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11. Kapitel

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Tagebuchaufzeichnungen von Prof. Dr. Rüdiger Kolczyk.

Anhand aufgefundener Fragmente vom Autor rekonstruiert.

Oft, und besonders in den Nächten, in denen ich nicht schlafen kann, frage ich mit zermürbender Verbissenheit nach den letzten Gründen meines Handelns. Doch eher könnte ich wohl die Schneeflocken zählen, die in der Dunkelheit vor meinem Fenster herabrieseln, als sie alle aufzuspüren.

Mord – welch faszinierendes Wort! Ah, nun gerate ich langsam in die Gesellschaft der Mystiker und Lyriker. Das allerdings ist kein Wunder, denn dies hier schreibe ich um fünf Uhr morgens nieder, und draußen wird es bereits hell. Aber andererseits entwickelt der Geist in diesen frühen Morgenstunden eine fast hellseherische Klarheit ...

Der Tag, an dem ich beschloss, Bernd Ziegenhals zu töten, begann wie jeder andere. In meinem Innern war schon alles vorbereitet, es fehlten nur noch die Auslöser. Ich weiß noch das Datum, es war Dienstag, der 12. März.

Es war sieben Uhr, als mich der Wecker aus meinen letzten, recht plastischen Träumen riss. Wie so oft in letzter Zeit hatte Beate Blau, meine bislang nur leidenschaftlich geküsste und umarmte Sekretärin, darin eine Rolle gespielt.

„Einen recht schönen guten Morgen!“, rief Reinhild, die schon Sekunden nach Verklingen des Weckers von ärgerlicher Munterkeit war.

„Morgen ...“, brummte ich.

„Du, Rüdiger, ich hätte heute Lust, mal wieder ins Kino zu gehen ...“

„Kannst du ja machen!“

„Ich dachte, wir gehen zusammen und essen hinterher irgendwo am Kurfürstendamm.“

„Tut mir leid, ich muss heute Abend arbeiten!“, erwiderte ich ziemlich schroff, obwohl ich an sich gern ins Kino ging und jetzt, während der Semesterferien, auch nicht viel zu tun hatte. Wusste ich in diesem Augenblick schon, dass der Tag X gekommen war?

„Schade ...“ Reinhild stand auf und streifte ihr zerknittertes Nachtgewand ab. „Es hätte mich auch sehr gewundert. Du bist in letzter Zeit so anders ...“

Ich schloss die Augen, um dem Anblick ihrer Brüste zu entgehen. „So ...?“

„Ja. Du trinkst zu viel, du fantasierst jede Nacht, du siehst schlecht aus, du hast immer deinen Durchfall ...“

„Hast du sonst noch was an mir auszusetzen?“ Ich warf meine Decke zur Seite, griff mir meinen blauen Bademantel und lief aus dem Schlafzimmer.

Draußen auf dem Korridor stand Ginny, in ein fusseliges Ding gehüllt, und telefonierte mit Ziegenhals. Dass er ihr frühmorgendlicher Gesprächspartner war, schloss ich aus ihren leuchtenden Augen und dem etwas zu lauten Lachen.

Ich zog die Badezimmertür hinter mir zu, um nicht neugierig zu wirken und einen der gefürchteten Tobsuchtsanfälle meiner Tochter auszulösen. Aber das, was ich gehört hatte, reichte mir auch so. In hilfloser Wut drehte ich den Wasserhahn auf.

Mit allen mir verfügbaren psychologischen Mitteln hatte ich versucht, ihre Sympathie für Ziegenhals zu unterminieren, doch ich hatte nur das Gegenteil erreicht. Offenbar liebte sie ihn wirklich, und mich quälte jetzt die Frage, ob ... Ich wusste mit ziemlicher Sicherheit, dass sie bereits mit achtzehn Jahren ihr erstes Liebeserlebnis gehabt hatte, was ich ihr ehrlichen Herzens gegönnt hatte. Aber wenn ich mir vorstellte, wie sie und Ziegenhals ... Der Gedanke daran versetzte mich in ohnmächtige Raserei. Das war Folter für mich, das waren Daumenschrauben, Folterleiter, spanischer Bock, Rad und Schwitzkasten zugleich. Das war widernatürlich, das durfte nicht sein.

Ich hänge an meiner Tochter, ich liebe sie, und ich habe ein Recht darauf, sie zu behüten. Ziegenhals ist das Böse, ist das Übel, ist der Teufel, und sie darf ihm nicht verfallen! Ich habe sie nicht nur gezeugt, ich habe ihr auch manchmal das Leben gerettet. Es gibt tausende von Männern, die ich akzeptiere, doch ich werde es nicht dulden, dass sie Frau Ziegenhals wird. Das darf einfach nicht geschehen!

Ich müsste Seiten und Seiten füllen, um darzustellen, was Ginny mir bedeutet. Ich habe sie nicht mehr als zwanzig Jahre geliebt, gelenkt und beschützt, um sie nun einem Erpresser, einem Verbrecher, auszuliefern! Die Wahrheit konnte ich ihr nicht sagen, und mit warnenden, väterlichen Worten konnte ich sie nicht von Ziegenhals trennen – also blieb nur der Mord!

Getötet hatte ich schon einmal. Damals in der Schlacht um Berlin. Ich stand in der ersten Etage eines zerschossenen Mietshauses, zwei russische Soldaten liefen auf den Eingang zu, die Siegesfreude ließ sie unvorsichtig werden. Ganz automatisch zog ich meine letzte Handgranate ab und warf sie hinunter.

Ich muss erst einen Kognak trinken, ehe ich weiterschreiben kann so, jetzt geht es wieder!

Nun zurück zu dem Morgen, an den ich immer zurückdenken muss. Ich hatte gerade gefrühstückt, als das Telefon läutete. Reinhild ging auf die Diele hinaus, nahm den Hörer hoch, lauschte einen Augenblick, verzog das Gesicht und kam ins Zimmer zurück.

„Für dich. Fräulein Blau.“

„Nanu, warum denn das ...?“ Ich stand auf, nicht zu hastig, und machte ein möglichst mürrisches Gesicht.

„Morgen, Rudi!“, flötete sie. „Ich hab Halsschmerzen, ich kann heute nicht ins Büro kommen ...“

„Das tut mir leid“, sagte ich mit der unpersönlichen Stimme eines Nachrichtensprechers. „Aber was wird dann mit meinem Manuskript für den RIAS, das soll doch heute Mittag da sein ...?“

„Hab ich noch gestern Abend getippt, es liegt hier bei mir auf dem Nachttisch ...“

„Ah, gut. Ich lasse es dann abholen. Also gute Besserung, Fräulein Blau.“

Eine knappe halbe Stunde später hielt ich vor einem Neubau in der Lietzenburger Straße, wo Beatchen ein Zwei-Zimmer-Appartement bewohnte. Ich sah deutlich, wie sich oben die Gardine bewegte, sie wartete also schon auf mich. Doch ich zögerte, ich wagte einfach nicht, die Wagentür aufzumachen und auszusteigen. Ich wusste genau, was die nächsten Minuten bringen würden, zu lange hatten wir es hinausgezögert, zu viel Triebenergie hatte sich schon aufgestaut. Und mit einer nie gekannten Erregung hatte ich mir beim Fortgehen zwei Präservative in die Tasche gesteckt.

Endlich, es mochte inzwischen zehn Uhr geworden sein, stieg ich aus und fuhr mit dem Fahrstuhl hinauf. Beatchen empfing mich in einem karminroten Morgenmantel und Stiefeln. Sie wusste genau, wie sehr mich das erregte.

Doch als ich sie dann in den Armen hielt und sie mit erfahrenen Händen an meinem Körper herunterstrich, verflog meine Erregung plötzlich, und ich konnte wieder klar denken.

Ich durfte es nicht riskieren, mir eine zweite Front zu schaffen; Ziegenhals beanspruchte meine ganze Kraft. Ich wusste, dass Beatchen es darauf abgesehen hatte, mich zu heiraten, wobei ihr sicher jedes Mittel recht war. Bestimmt hatte sie diesen Tag mit Vorbedacht und unter Berücksichtigung ihres Thermometers gewählt, um ein Kind zu konzipieren. Dann hatte sie etwas, womit sie Druck auf mich ausüben konnte. Dass es mit meiner Ehe nicht zum Besten stand, wusste sie sowieso – andererseits unterschätzte sie aber die Macht der Gewohnheit, die aus einer so langjährigen Bindung entsteht. Nein, einen Skandal konnte ich mir jetzt nicht leisten – dann hatte Ziegenhals endgültig gesiegt.

Diese Gedanken schossen mir durch den Kopf, als es fast schon zu spät war. Wie ich es fertig brachte, mich zu beherrschen, das ist mir heute noch ein Rätsel, aber ich machte mich von ihr los. Leicht ist es mir nicht gefallen, das gestehe ich ein, denn ihre kalte Berechnung beeinträchtigte meine Begierde nicht im Geringsten.

„Komm doch! Was ist denn? Worauf warten wir noch!“, keuchte sie.

„Ich ... ich ...“

„Was hast du denn?“ Sie begriff, dass etwas schiefgegangen war. „Du kannst wohl nicht, was? Ist ja zum Totlachen – der smarte Herr Doktor ist ein Schlappschwanz!“ Sie begann wie wild zu lachen.

„Hör auf, hör doch auf!“ Ich schlug sie, bis sie zur Besinnung kam und Hass in ihren Augen stand.

„Ich kündige, ich will dich nicht mehr sehen, mach, dass du rauskommst, aber schnell!“

Ich riss mein Manuskript vom Nachttisch, ordnete meine Kleidung und stürzte auf den Treppenflur hinaus. Ich schämte mich, und ich hätte mich ohrfeigen können. Ich war ein Narr, ich war ein Dummkopf! Aber die eigentliche Schuld an diesem Rückzug gab ich diesem verdammten Ziegenhals. Wäre er nicht gewesen, dann hätte ich freie Hand gehabt, dann ...

Ich stöhnte noch jetzt.

Meine Erregung klang derart langsam ab, dass ich an der Ecke Lietzenburger und Joachimstaler Straße nur um Haaresbreite einem Zusammenstoß mit einem Doppeldeckerbus der Linie 81 entging. Mir blieb nichts weiter übrig, als den Wagen in der Rankestraße abzustellen und mit einer Taxe zum RIAS zu fahren. Dort war man höchst erleichtert, dass das Manuskript noch rechtzeitig eingetroffen war, und bat mich, es gleich an Ort und Stelle auf Band zu sprechen. Doch nach fünf vergeblichen Anläufen erschien es den Herren dann sinnvoller, einen eigenen Sprecher einzusetzen, denn ich verhaspelte mich bei jedem Satz.

Nun erst recht verwirrt, lief ich durch den Volkspark und ging zu Fuß die Bundesallee hinunter. Wagen zogen an mir vorüber, Gesichter tauchten auf und verschwanden wieder, und wenn ich die Augen schloss, sah ich Ziegenhals vor mir. Ich war sein Gefangener, und er konnte mich nach Belieben foltern. Und da er mein eigenes Ich zu seinem Folterinstrument gemacht hatte, konnte ihn nichts an seinen Taten hindern. Es sei denn, ich hätte mich von Grund auf geändert und hätte auf Ruhm und Ehre und Ämter verzichtet. Aber das war unmöglich, ich war nun einmal so programmiert und konnte nicht anders. Also blieb mir nur die Möglichkeit, ihn auszuschalten, ihn zu vernichten, in ihm nur die Mücke zu sehen, die zu zerquetschen keine Sünde ist. Vielleicht war es schon Größenwahn, wenn ich mir sagte, dass ein elender Wicht wie dieser Ziegenhals nie und nimmer das Recht hatte, einen Mann wie mich auch nur eine Sekunde lang aufzuhalten. Hatte ich doch erst vor wenigen Tagen einen Ruf an eine westdeutsche Universität erhalten und damit mein lang ersehntes Nahziel erreicht, Ordinarius für Soziologie zu werden. Prof. Dr. Rüdiger Kolczyk – das hatte einen faszinierenden Klang. Im Freundeskreis war ich schon gebührend gefeiert worden. Bei der zunehmenden Verwissenschaftlichung politischer Entscheidungen und dem Hang in diesem Lande, eigene Argumente mit professoralen Worten aufzuwerten, sah ich berechtigte Chancen, einmal zum Staatssekretär – wenn nicht gar zum Minister – zu avancieren.

Von diesen und ähnlichen Gedanken berauscht und erschüttert, erreichte ich meinen Wagen und stieg ein, um zum Essen nach Hause zu fahren.

Ich rollte den Kurfürstendamm hinunter. Niemand schenkte mir besondere Aufmerksamkeit, niemand ahnte, was mich bewegte, nichts hob mich von tausend anderen Bürgern ab.

Eine Stelle aus Wilhelm Tell fiel mir plötzlich ein. Sie alle ziehen ihres Weges fort an ihr Geschäft – und meines ist der Mord!

Reinhild, die Hausmannskost liebte, trug Erbsen mit Speck auf und schwärmte, als wir uns zum Essen niedergelassen hatten, pausenlos von Ziegenhals.

„... ein netter und wohlerzogener junger Mann. Du, ich hab so das Gefühl, dass Ginny und er ...“

Ich bekam einen Hustenanfall. „Unsere Tochter darf ja wohl etwas höhere Ansprüche stellen. Der junge Mann ist nichts und hat nichts ...“

„Willst du dich einer jungen Liebe entgegenstellen?“

Ihr sentimentales Lächeln brachte mich in Wut. „Bitte, verschone mich mit derartigen Gemeinplätzen.“

Reinhild war vernarrt in Ziegenhals, denn er umschmeichelte sie in einer geradezu unverschämten Weise. Er brachte ihr Rosen und Pralinen, küsste ihr die Hand, lauschte aufmerksam ihren langweiligen Geschichten, litt mit ihr, wenn sie von ihren diversen Krankheiten berichtete, und erweckte beinahe den Eindruck, als schwanke er ernsthaft, wem – Mutter oder Tochter – er den Vorzug geben sollte.

„Schön, er war ein bisschen verkommen, als Ginny ihn kennengelernt hat“, gab Reinhild zu, während sie mit ihren kräftigen Zähnen eine Speckschwarte zermalmte, „aber er hat sich in letzter Zeit mächtig am Riemen gerissen. Mr. Cloward hat mir neulich erzählt, er sei einer deiner besten Studenten ...“

So ging es ohne Unterlass.

Nach dem unerquicklichen Mahl verschwand ich in meinem Arbeitszimmer und schloss das Geheimfach meines alten Schreibtischs auf. Hier waren die Manuskripte versteckt, die ich aus Ziegenhals’ alter Wohnung mitgebracht hatte. Sie waren alle mit der Hand geschrieben, denn offensichtlich hatte er nie das Geld für eine Schreibmaschine zusammenbekommen. Ziegenhals hatte etliche Romane, Schauspiele und Kurzgeschichten verfasst, aber meine besondere Aufmerksamkeit galt einem kümmerlichen Roman, der den schönen Titel ‚Das Ende eines Löwen> trug. Es war die Geschichte eines Fußballstars, der durch einen Tritt in den Unterleib seine Potenz verloren hatte und nun dahinvegetierte. Der Unglückliche hörte auf den Namen Bernd Zühlke und war schließlich soweit mit den Nerven runter, dass ihm nur noch der Selbstmord blieb. Doch bevor er die Gashähne aufdrehte, setzte er sich noch an den Küchentisch und verfasste einen Abschiedsbrief, der in etwa so lautet:

Ich bin am Ende, ich kann nicht mehr weiter. Kein Mensch versteht mich, keiner will wissen, wie es in mir aussieht. Das Leben ist so sinnlos, es gibt keine Zukunft mehr für mich. Ich verfluche die Welt, die mir meine Eltern genommen hat, die kein Mitleid kennt. Mich braucht ja doch keiner! Niemand wird mich vermissen. Ich hoffe nur, dass bald eine gewaltige Atombombe diese mistige Welt auseinander sprengt und alle zum Teufel gehen. Dann sehen wir uns wieder!

Bernd Z.

Das war sicherlich kein Meisterwerk von Abschiedsbrief, aber einmal hatte Ziegenhals diesen Bernd Zühlke als ziemlichen Einfaltspinsel und halben Analphabeten geschildert und zum andern war Ziegenhals selbst nur ein mäßiger Schriftsteller. Aber für mich war dieser Brief von unschätzbarem Wert, denn Ziegenhals hatte ihn mit der Hand auf einem gesonderten DIN-A4-Bogen geschrieben, und die Angaben waren so allgemein gehalten, dass sie durchaus auf Ziegenhals selbst passten.

Dieser Brief forderte mich geradezu auf, ihn für meine Pläne zu verwenden. Wenn ich mich nun in Ziegenhals’ Wohnung schlich, diesen Abschiedsbrief auf den Tisch legte und dann die Gashähne aufdrehte, so hatte ich den perfekten Mord begangen.

Wer wusste schon, dass Ziegenhals ihn in einer ganz anderen Absicht geschrieben hatte? Niemand, zumal Cloward bestimmt aussagen würde, dass Ziegenhals sich in einem nervlich zerrütteten Zustand befunden habe.

Ein genialer Gedanke! Und seine Verwirklichung ein Kinderspiel!

Aber wahrscheinlich hätte ich auch diesen Märztag ungenutzt verstreichen lassen, wenn ich nicht am Nachmittag mit Johnny Cloward zusammengetroffen wäre. Ich wollte gerade die Tür zur Bibliothek aufstoßen, wo ich Material für meine Vorlesungen im Sommersemester zusammentragen musste, als der Amerikaner um die Ecke bog. Er trug einen kleinen schwarzen Koffer in der Hand und strahlte übers ganze Gesicht.

„Du, ich fliege heute Abend nach Hamburg. Ich hab da neulich ein Mädchen kennengelernt, Mannequin, mit eigener Wohnung – die hat mich übers Wochenende eingeladen!“

„Na, dann viel Vergnügen!“

„Ach so, ja, ich hab dir ja noch gar nicht zu deinem Lehrstuhl gratuliert. Freut mich mächtig für dich. Herr Professor Dr. Rüdiger Kolczyk, nicht schlecht! Und in Bochum lässt sich’s bestimmt auch leben.“ Er schüttelte mir die Hand. „Meinen herzlichen Glückwunsch! Wann zieht ihr denn um?“

„Erst Ende des Jahres ... Dann beginnt auch bald der Wahlkampf. Du weißt ja, dass sie mir einen ziemlich sicheren Wahlkreis in der Nähe von Dortmund gegeben haben – pass auf, im nächsten Jahr sitze ich im Bundestag und mache Schlagzeilen.“

„Davon bin ich überzeugt, du wirst es schon schaffen! Wie wär’s denn, wenn wir deinen unaufhaltsamen Aufstieg mit einer Flasche Sekt begießen, ein paar Minuten Zeit hab ich schon noch ...?“

„Okay!“

Wir fuhren zu einem alten Restaurant am U-Bahnhof Dahlem und ließen uns eine Flasche Champagner bringen. Cloward wurde von Sekunde zu Sekunde fröhlicher und erzählte pausenlos von Muttchen Braatz und Ziegenhals.

„... Muttchen Braatz ist gestern zu ihrer jüngsten Tochter nach München geflogen ... Na, und ich hin auch nicht zu Hause, da hat ja Ziegenhals wieder ’ne sturmfreie Bude. Entschuldige, wenn ich deine Gefühle verletze, aber deine Tochter ... Ich krieg’s ja immer aus nächster Nähe mit, die Wände sind nicht besonders dick. Und ich Idiot hab Ginny für ein Kind gehalten! Na, vielleicht krachen sich die beiden mal, oder er landet in ’ner Klapsmühle. Wundern tät’s mich nicht.“

Heute oder nie, dachte ich, als ich mein Glas leerte; eine ähnlich günstige Konstellation war in den nächsten Monaten sicher nicht mehr zu erwarten. Mit Muttchen Braatz und Cloward außer Haus gefährdete ich auch keinen anderen. Und dass Ginny – wie Cloward annahm – den Abend mit Ziegenhals verbringen würde, damit war nicht zu rechnen, denn erst einmal arbeitete sie recht verbissen an einem Referat über das latente Lernen, und zum anderen hatte sie, wie ich aus einer angebrochenen o.b. Packung im Badezimmer schließen konnte, gerade ihre Tage.

Als wir gegen siebzehn Uhr das Lokal verließen, wusste ich, dass ich es an diesem Abend tun würde.

Es kam sogar noch günstiger. Beim Abendessen stellte sich heraus, dass Ginny und Ziegenhals sich ernsthaft gezankt hatten. Meine Tochter machte ein finsteres Gesicht und zog sich gleich nach der Tagesschau in ihr Zimmer zurück. Damit gab es nun ein weiteres Motiv für Ziegenhals’ Selbstmord, nämlich Liebeskummer.

Ich war nicht im Mindesten nervös, ich maß dem Ganzen weniger Bedeutung bei als der Extraktion eines Backenzahnes. Der Knopfdruck war erfolgt, und nun lief alles nach einem genau kalkulierten Programm ab, ich hatte nur noch einer Reihe von Sachzwängen zu gehorchen. Ziegenhals war kein Mensch mehr für mich, sondern ein Objekt, das es zu zerstören galt.

Nach einem Film im Zweiten Programm, an dessen Inhalt ich mich nicht mehr erinnern kann, verabschiedete ich mich mit einem flüchtigen Kuss von meiner Frau.

„Ich habe noch zu arbeiten, sei nicht böse ...“

Das war nichts Ungewöhnliches, denn ich galt als Nachtarbeiter. Ich ging in mein Arbeitszimmer hinüber, schloss mich ein und knipste die Lampe über dem Schreibtisch an. Ein ausländischer Sender brachte Jazz, ich drehte den Radioapparat ein wenig auf. Ich hörte noch, wie Reinhild zum Schlafzimmer hinaufstieg und etwas zu Ginny sagte, aber keine Antwort erhielt; dann war es still. Ich holte mir einen Kriminalroman hervor. Ich musste eine Stunde totschlagen, und an Arbeiten war natürlich nicht zu denken.

Gegen dreiundzwanzig Uhr nahm ich mir dann meinen dunkelblauen Regenmantel aus dem Schrank und stieg vorsichtig aus dem Fenster. Sekunden später stand ich auf der Eppinger Straße und war sicher, dass mich niemand bemerkt hatte. Ich fasste noch kurz in meine Jacketttasche und vergewisserte mich, dass der Abschiedsbrief auch in seinem Umschlag steckte, dann ging ich zur Thielallee hinüber. Nach etwa vier, fünf Minuten winkte ich eine leere Taxe heran. Sicherheitshalber sprach ich mit stark amerikanischem Akzent und nannte als Fahrtziel den Breitenbachplatz, der zehn Minuten vom Tatort entfernt liegt.

Ohne Vorkommnisse erreichte ich gegen 23 Uhr 30 die Grunewaldstraße und sah das Braatz'sche Haus im matten Schimmer zweier Laternen auf der anderen Straßenseite liegen. Nirgends brannte mehr Licht; auch kein Fenster stand auf, wohl wegen der nebligen Luft. Soweit ich sehen konnte, war die Straße menschenleer, und aus den wenigen vorüberfahrenden Wagen mit ihren gelben Scheinwerfern würde bestimmt niemand auf mich achten. Diese Umstände, die mein Vorhaben außerordentlich begünstigten, gaben mir eine Sicherheit, die mir heute unfassbar erscheint.

Ich überquerte schnell die Straße, schloss mit dem zurückbehaltenen Zweitschlüssel erst die Gartenpforte und dann die Haustür auf. Wenige Atemzüge später stand ich in der geräumigen Diele. Im Schein meiner Taschenlampe erkannte ich die ausgestopften Bussarde und Habichte wieder, die ich von meinem ersten und einzigen Besuch im Haus noch im Gedächtnis hatte. Irgendwo tickte eine Standuhr, sonst konnte ich keinen Laut vernehmen.

Behutsam stieg ich die Treppe hinauf, und für einen Augenblick überfiel mich der Gedanke, Oberkommissar Rannow könnte dort oben sitzen und mein Tun verfolgen. Schließlich war Miezis Mörder noch immer nicht gefunden und ich noch nicht von der Liste der Tatverdächtigen gestrichen. Doch dann hatte ich mich wieder in der Hand.

Nach etwa zwei Minuten hatte ich die obere Etage erreicht. Die Tür rechter Hand musste in Clowards Zimmer führen, geradeaus lagen Bad und Küche. Von Clowards Beschreibungen her wusste ich, dass von der Küche eine so genannte Durchreiche in das Zimmer hinüberging, in dem Ziegenhals schlief.

Schon hatte ich die Küchentür aufgeklinkt und war in den schmalen Raum getreten, in dem es nach verschüttetem Bier und nach Curry roch. Links neben dem Fenster stand der Gasherd.

Die Durchreiche war geöffnet, und ich hörte, wie Ziegenhals schnarchte. Vorsichtig ließ ich den Strahl meiner Taschenlampe ins Nebenzimmer fallen. Ziegenhals lag halb zusammengerollt auf einer niedrigen Liege; auf dem Couchtisch davor stand eine leere Weinflasche, offenbar ein roter Wermut. Neben der Flasche konnte ich einen übervollen Aschenbecher und ein blau-weißes Röhrchen erkennen, das allem Anschein nach Schlaftabletten enthielt.

Ich handelte jetzt völlig unreflektiert. Ein Satz aus Iphigenie schoss mir durch den Kopf: Man tadelt den, der seine Taten wägt. Wenn dem so war, gab es nichts mehr an mir zu tadeln. Ich zog den Abschiedsbrief heraus, den ich nie anders als mit Handschuhen angefasst hatte, und legte ihn auf den Küchentisch.

In diesem Augenblick hustete Ziegenhals und murmelte etwas, das wie „Hilfe!“ klang. Mein Herz setzte beinahe aus. Wenn er jetzt aufwachte und mich erkannte! Er konnte die Polizei rufen, er konnte mich erschießen, er konnte ... Aber er schlief weiter, er schnarchte sogar schon wieder.

Jetzt hatte ich es eilig. Schon hatte ich den Bratofen geöffnet und die vier Hähne oben aufgedreht. Zischend strömte das Gas raus ...

Mörder kennen keine Grenzen

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