später rekonstruieren konnte, hatte Kolczyk seinen Freund Cloward besucht und in unserer gemeinsamen Toilette meine Medikamentensammlung entdeckt. Er hatte sofort geschaltet und ihr zwei spezielle Pillen hinzugefügt. So kam es dann, dass ich später statt meiner Beruhigungspillen sogenannte Desmoid-Pillen schluckte, Pillen, die man gemeinhin zur Magenfunktionsprüfung benutzt. An der Geschwindigkeit, mit der sie sich zersetzen und den Urin verfärben, können die Ärzte den Säuregehalt des Magens feststellen. Zwei Tage vorher hatte sich Kolczyk auf Anraten von Dr. Sievers einer solchen Prozedur unterziehen müssen, und er hatte die übrig gebliebenen Pillen dann noch einige Zeit mit sich herumgetragen ...
Jetzt erscheint mir das Ganze höchst albern, aber an dem fraglichen Morgen war mir durchaus nicht zum Lachen zumute. Da war ich so angeschlagen, dass mich schon der kleinste Luftzug umwarf. In dem Augenblick, in dem ich den blauen Urin sah, war ich sicher, dass Kolczyk mich vergiftet hatte. Ich träumte ja jede Nacht davon, dass er mich ermorden würde, und bei seiner heimtückischen Kampfesweise erschien es mir als ausgemacht, dass er es zuerst mit einem Gift versuchte.
Inzwischen hatte ich natürlich bemerkt, dass er mit Cloward befreundet war, aber das hinderte Kolczyk nicht im Geringsten daran, den naiven Amerikaner zum Instrument seiner schmutzigen Pläne zu machen. Offenbar hatte Cloward ihm erzählt, dass ich öfter zu ihm herüberkam, um mir Zigaretten zu borgen. Ich traute mich ja nach Sonnenuntergang kaum noch auf die Straße hinunter, und manchmal gingen mir abends die Zigaretten aus. Da ich mir das Kettenrauchen angewöhnt hatte, war das immer besonders schmerzlich. Und was hatte Kolczyk mit dieser Information angefangen? Er hatte Cloward Zigaretten geschenkt und bei einigen von ihnen kleine Knallkörper in den Tabak gesteckt.
Nichts ahnend und in die Lektüre der Blechtrommel vertieft, lag ich an einem Sonnabend im Bett, als meine Zigarette mit einem mächtigen Knall auseinander flog und der Tabak wie Schnee von der Decke rieselte. Ein Schuss, war mein erster Gedanke, ein Kopfschuss, aus! Es dauerte Sekunden, bis ich begriff, was los war. Und auch als Cloward in der Tür stand und sich vor Lachen bog, zitterte ich noch immer am ganzen Körper. Es dauerte wohl eine halbe Stunde, bis sich mein Puls wieder normalisiert hatte. Und erst als ich eine halbe Flasche Dujardin ausgetrunken hatte, konnte ich einschlafen. Am nächsten Morgen, als ich dann brechend vor der Toilette kniete und sich mein Herz zusammenkrampfte, glaubte ich wirklich, mein letztes Stündchen habe geschlagen. Aber schweißüberströmt hatte ich mich noch einmal aufrappeln können.
Der schlimmste Schlag aber traf mich, als ich eines Abends leise die Treppe hinunterging, um meinen Abfalleimer auszuleeren. Ich hörte Cloward im Zimmer von Muttchen Braatz, offenbar sprach er von mir.
„... ein armer Kerl. Von seinem Arzt weiß ich, dass er an Leukämie leidet. Da ist nichts mehr zu machen!“
„Mein Gott!“, rief Muttchen Braatz.
Das hörte ich noch, dann brach ich auf der Treppe zusammen. Ich kam erst wieder zu mir, als mir Dr. Sievers eine mächtige Spritze in den Arm jagte. Als ich meine Befürchtung hervorstieß, lachte er nur und erzählte was von den verschiedenen Phobien, die es gibt. Es dauerte vierzehn Tage, bis meine total verkrampfte Galle wieder einigermaßen arbeitete und ich etwas anderes als Haferschleim zu mir nehmen konnte. Dann stellte ich mich dumm und fragte, ob er Kolczyk kennen würde. Dr. Sievers lächelte: Natürlich, einer meiner besten Freunde ... Also hatte Kolczyk das eingefädelt. Dieses Schwein! Verzeihung, aber ich war völlig fertig, völlig mit den Nerven runter.
Langsam begann ich mich zu fragen, ob ich mein Parasitentum nicht zu teuer bezahlte. Lange hielt ich diese nervlichen Belastungen nicht mehr aus. Je mehr ich durch drehte, desto schlimmer wurde die Wirkung der nächsten Attacke. Am Ende würde es noch so kommen, dass ich einen Herzschlag erlitt, wenn Kolczyk eine Papiertüte zerplatzen ließ. Ich war zu labil, ich war nicht zum Erpresser geboren, und die Nervenheilanstalt schien mir sicher. Es war schon so weit mit mir, dass ich Eier ohne Wasser zu kochen versuchte, meine Unterhose mit dem Schlitz nach hinten anzog und mich am Telefon mit Kolczyk meldete. Aber einen Weg zurück gab es nicht mehr!
Auch das Telefon nutzte Kolczyk für seine Zwecke aus, und mitunter klingelte es nachts und eine verzerrte Stimme stieß Drohungen aus oder ich hörte minutenlang nur ein metallisches Klicken, manchmal auch ein hämisches Lachen.
Ich erzähle Ihnen das nicht, weil ich auf mildernde Umstände oder auf den Paragraphen 51 hoffe, sondern nur, um zur Wahrheitsfindung beizutragen. Aber ich bitte Sie ganz inständig, sich einmal zu fragen, ob Kolczyk nicht ein wenig verrückt gewesen ist, ob er nicht einen kleinen Dachschaden hatte.
Aber damit nicht genug, Kolczyk schickte mir auch ab und zu recht zwielichtig aussehende Vertreter ins Haus, in denen ich jedes Mal professionelle Killer vermutete. Die meisten wollten mir Möbel, Fernlehrgänge, Versicherungspolicen, Autos und Zeitschriften verkaufen.
Mittlerweile wurde ich immer sicherer, dass Kolczyk mich schließlich doch ermorden würde, wenn er es nicht schaffte, mich zum Selbstmord zu treiben. Sehen Sie, erst hatte ich ja nur Angst vor einem gewaltsamen Tod haben sollen, um dann – nervlich völlig zerrüttet – Selbstmord zu begehen; jetzt aber, wo sein Rezept zu versagen drohte, musste er zur direkten Aktion übergehen, zum Mord. Anders konnte er mich nicht mehr loswerden, schließlich hatte seine psychologische Kriegsführung nicht zum gewünschten Ergebnis geführt. Zwei Selbstmordversuche reichten mir!
Am 20. Dezember, einem Mittwoch, geschah es dann. Es mochte gegen sechzehn Uhr sein, ich hatte gerade Nabokovs Lolita vor, als es klopfte.
„Herein!“ Ich hoffte im Stillen auf eine gut gebaute Kosmetik-Vertreterin, die sich vielleicht zu einer speziellen Vorführung eines Intim-Sprays überlisten ließ. Aber es war nur Muttchen Braatz. Sie hielt ein Päckchen in der Hand, nicht größer als eine Zigarrenkiste.
„... der Postbote hat es vorhin abgegeben. Und ich wollte mal sehen, wie’s Ihnen geht. Huch, es schellt schon wieder!“ Damit eilte sie nach unten.
Es war ein ganz gewöhnliches Päckchen, hellbraunes Packpapier, Tesafilm, zwei Briefmarken. Ich wog es kurz in der Hand, es mochte 500 Gramm wiegen, vielleicht auch ein wenig mehr. Ein Absender war nicht vermerkt – wer sollte mir auch schon ein Päckchen schicken. Aber irgendwie wurde ich jetzt stutzig.
Da! Ich hörte ein leises Ticken.
„Eine Höllenmaschine!“ Ich federte hoch, riss die Tür auf, stürzte auf den Korridor, griff meinen Mantel und sprang die Treppen hinunter. Nur weg hier, sollte doch der ganze Schuppen in die Luft fliegen! Wenn sie Clowards Leiche fanden, war Kolczyk ein Mörder, und ich hatte meine Rache!
Erst unten im Wagen kam ich wieder zu mir. Natürlich war keine Detonation erfolgt, Kolczyk hatte mir einen großen Wecker geschickt ...
Ich schaltete das Radio ein und steckte mir eine Zigarette an. Diesmal überwand ich den Schock schneller als sonst, weil ich mir sofort geschworen hatte, dem ganzen Spuk ein für alle Mal ein Ende zu bereiten. Zwar verspürte ich wieder einen heftigen Brechreiz, und in meinen Ohren dröhnte es, als stünde ich unter einem Wasserfall, aber zugleich durchströmte mich eine lange nicht gespürte Kraft.
Jetzt wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich war sicher, dass Kolczyk wie die meisten Intellektuellen unter einer tief verwurzelten Furcht vor körperlichen Schmerzen litt, und ich hatte dutzende von Schlägereien durchgestanden, ich kannte alle Kniffe, ich beherrschte eine Menge Judogriffe, und meine Aufwärtshaken hatten schon manchen Gegner zu Boden geschickt.
„Jetzt schlage ich zurück, jetzt schlage ich dich zusammen ...“, flüsterte ich, berauscht von meinem eigenen Mut. „Du wirst mir nie wieder ein Päckchen ins Haus schicken, du wirst mich nie wieder zum Narren halten! Ich mache dich fertig, ich verprügle dich wie einen räudigen Hund, ich bügle dir die Kimme aus dem Arsch – und du wirst alles einstecken, ohne um Hilfe zu rufen, ohne zur Polizei zu rennen, denn du hast viel zu große Angst, dass alles auffliegt. Du wirst mir für alles büßen, für die Zigaretten, für die Pillen, für die Vertreter, für das Päckchen, das garantiere ich dir!“
Es war dunkel geworden, und ich fuhr los, um mit Kolczyk abzurechnen.
Zehn Minuten später hielt ich in der Eppinger Straße, keine zwanzig Meter von seinem Anwesen entfernt. Der Platz war gut gewählt, denn von den ohnehin weit verstreuten Laternen war eine ausgefallen, sodass Passanten, die die Breisacher Straße entlangkamen, mich kaum sehen konnten. Und wenn wirklich jemand um die Ecke bog oder seine Gartentür öffnete, dann war es auch nicht weiter schlimm, ich brauchte bestenfalls dreißig Sekunden für meine Aktion.
In Kolczyks Arbeitszimmer brannte noch kein Licht, aber sein cremefarbener Mercedes 220 SE stand vor der Tür. Daraus konnte ich schließen, dass er drüben in der Uni hockte und arbeitete. Vom Gebäude der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät in der Garystraße bis zu seinem Haus waren es zu Fuß kaum drei Minuten. Dieser Tatbestand kam meinen Plänen sehr entgegen.
Ich wartete, zehn Minuten, zwanzig Minuten, eine halbe Stunde. Keine Spur von Kolczyk. Aber ich fluchte nicht, ich genoss dieses Warten, denn so konnte ich meine Vorfreude voll und ganz auskosten. Endlich war der Tag gekommen, wo ich ihm eine Lektion erteilen konnte. Ich fieberte vor innerer Erregung, gleichzeitig spürte ich etwas wie Angst. Keine Angst vor Kolczyk und seinem Widerstand, sondern Angst davor, dass ich zu heftig zuschlagen und ihn töten könnte.
Da! Ich schreckte hoch, im Wohnzimmer war das Licht angegangen. Jemand kam herein und stellte eine silberne Schale mit Mandarinen oder Apfelsinen auf den Tisch. Eine Frau, zwischen vierzig und fünfzig, ein wenig füllig, ein bisschen Studienrätin, ein bisschen Genossin, andererseits auch wieder auffallend mütterlich. Das graue Kostüm, das sie trug, ließ sie älter und massiger erscheinen, als sie eigentlich war. Ihre Züge hatten etwas Slawisches, das mich faszinierte. Im ersten Moment hielt ich sie für irgendeine Verwandte oder auch die Haushälterin, dann aber, als sie eine Art Safe öffnete und ein halbes Dutzend Geldscheine herauszog, wurde mir schlagartig klar, dass es sich um Kolczyks Frau handelte.
Ich will mich durchaus nicht entlasten, aber so wie sie habe ich mir immer meine Mutter vorgestellt. Sie können sich die Bilder, die mir von meiner Mutter geblieben sind, ja mal ansehen, dann werden Sie mir Recht geben. Jedenfalls stand mein Wunsch, in dieses Haus und von seinen Bewohnern aufgenommen zu werden, von nun an fest.
Dabei war ich mir völlig über das Widersprüchliche meiner Situation bewusst. Ich fühlte mich instinktiv zu dieser Frau hingezogen, und dennoch saß ich hier draußen im Wagen und wartete darauf, ihren Mann zusammenzuschlagen und damit auch ihr Schmerzen zuzufügen.
Doch ich konnte nicht mehr zurück, es musste sein! Einer von uns beiden, hatte er gesagt, und wenn ich ihn jetzt nicht bremste und einschüchterte, dann konnte ich meine eigene Beerdigung bestellen.
Jetzt war es achtzehn Uhr, im zweiten Programm des RIAS begannen sie mit den Sportnachrichten, aber immer noch keine Spur von Kolczyk. Ich hatte Mühe, meinen Zorn am Kochen zu halten.
Ich hatte mir gerade eine Zigarette angezündet, die fünfte bereits, als sich die Haustür öffnete und das Mädchen erschien, das mir schon bei meinem ersten Besuch aufgefallen war. Graziös wie eine Balletttänzerin lief sie zur Gartentür.
Vor dem Nachbargrundstück hielt ein großer Opel, ein Admiral. Ein gut gekleideter Herr stieg aus.
„Guten Abend, Fräulein Kolczyk!“, rief er über den Zaun. „Die besten Empfehlungen an den Herrn Papa!“ Dann verschwand er in seiner Garage.
Fräulein Kolczyk, seine Tochter also!
Die Sekunde, die auf diese Erkenntnis folgte, ist wohl die entscheidende in meinem Leben gewesen.
Jäh schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: Das ist die Lösung – du musst sie heiraten, dann hast du es geschafft, dann kann dir nichts mehr geschehen!
Sie stieg in den Mercedes ihres Vaters und fuhr los, ich folgte ihr ganz mechanisch, ganz von selbst.
Ein genialer Schachzug! Mit einem einzigen Zug konnte ich eine Unmenge von Zielen erreichen. Zuerst einmal begehrte ich sie, heftig sogar. Ich hatte schon immer ein Faible für diese langbeinigen, überschlanken Geschöpfe gehabt, mit diesem Hauch von Lolita-Verworfenheit. Außerdem – und das war nicht weniger ins Gewicht fallend – wurde ich damit Mitglied dieser Familie, dieses Clans, konnte in diesem Haus aus- und eingehen und mich von dieser in sich ruhenden Frau bemuttern lassen. Ganz zu schweigen davon, dass ich als Kolczyks Schwiegersohn in den Genuss seiner Beziehungen kam. Schließlich – und das war wohl das Ausschlaggebende – hatte ich mit diesem Zug ein ewiges Patt, wenn nicht gar den Sieg über Kolczyk errungen. Was blieb ihm dann noch anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen? Wenn seine Tochter mich liebte, dann würde er niemals die Kraft haben, sein und ihr Leben mit einer Anzeige zu zerstören, das war sicher. Wenn es mir also gelang, dieses Mädchen zu gewinnen, dann war er vollkommen machtlos, dann konnte ich ihm praktisch auf der Nase herumtanzen.
Fast tat sie mir leid, dass sie auf diese Art zur bloßen Figur in einem teuflischen Spiel werden sollte, das hatte sie bestimmt nicht verdient. Aber was half’s – er oder ich! Und sie hatte ja eine faire Chance, sie brauchte mich nur abzulehnen. Schließlich wollte ich sie nicht entführen oder vergewaltigen.
Inzwischen rollten wir schon die breite Straße Unter den Eichen entlang und näherten uns dem Botanischen Garten. Ich hielt mich dicht hinter ihr, was aber bei dem immer noch lebhaften Verkehr nicht auffiel. Ab und zu suchte ich Deckung hinter den gelben Bussen der Linie 48 oder hinter Lastzügen, die vom Zehlendorfer Kleeblatt kamen und in die Innenstadt wollten. Mein weiteres Vorgehen hatte ich schon in allen Einzelheiten festgelegt.
Kurz hinter dem hellen Schlosspark-Theater war es dann so weit. Ich überholte ihren Wagen, schnitt sie etwas, fuhr ein Stückchen vor ihr her, wartete ein paar Sekunden, schaltete in den zweiten Gang hinunter und bremste urplötzlich. Und es gelang! Mein Oberkörper lag noch auf dem Lenkrad, als es hinter mir schepperte. Ein kleiner Stoß warf mich nach hinten in das Polster.
Wir lenkten die Wagen an den Straßenrand und stiegen aus, um uns den Schaden zu besehen. Ein zauberhaftes Mädchen! Dunkle Haare, dunkle Augen, lange Wimpern, eine schmale Nase, eine hohe Stirn, Lippen mit Perlmuttglanz, niedliche Zähnchen, ein reizend aufreizendes Kinn. Ein süßer Fratz! Am liebsten hätte ich sie auf der Stelle geküsst.
Sie war sehr unglücklich.
„Mein Gott, auch das noch! Mein Vater wird in Ohnmacht fallen, wenn er das sieht!“
„Seien Sie doch froh, wenn er in Ohnmacht fällt, dann kann er wenigstens nicht mehr schimpfen.“
Ein Augenaufschlag, ein prüfender Blick. Sie spielte mit dem Glas ihres zersplitterten Scheinwerfers. „Ich hatte gerade über was nachgedacht ...“
„Ich nicht, aber von diesem Augenblick ab werde ich das bis an mein Lebensende tun ...“ Ich warf meinen ganzen Charme in die Waagschale. „Die Schuld trifft mich wahrscheinlich – ich hätte nicht bremsen dürfen ...“
Sie war verwirrt. „Ja, aber ... Ach, der schöne Wagen!“
C’est le premier pas qui coûte ... Ja, der erste Schritt entscheidet wohl immer, und ich hatte Angst, ihn zu tun. Doch schließlich, als wir schweigend die zerbeulten Stoßstangen gemustert hatten, sagte ich mit gepresster Stimme: „Hundert Meter weiter ist ein Café ... Hier ist es zu kalt ... Vielleicht sollten wir uns da reinsetzen und alles in Ruhe besprechen ...?“
Sie zögerte ein, zwei Sekunden, dann sagte sie kühl und immer noch etwas abwesend: „Das dürfte wohl das Beste sein ...“