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14. Kapitel

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Tagebuchaufzeichnungen von Prof. Dr. Rüdiger Kolczyk.

Anhand aufgefundener Fragmente vom Autor rekonstruiert.

Es war ein bitterer Frühling für mich, denn während ich die Tage grübelnd und die Nächte schlaflos verbrachte, genoss Ziegenhals die Stunden, die er mir verdankte, in Bars und Betten. Manche Konstellationen gibt es im Leben eines Menschen nur einmal – und ich hatte meine Sternstunde ungenutzt verstreichen lassen. Was sollte er nun befürchten, wo sich meine Schwächen so eklatant gezeigt hatten? Meine Feigheit war eine immer währende Garantie für seinen Wohlstand und sein Glück. Der Letzte der Kolczyks war nur noch eine lächerliche Karikatur seiner ruhmreichen Väter, er hatte zu viel Ehrfurcht vor dem Leben internalisiert, er hatte nicht töten können.

Diese Erkenntnis meiner fortgeschrittenen sittlichen Reife erfreute mich nicht im Mindesten, im Gegenteil, ich empfand den Sieg über mich selbst als Schande. Möglicherweise wäre es anders gewesen, wenn ich Freunde gehabt hätte und ihre Bewunderung. Aber innere Größe wird wohl immer dann zum Fluch, wenn sie von der Umwelt unbestätigt bleibt. Möglicherweise wäre alles anders gekommen, wenn Ziegenhals in diesem Mai mit mir gesprochen hätte, offen und unter vier Augen, denn in dieser Zeit war ich durchaus zur Aussöhnung bereit. Vielleicht wartete ich nur auf diesen Augenblick. Ich wollte keine Unterwerfung, nein, ich brauchte ihn nur als Spiegel, um mich selbst zu erkennen und mit mir zufrieden zu sein. Doch er kam nicht, und wenn wir uns sahen, dann wuchsen stets gläserne Wände zwischen uns auf.

Vielleicht ist es mir nie ganz gelungen, zu den tiefsten Schichten meines Wesens vorzudringen, aber so ratlos wie nach dem gescheiterten Mordversuch war ich nie zuvor gewesen. Warum nur war ich, kurz nachdem ich die Gashähne in der kleinen Küche geöffnet hatte, zur nächsten Telefonzelle gehetzt, um Ziegenhals zu wecken und zu retten? Gegen meinen Willen hatte ich das getan, gegen meinen Verstand. Was hatte mich dazu getrieben, das war und ist für mich die Frage. Angst vor der Entdeckung, Angst vor dem Gerichtsurteil und lebenslangem Zuchthaus – sie konnten es nicht gewesen sein, denn an jenem Tag war ich hundertprozentig überzeugt gewesen, den perfekten Mord begehen zu können. Auch an die Wirksamkeit christlicher Maximen wollte ich nicht so recht glauben, hatte ich doch seit etwa dreißig Jahren keine Kirche mehr betreten. Was natürlich nicht ausschloss, dass Werte, die man mir als Kind vermittelt hatte, noch immer wirksam waren. Dann durften es also verschwommene moralphilosophische Faktoren gewesen sein, die mein Handeln bestimmt hatten, und Ziegenhals konnte sich bei der Gesellschaft schlechthin bedanken, dass sie dem Bürger Kolczyk den Sinn fürs Gute vermittelt hatte. Aber er bedankte sich ja nicht bei ihr, im Gegenteil, er warf den eifrigsten Verfechtern bürgerlicher Sittlichkeit die Scheiben ein und beschimpfte sie. Aber Ironie beiseite, vielleicht liebte ich Ziegenhals insgeheim, vielleicht hatte ich mir immer einen Sohn gewünscht, der so skrupellos wie er ein hoch gestecktes Ziel verfolgen konnte, vielleicht gewann mein Leben erst durch ihn den letzten Sinn.

Doch das ist Spekulation, nichts als Spekulation. Die Wirklichkeit sah anders aus, und ich hatte mich mit seiner Existenz und der lebenslangen Erpressung ebenso abzufinden wie ein Soldat – dem man einen Arm amputiert hatte – mit seinem Schicksal. Vielleicht gelang es mir, meine Aggressionen an einem Ersatzobjekt abzureagieren, möglicherweise an Reinhild, die ihn ja vergötterte, und den Rest der aufgestauten Energie zu sublimieren, indem ich neue Bücher schrieb.

Höchstwahrscheinlich hätte ich mich zu diesem Zeitpunkt mit meiner Machtlosigkeit abgefunden, wenn ich nicht eines Nachmittags durch eine kurze Bemerkung von Seiten Reinhilds wieder wachgerüttelt worden wäre.

„Du, heute Morgen hat jemand angerufen und nach der Adresse von Bernd ... von Ziegenhals gefragt ...“

„Und ...?“ Ich las gerade im neuen Spiegel und ließ mich nicht weiter stören. „Hast du ihm gesagt, wo er wohnt?“

„Ja – aber der Kerl hatte so eine unangenehme Stimme. Wie ein Ganove aus dem Film.“ Sie schüttelte sich.

Ich zuckte zusammen, verbarg aber mein Erschrecken und entgegnete ironisch: „Woher sollte ein so guter Mensch wie Ziegenhals einen Ganoven kennen ...?“

„Fängst du schon wieder an!“ Sie lief auf den Korridor hinaus und warf die Tür hinter sich zu.

Aber ihre Bemerkung hatte mich mehr erregt, als ich mir selber eingestehen wollte. Prompt krampften sich meine Gedärme zusammen, und ich musste auf die Toilette eilen. Schwindel packte mich, und ein, zwei Minuten lang lehnte ich kraftlos an den lindgrünen Kacheln. Dann ging es wieder.

Man war also an einer Kontaktaufnahme mit Ziegenhals interessiert, und die Tatsache, dass man seine Adresse noch nicht gekannt hatte, ließ auf einen alten Bekannten aus seiner Zeit in der Naunynstraße schließen. Opa Melzer war überfahren und schwer verletzt worden, das hatte ich in der Zeitung gelesen, und es lag nun auf der Hand, dass der alte Mann einige seiner Geheimnisse preisgab und dem guten Rannow weiterhalf. Dass Ziegenhals der Mörder des Mädchens war, mochte ich nicht so recht glauben, viel wahrscheinlicher schien mir, dass er den wirklichen Täter kannte. Für mich war es ziemlich sicher, dass der Mörder aus der Gegend um die Heiße Ecke stammte.

Meine Lust zum Widerstand und zum Kämpfen flammte augenblicklich wieder auf, und ich suchte nach einer neuen Strategie, mit der sich vielleicht gewisse begrenzte Ziele erreichen ließen. Wohl konnte ich Ziegenhals kaum mehr daran hindern, mich bis ans Ende meiner oder seiner Tage zu erpressen, möglicherweise aber konnte ich meine Tochter noch vor einer Ehe mit ihm bewahren. Irgendwie musste es doch möglich sein, ihm einen Strick zu drehen und ein paar Jahre Tegel zu verschaffen! In diesem Fall war ich sicher, dass Ginny sich von ihm lossagen würde. Wenn er erst einmal einsaß, dann arbeitete die Zeit für mich: Sie wurde älter, lernte andere Männer kennen und ersparte mir vielleicht das Schicksal, sein Schwiegervater zu werden. Es musste doch gelingen, ihm einige kriminelle Taten nachzuweisen oder gar als Mitwisser in den Mordfall Miezi zu verwickeln!

Nervös lief ich im Zimmer umher und entwickelte meine Pläne. Wenn ich ihn schon nicht mit den Händen zur Strecke bringen konnte, dann wenigstens mit dem Kopf! Es musste sich doch eine Falle konstruieren lassen, deren Mechanismus er nicht durchschauen, deren Köder er nicht erkennen konnte!

Ich war sicher, dass ich es schaffen würde, nur musste ich erst einmal selber wissen, wer Miezis Mörder war. Und da ich schon einen Ansatzpunkt hatte, machte ich mich noch am späten Nachmittag auf den Weg. Wie heißt es doch bei Geibel: Und viel vermag, wer überraschend wagt!

Doch ich erreichte mein erstes Ziel, die Heiße Ecke, nicht so schnell, wie ich erhofft hatte; in unmittelbarer Nähe meiner Villa lief mir Johnny Cloward über den Weg. Er hatte einen großen Koffer bei sich und machte einen ziemlich ramponierten Eindruck. Sein rechtes Auge hatte sich nahezu geschlossen, eine tiefblaue Beule, in Berlin „Veilchen“ genannt, zierte sein klassisches Gesicht.

„Hallo, Johnny, wo kommst du denn her?“

„Frag mich lieber, wo ich hin will“, stöhnte Cloward. „Ich weiß es nämlich selber nicht – vielleicht fällt’s mir dann ein.“

„Was denn, ist ein empörter Vater hinter dir her?“, lachte ich.

„Nein, so schlimm ist’s nun auch wieder nicht.“ Er setzte den Koffer ab und lehnte sich gegen den Zaun. „Ich hatte nur eine kleine Auseinandersetzung mit deinem Freund und Schüler Bernd Ziegenhals ...“

„Wieso denn das?“ Ich wurde sofort hellhörig.

„Weiß der Kuckuck, warum. Er muss plötzlich ’nen Koller gekriegt haben. Ich hab bloß in seinem Zimmer nach ’ner Schachtel Zigaretten gesucht, da kommt er reingeschossen und fällt über mich her. Ein brutaler Kerl!“ Er tastete seinen Nacken ab. „Ich war bald zehn Minuten lang im Jenseits ...“

„Willst du ihn anzeigen ...“ Es war mehr eine Aufforderung als eine Frage.

„Das hat keinen Sinn, es war ja kein Zeuge dabei. Aber eins sag ich dir „, Cloward ballte die Fäuste, „dem werde ich’s heimzahlen! Das kriegt er doppelt und dreifach zurück.“

„Nimm di nix vör, dann sleit di nix fehl“, spottete ich, einmal aus Schadenfreude, denn der „schöne Johnny“ hatte eine solche Lektion schon längst einmal verdient gehabt, zum andern aber, um ihn anzustacheln. Sollte es wirklich einmal zu einer Gerichtsverhandlung kommen, dann war es von großem Nutzen für mich, wenn Johnny Cloward, Neffe eines US-Senators, Ziegenhals als brutalen Schläger hinstellte, als einen Menschen, der vor nichts zurückschreckte. Ich war ziemlich sicher, dass Ziegenhals, wenn man ihn wegen kleinerer Straftaten verurteilte, bis zu vier Jahren Gefängnis hinnehmen würde, ohne mich in Gefahr zu bringen. Und vielleicht war Clowards Aussage dann das Zünglein an der Waage.

„Ich bin ausgezogen“, sagte Cloward. „Mit so einem Kerl kann ich nicht länger unter einem Dach wohnen.“

Das war mir nun gar nicht recht, denn damit verlor ich meinen besten Informanten. Trotzdem bot ich ihm unser Gästezimmer an. „Für ein, zwei Monate wird’s schon gehen.“

„Heißen Dank!“, rief Cloward. „Ich werde dich von heute an in mein Nachtgebet einschließen!“

„Aber eine Bedingung habe ich ...“

Sein Gesicht verfinsterte sich. „Und die wäre ...?“

„Du lässt Ginny zufrieden! Ich will nicht auch noch Ärger mit Ziegenhals bekommen.“

„Nein, nein!“, brummte er, aber ich sah, wie es in ihm arbeitete.

Ich grinste innerlich, denn damit hatte ich ihm einen Weg gewiesen, wie er sich auf höchst angenehme Art an Ziegenhals rächen konnte. Wenn es ihm gelang, Ginny von Ziegenhals zu trennen und sie zu seiner Frau zu machen, dann war ich bereit, ihm ein Denkmal zu setzen. Mochte auch mein eigenes Leben verpfuscht sein, so sollte meine Tochter nicht das ihre durch meine Schuld an der Seite eines schmutzigen Erpressers verbringen müssen.

Wir gingen ins Haus hinüber, und ich wies Johnny sein Quartier zu. Anschließend plauderten wir noch ein Weilchen, sodass es achtzehn Uhr wurde, ehe ich zur Heißen Ecke aufbrechen konnte. Johnny fragte mich zum Glück nicht weiter, wo ich hin wollte, sondern machte sich auf den Weg zu Dr. Sievers, um seine diversen Wunden versorgen zu lassen.

Während der halbstündigen Fahrt hatte ich Zeit genug, mir ein Leben ohne das ständig drohend über mir hängende Damoklesschwert auszumalen: Ruhe, Frieden und Gesundheit für mich, Liebesspiele mit Beate, endlich wieder ein freies Lachen und für Ginny einen Mann, wie sie ihn verdiente – ordentlich und ehrbar.

Beate! Beate hatte gekündigt, und ich hatte ihr zum Geburtstag 22 dunkelrote Rosen geschickt, ohne Absender, aber doch als von mir kommend erkennbar. Ich wusste, dass sie mir so lange nicht verzeihen würde, wie ich in ihrem Tagebuch noch ohne roten Haken war, doch ich wollte mir die Chance zu einer Nacht mit ihr auf alle Fälle offen halten. Einmal musste der Tag kommen, an dem es keinen Ziegenhals mehr gab! Und wenn ich noch so viel Schuld auf mich lud, er musste verschwinden! Wie sollte ich denn in Bonn jemals Karriere machen, wie konnte ich eine echte Karriere anstreben, wenn ich immerfort diesen Ballast mitzuschleppen hatte und Tag für Tag befürchten musste, am nächsten Morgen meine Geheimnisse in irgendwelchen Boulevardblättern lesen zu müssen? Viel schwerer als das Plagiat wogen jetzt die Mordversuche, die ich mittelbar und unmittelbar an ihm unternommen hatte und noch unternehmen wollte. Im Versuch, ihn zu vernichten, hatte ich ihm lediglich weitere Trümpfe zugespielt. Wahrhaftig, es war höchste Zeit, ihn trotz all seiner augenblicklichen Vorteile mit einem genialen Zug schachmatt zu setzen!

Ich war am Ziel, früher als erwartet, suchte mir in der Nähe der Naunynstraße einen Parkplatz und verließ nach kurzem Zögern meinen Wagen. Etwas geblendet von der untergehenden Sonne überquerte ich die Fahrbahn, wich ein paar spielenden Kindern aus und nahm dann den dumpfen Biergeruch der Heißen Ecke wahr. Zu dieser Stunde, und noch dazu am Dienstag, machte sie ihrem Namen wenig Ehre, trotzdem stieg ich leicht beklommen die zwei, drei Stufen zum Schankraum empor. In meinem ganzen Leben hatte ich kaum mehr als ein Dutzend Stunden in Kneipen, Pinten, Stampen, Budiken und Destillen zugebracht. Doch ich hatte insofern Glück, als gleich neben der Tür mein alter „Freund“ Rainer Ruhlsdorf am Spielautomaten hantierte und mich mit einem lauten Hallo begrüßte.

„Na, Meister, was macht denn die Kunst?“, rief ich laut und gönnerhaft. Ich hatte ihn vor etwa anderthalb Jahren im Verlauf unserer Zuhälterstudie kennengelernt und allerhand Wissenswertes von ihm erfahren, wusste ich doch, wie man solche Leute zu nehmen hatte.

Ruhlsdorf streckte mir auch gleich die Pranke entgegen. „Die Kunst ...? Die jeht Wassa saufen. Welcha Wind hat Sie denn hierher jeweht?“

„Mich ...? Ich hatte in einer Bank am Cottbuser Tor zu tun ... Da dachte ich, mal sehen, ob einer von meinen alten Freunden Durst hat.“

„Den ham wa imma! Aba im Augenblick is keena weita da – Drognitz schwirrt irjendwo in Wannsee rum, Ziejenhals is ja umjezogen, und Prötzel is vaschütt jejangen. Woll’n se wieda ’ne neue Untasuchung machen?“

„Nein, nein, ich bin ganz privat hier. Trinken wir was, ein Pils und einen Klaren, einen Doppelten natürlich ...?“

„Da lass ick mir nich lange bitten.“

Wir nahmen am Ende des lang gestreckten Raumes Platz, wo in einem gläsernen Schrank die Pokale und Wimpel der hier tagenden Fußballvereine zu bewundern waren, und warteten, bis uns Theo, der vierschrötige Wirt, das Gewünschte brachte. Ruhlsdorf fühlte sich sichtlich geschmeichelt, dass ein Angehöriger der oberen zehntausend ein paar Minuten Zeit für ihn hatte und mit ihm zechte. Er konnte ja nicht ahnen, welche Überwindung es mich kostete, es länger als zwei Atemzüge in seiner Nähe auszuhalten. Der Arme litt nämlich unter einem penetranten Körpergeruch, der in mir pausenlos Erinnerungen an meinen letzten Zoobesuch wachrief. Er berichtete mir mit entnervender Ausführlichkeit von den Chancen der einzelnen Fußballklubs, in der nächsten Bundesligasaison zum deutschen Meister aufzusteigen.

„Herr Wirt, noch einmal dasselbe, bitte! – Wie geht es denn persönlich?“

Er guckte ein wenig misstrauisch. „Sie woll’n ma wohl uff’n Zahn fühlen, wat? Aba Fehlanzeije, ich dreh keene krummen Dinga mehr, ick bin kuriert. Vor drei Wochen hab ick geheiratet, ’ne Vakäuferin von Bilka, ’ne resolute Puppe, die bringt ma schon uff Vordamann. Wat Kleenet is ooch schon untawegs. Ich arbeite jetzt bei de BVG als Gleisarbeita. Ville jibt’s ja nich, und wir ham ’ne janze Menge Schulden, aba et wird schon jehn ...“

„Prost! Auf Ihr Wohl!“ Wir leerten zum zweiten Mal die Gläser, und langsam begann der Alkohol zu wirken.

„Da wären wir ja beim Thema ...“, sagte ich nachdenklich.

„Wat denn“, lachte er, „woll’n Se mir etwa ’n Tipp vakoofen, wie ick ’ne Bank knacken kann ...?“

„Das nicht ...“ Ich wand mich innerlich. „Aber vielleicht könnten Sie mir einen Tipp verkaufen ...“

„Ick ...? Ick kann Ihn’n sajen, wo Se abjetakelte Nutten uffjabeln könn’n, aba uff die stehnse ja wohl nich.“

„Allerdings ... Nein ...“ Ich beugte mich etwas zu ihm herüber. „Sie wissen vielleicht, dass ich immer noch auf der Liste der Verdächtigen stehe ...“

„So ...?“ Sein Gesicht verfinsterte sich, man merkte direkt, wie er sich in sein Schneckenhaus zurückzog.

„Die Miezi, Sie wissen doch! Aber Ihnen geht es ja wohl nicht anders – oder ...?“

„Hm ...“ Er steckte sich eine Zigarette an und schnippte den verkohlten Streichholzkopf in die Gegend.

„Rannow ist ratlos ...“

Ruhlsdorf lachte auf. „Wir ooch!“ Er stippte seinen rechten Zeigefinger in eine kleine Lache vergessenen Biers und zog verschlungene Kanäle über die blank gescheuerte Tischplatte.

„Das glaube ich nicht ganz ...“

„Dann eben nich, dann kommt ’n andra und gloobt et Ihnen weg, dann ham Se jarnischt mehr!“

„Ja, ja ...“ Ich grinste. Aus seiner plötzlichen Schnoddrigkeit konnte ich schließen, dass er Angst hatte, Angst vor irgendwem oder irgendwas, Angst, die sich nun in Aggression umsetzte. Er musste also wissen, oder zumindest fundierte Vermutungen darüber haben, wer Miezis Mörder war, und es lag bei der Struktur des Falles auf der Hand, dass er den Mörder näher kannte. Wenn dem so war, dann hatte ich eine konkrete Chance, den entscheidenden Schlag gegen Ziegenhals zu führen. „Ach, es ist schon ein Kreuz, alle wissen etwas, aber keiner will den Mund aufmachen ...!“

Ruhlsdorf biss nun prompt auf meinen Köder an. „Alle ...? Wer weeß denn noch wat?“ Sein Gesicht war gespannt, seine Augen waren schmal geworden.

„Ziegenhals zum Beispiel ...“

„Der ...?“ Ruhlsdorf zweifelte wohl zuerst, schien sich aber dann an die enge Verbindung zwischen Ziegenhals und Miezi zu erinnern.

„Ziegenhals, genau!“ Ich spielte meine ganze Autorität aus, und er glaubte mir wohl auch. „Aber aus irgendeinem Grund hat er bisher geschwiegen ...“

„Den Grund kenn ick, der hat ja selba Dreck am Stecken!“, lachte Ruhlsdorf.

„So schlimm kann es nun auch wieder nicht sein“, wandte ich ein, „denn Oberkommissar Rannow hat mir gegenüber angedeutet, dass man Ziegenhals für seine früheren Straftaten eine Amnestie gewähren will, wenn er der Kripo Miezis Mörder nennt ...“

„Jeht denn det?“

„Natürlich!“, versicherte ich großspurig.

Ruhlsdorf war beeindruckt und nickte mehrmals; für ihn war ich einer der Götter von da oben. „Na, wenn det so is, denn wirta ja bald singen.“

„Nun will ich Ihnen mal was sagen ...“ Ich beugte mich vertraulich zu ihm herüber, wobei ich mir am liebsten die Nase zugehalten hätte. „Wenn Sie mich fragen – dann halte ich Ziegenhals selber für den Mörder und sein Getue nur für ein Ablenkungsmanöver ...“

„So ...?“ Ruhlsdorf war ein wenig verwirrt, meinen Winkelzügen konnte er beim besten Willen nicht mehr folgen. Sein Misstrauen vor einer möglichen Fußangel wuchs von Sekunde zu Sekunde, was keineswegs in meiner Absicht lag.

„Und Ziegenhals will meine Tochter heiraten“, flüsterte ich. „Stellen Sie sich den Skandal vor, wenn er später als Mörder entlarvt wird – da bin ich in meiner Position doch erledigt! In drei Jahren bin ich Minister in Bonn – und mein Schwiegersohn bekommt lebenslänglich wegen Ermordung einer Prostituierten!“

Ruhlsdorf schauderte, der hehre Atem der Geschichte, den er zu spüren glaubte, ließ ihn frösteln. „Mensch!“, stieß er hervor.

„Vor der Hochzeit muss ich unbedingt wissen, ob er der Mörder ist oder nicht, verstehen Sie?“

„Klar, ick bin doch nich von jestan!“ Ruhlsdorf steckte sich eine Zigarette an und dachte nach. „Irjendwann muss ja der Ballon sowieso mal platzen ...“, murmelte er.

Ich ließ ihm Zeit, zu einer Entscheidung zu kommen, und vermied es, in ihm das Gefühl des Eingekesseltseins zu erwecken.

„Ich würde mir den Tipp auch was kosten lassen“, sagte ich dann mit aller Vorsicht.

Ruhlsdorf kämpfte mit sich, das sah ich deutlich an seinen rot angelaufenen Ohren. Habgier und Ganovensolidarität rangen miteinander. „Hm ... Theo, der Wirt da, hat uns die janze Zeit üba nich aus’n Oojen jelassen, und wenn ... wenn der Mörda Wind davon bekommt, det ick ihn vapfiffen hab, und die Bullen nich schnell jenuch da sind, bin ick selba ’ne Leiche, nee!“ Die Angst gewann die Oberhand, mit verkrampftem Mund zog er an seiner schnell herunterbrennenden Zigarette, Schweißperlen glitzerten auf seiner flachen Stirn.

„Sie könnten sich noch heute Abend in eine Maschine setzen und nach Hamburg fliegen oder nach Paris – am Geld soll’s nicht scheitern.“

„Wat lassen Se denn springen?“

Die Gier nach leicht verdientem Geld war also doch stärker als die Angst; ich hatte richtig kalkuliert.

„Tausend.“

„Soll det ’n Witz sein?“ Er lachte laut auf, wodurch sich seine Nervosität merklich verringerte.

„Anderthalb!“

„Nee, mein Leben is ma mehr wert!“

„Gut, lassen wir’s! Ziegenhals wird ja bald zur Polizei gehen, und dann werden die Beamten den Mörder über kurz oder lang von sich aus finden ...“ Ich machte Anstalten, mich zu erheben.

„Momentchen mal!“ Ruhlsdorf war sichtlich erschrocken. „So war det nich jemeint!“

„Zweitausend – das ist mein letztes Wort!“

„Hm ... Plus Hin- und Rückflug nach Paris.“ Seine Augen leuchteten auf. „Sajen wa: zwofünf ...?“

„Okay!“ Ich bemühte mich um ein Pokergesicht und zog das Geld aus der Brieftasche, um es ihm in einem günstigen Augenblick hinüberzuschieben. Ich hatte mir vorsorglich 4000 Mark eingesteckt, konnte also durchaus zufrieden sein. „Also, wer ist es ...?“

Ruhlsdorf ließ das Geld in seine Hosentasche gleiten, seine Züge konnte man nur als verklärt bezeichnen. „Er war ’n paar Monate in Tunesien, oder ’n paar Wochen jedenfalls ...“ Hier stockte er, denn offenbar hatte er eine panische Angst davor, den Namen des Mörders auszusprechen.

„Soll ich mir vielleicht alle Leute ansehen, die in letzter Zeit in Tunesien waren?“ Ich verlor allmählich die Geduld.

Ruhlsdorf sah sich schnell nach allen Seiten um, dann flüsterte er: „Prötzel ...!“

„Aha ...“ Ich nickte befriedigt; an Prötzel hatte ich selber schon gedacht. Nur ... „Und was ist mit dem Alibi von seiner Mutter?“

„Die is nich jut uff’n zu sprechen, wo er mit ’ner verdammt teuren Nutte nach Tunesien jemacht hat und sie liegt krank zu Hause im Bette.“

„Aha ...“

Hier, sehn Se mal, det issa!“ Ruhlsdorf zeigte mir eine überbelichtete Farbfotografie, auf der ein untersetzter Mann neben einer Blondine kniete, die in neckischer Absicht Sand auf die wichtigste Stelle ihres Bikinis rinnen ließ.

„Sehr schön!“

„Der wird sich wundan!“

Damit war meine Mission in der Heißen Ecke beendet, und ich konnte die mir verbleibende Zeit damit vertun, mit Ruhlsdorf über die diversen Kriminalserien der ARD und des ZDF zu plaudern. Wir knobelten noch ein Weilchen um die nächsten Lagen, tranken sie aus und gaben uns als zwei harmlose Zecher.

Gegen zwanzig Uhr dreißig verließ ich dann das rauchige Lokal, das sich langsam mit lärmenden Jugendlichen und zwielichtigen Gestalten zu füllen begann. Richtig beschwingt war ich, denn meine Rechnung war aufgegangen.

Als ich die braune Holztür hinter mir zugezogen hatte und mich umdrehte, um nach einer Taxe Ausschau zu halten, lief ich einem gedrungenen jungen Mann in einer schwarzen Lederjacke in die Arme.

Es war Karl-Heinz Prötzel.

Mörder kennen keine Grenzen

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