Читать книгу Mörder kennen keine Grenzen - Horst Bosetzky - Страница 28
13. Kapitel
ОглавлениеBetr.: Bernd Ziegenhals.
Anlage zum psychiatrischen Gutachten. Abschrift des Tonbandes 3/5.
Locker assoziierende Selbstdarstellung des Probanden. Vom Autor überarbeitet.
Das Telefon schrillt und schrillt, um mich herum zerplatzen grellbunte Farbbeutel, ich falle und falle, ich durchstoße blutrote Schleier, ich glühe auf wie ein Komet, und ich zerschelle schließlich auf einem glatten Felsplateau. Tausend schwere Hände pressen sich auf meinen Mund und ersticken meine Schreie. Meine Glieder sind so schwer, dass ich glaube, ich sei auf dem Jupiter gelandet, und mein Gehirn leistet nicht mehr als das einer Schildkröte. Aber ich taste mich irgendwie zum Nachttisch und werfe den Hörer hinunter. Aus weiter Ferne, aus den Tiefen des Weltraums, dringt eine heisere Stimme an mein Ohr.
„Ziegenhals, Gott sei Dank, Sie leben noch! Reißen Sie die Fenster auf, schnell, um Gottes willen, beeilen Sie sich! Ihre Gashähne stehen offen ...!“
Ich begreife plötzlich, ich taumle aus dem Bett, ich breche zusammen, ich raffe mich wieder auf, ich schleppe mich zum Fenster, ich reiße es auf.
Was ich auch tue, wo ich auch bin, immer steht mir diese Szene vor Augen. Sogar in den Sekunden, in denen Ginny in meinen Armen liegt.
Kolczyk hatte es also nicht übers Herz gebracht, mich zu ermorden, der Gute! Und so schrecklich der Gedanke an den Gastod auch sein mochte, so trostreich war die Gewissheit, dass Kolczyk nicht die Nerven hatte, mich zu ermorden. Er schaffte es nicht, er hatte nur bis zur nächsten Telefonzelle durchgehalten. Ich konnte also aufatmen, von Kolczyk drohte mir nun keine unmittelbare Gefahr mehr. Es sprach vieles dafür, dass er sich nach diesem Fehlschlag mit einem lebenslangen Patt abfinden würde. Die Aktien des ehrenwerten Bernd Ziegenhals standen also an diesem denkwürdigen Märzmorgen höher als je zuvor.
Der Taifun war über mich hinweggegangen und ich hatte überlebt. Jetzt hatte ich Jahre des Sonnenscheins vor mir, Jahre mit Ginny, von Kolczyk finanziert. Und auch der Besuch des „Tapirs“ konnte meiner euphorischen Stimmung keinerlei Abbruch tun. Der „Tapir“, das war für mich der ehrenwerte Oberkommissar Rannow. Seine Ähnlichkeit mit diesem merkwürdigen Säugetier war für mich immer wieder frappierend. Vielleicht sollte ich mir diesen Vergleich verkneifen, aber Rannow ist sowieso mein Feind Nummer eins und setzt ohnehin alles daran, mich fertig zu machen.
Es lag gar kein Grund vor, warum ich mich an diesem Morgen vor Rannow fürchten sollte. Möglicherweise nahm er an, ich habe Selbstmord begehen wollen, und das war schließlich nicht strafbar.
In den nächsten Tagen und Wochen tanzte, sang und liebte ich und genoss meine Wiedergeburt. Dann aber kam ein schwarzer Freitag für mich, ein ziemlich verhängnisvoller Tag. Das Unheil kam, wie so oft, aus heiterem Himmel.
Um halb zwei verließ ich mein Domizil in der Grunewaldstraße und fuhr zur Gedächtniskirche hinüber, wo ich mit Ginny verabredet war. Wir wollten chinesisch essen. Es war Punkt vierzehn Uhr, als ich die Schaukästen vor dem Zoo-Palast erreichte. Sie stand schon da und wartete auf mich.
„Hallo, Schätzchen!“, rief ich. „Du siehst mal wieder bezaubernd aus!“
Sie bedankte sich mit einem Pfefferminzkuss; in ihrem türkisfarbenen Kostüm sah sie wirklich umwerfend aus. „Wohin des Wegs, Gevatter?“
„Sie, verehrte Regina, zum Mampfen zu führen, bin ich!“
„Verführer befiehl, wir folgen!“
„Wir ...? Was denn, bist du etwa gesegneten Leibes?“
„Wie könnte ich denn! Eine unverheiratete Maid – diese Schande! Nein, das würde ich nicht überleben!“ Sie schluchzte, und ein paar alte Damen drehten sich um.
Wir waren so vergnügt und ausgelassen, dass wir jedem Vorübergehenden ein herzliches guten Tag zuriefen.
Dann ließen wir uns die fernöstlichen Spezialitäten schmecken oder, um mit Muttchen Braatz zu sprechen, trefflich munden. Nach dem Vorgericht, einer leckeren Frühlingsrolle, gab es für Ginny Baujü (Hühnerbrust mit Bambus und chinesischen Champignons, gedünstet) und für mich Sinjen Bolo Yading (Ente in Würfeln, süßsauer, mit Ananas und Mandeln). Als Nachtisch wählten wir Lychees und als Getränk einen leichten Roséwein. Kein Wunder, dass wir von Minute zu Minute heiterer wurden.
„Wie geht’s denn dem Herrn Vater?“, fragte ich.
„Danke ... Der hat gerade Besuch, Dr. Völker ist bei ihm, ein Rechtsanwalt, den er schon jahrelang kennt. Das ist ’ne Type, sage ich dir ... Den müsstest du mal kennen lernen – ’n Kerl mit ’nem Monokel und so konservativ, dass sein Sohn nicht Apotheker werden darf, weil er glaubt, das hätte was mit den Anarchisten zu tun.“
Ich lachte schallend, sie war köstlich. „Das ist der Kalauer des Tages ... du, gucke mal, da läuft ein ganz seltenes Tier herum!“
„... tut mir Leid, ich sehe nur einen altersschwachen Pekinesen ...“
„Nein, eine ganz ausgefallene Kreuzung ist das – da, direkt vor der Litfaßsäule!“
„Du spinnst ja!“
„Hast du denn Tomaten auf den Augen – siehst du denn nicht, das ist doch ein ausgewachsener Bärtiger!“
Es dauerte ein paar Sekunden, bis es bei ihr gezündet hatte. „Das ist aber noch gar nichts – ich habe sogar einen Tiger im Bad ...“
Jetzt war es an mir, zu staunen.
„... einen Haarfestiger!“
„Hahaha! Dein Dr. Völker würde uns auf der Stelle rausschmeißen, wenn er das hörte.“
„Der würde das bestimmt nicht hören – der ist nämlich schwerhörig. Fehlte nur noch, dass er eine Hörtröte ansetzt, Modell 1871 ...“
„Das ist doch unmöglich, dass Völker schwerhörig ist.“
„Wieso?“
„Na, sie singen doch immer: Völker, hört die Signale! Wie kann er denn schwerhörig sein, wenn er die Signale hört?“
Ginny, die nichts mehr liebte als das Blödeln, prustete los. „Zwei zu eins für dich!“
So ging es noch eine ganze Weile, und ich hatte wirklich allen Grund dazu, vergnügt zu sein. Ginny war ganz vernarrt in mich, und wir wollten uns im Sommer verloben. Kolczyk sah ich nun schon praktisch als künftigen Schwiegervater an. Finanzielle Sorgen hatte ich natürlich keine, denn er überwies mir anstandslos jeden Monat 1000 Mark. Überhaupt, es ging aufwärts mit mir. In den Zeitungen waren mehrere Kurzgeschichten von mir abgedruckt worden, eine wissenschaftliche Zeitschrift hatte meinen Artikel über die Kriminalität in Berliner Berufsschulen gebracht, in der Studentenpolitik spielte ich eine ziemliche Rolle und in den Seminaren war ich einer der führenden Köpfe. Was wollte ich mehr?
„Was sagt denn Muttchen Braatz, wenn sie deine Storys liest?“, wollte Ginny wissen.
„Immer dasselbe: ‚Dass ich das noch erleben durfte?‘“
„Sie ist wirklich goldig!“
Wir redeten noch eine Weile, dann rief ich den Ober, um zu zahlen.
„Lass man, ich mach das schon!“ Ginny schob mein Portemonnaie zur Seite. „So groß ist dein Stipendium ja nun auch wieder nicht. Heb dir lieber das Geld für Bücher auf.“
Wir stritten uns noch einige Zeit, dann teilten wir uns den Betrag, über 20 Mark, wenn ich mich recht erinnere. Immer wenn es ums Geld ging, lief es mir kalt den Rücken hinunter. Ich hatte Ginny erzählt, dass ich ein Stipendium bekäme und mir ein Onkel aus Erlangen jeden Monat eine gewisse Summe überwies, aber bei ihrer Intelligenz bestand immer die Gefahr, dass sie meine Lügen einmal durchschaute. Hatte sie nicht eben den Onkel unerwähnt gelassen ...?
Wir verließen das Lokal, um noch ein wenig den frühlingshaften Ku’damm hinunterzubummeln. Als wir die Aushänge am Gloria-Palast betrachteten, zupfte mich Ginny am Ärmel.
„Du, da läuft uns schon die ganze Zeit über jemand hinterher!“
Ich drehte mich um. „Ach, Unsinn!“
„Doch, der da hinten an der Blumenschale.“
„Ich sehe nichts!“
„Jetzt ist er weg ...“
Wir vergaßen den Vorfall und überließen uns unserem Glück. Ja, so kann man es schon nennen, wenn man’s jetzt aus der Distanz betrachtet. Wir sahen uns die elegant aufgemachten Schaufenster an, grinsten ältlichen, aufgetakelten Damen ins Gesicht, ereiferten uns über das Establishment und die Polizei und streiften Probleme aus Psychologie und Soziologie. Ginny liebte das Dozieren und hielt mir mehrere hundert Meter lang einen Vortrag über die Teilung von DNS-Molekülen.
Ich stöhnte laut und vernehmlich. „Verschone mich damit!“
Sie war sichtlich eingeschnappt und wies, um mich zu ärgern, auf die andere Straßenseite zum Drugstore hinüber. „Da habe ich oft mit Johnny Cloward gesessen ... Ach, das waren noch Zeiten!“
Ich machte prompt ein finsteres Gesicht.
„Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?“, lachte sie.
Doch, das war ich. Cloward, dieser verdammte Schnüffler! Plötzlich flammte regelrechter Hass in mir auf. Erst vor ein paar Stunden, als Ginny mir von der Freundschaft zwischen Cloward und ihrem Vater erzählt hatte, war es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Daher also hatte Kolczyk gewusst, wie es bei mir aussah, deshalb hatte er die Gashähne ohne Mühe öffnen können! Cloward war sein Spion, und er brauchte ihn nur auszufragen, um zu wissen, wie es mit mir stand und was ich gerade unternahm. Dass sie sich kannten, hatte ich zwar gewusst, nur war mir die Tragweite dieser Beziehung nicht aufgegangen. Erst die aufschießende Eifersucht hatte mir die Szene wie mit einem Blitzlicht erhellt.
Jetzt galt es zu handeln und dieses Werkzeug unbrauchbar zu machen! Aber ich kam gar nicht dazu, detaillierte Pläne zu entwerfen, denn wieder schrie Ginny auf.
„Du, der Kerl läuft uns immer noch hinterher!“
Wir blieben stehen, und ich ließ mir den Mann zeigen, den sie meinte.
Es war Prötzel.
Das konnte nichts Gutes bedeuten; ich fuhr zusammen. Er wusste zu viel von mir, er konnte mich erpressen. Bernd Ziegenhals, der erpresste Erpresser, welch Hohn! Er hatte mich schon lange auf dem Kicker, und ich wusste nur zu genau, welcher Gewalttätigkeiten er fähig war.
Doch ich hatte Glück. An der Bordsteinkante hielt eine Taxe, ein junger Mann stieg aus. Sekunden später saßen wir im Fond des Wagens, und Prötzel hatte das Nachsehen. Er starrte uns mit zusammengekniffenen Augen hinterher.
„Zum Parkplatz an der Rankestraße“, sagte ich.
„Was wollte der denn, was ist denn los?“, fragte Ginny.
Ich versuchte gleichmütig zu bleiben. „Ach, das ist ein alter Schulkamerad von mir. Eine Nervensäge. Quatscht immer einen fürchterlichen Kohl zusammen und pumpt mich dann auch noch an. Von dem träume ich schon. Offenbar liebt er mich ...“
Ginny schien misstrauisch geworden zu sein, stellte aber keine weiteren Fragen. Auf dem Parkplatz in der Nähe der Gedächtniskirche trennten wir uns, jeder setzte sich in seinen eigenen Wagen. Ginny musste ins Psychologische Institut, ich fuhr nach Hause.
Die Furcht vor Prötzel verdrängte meine Gedanken an den Amerikaner, und wahrscheinlich hätte ich meinen Groll hinuntergeschluckt, wenn Cloward nicht auf die unglückselige Idee gekommen wäre, bei mir auf Zigarettensuche zu gehen.
Als ich meine Zimmertür aufstieß, sah ich ihn nicht nur in meinem Nachttisch herumkramen, ich sah auch rot.
„Los, hau ab, du blödes Schwein!“
Cloward starrte mich entgeistert an.
„Na, wird’s bald!“ Ich packte seinen rechten Arm und riss ihn herum. „Raus hier und lass dich nicht wieder blicken!“
„Was ist denn ...? Yeah! Ich ... ich ...“
„Halts Maul, ich brauch keine Erklärungen mehr! Los, raus!“ Ich stieß ihn zur Tür.
„Damned!“ Cloward stolperte über den Teppichrand und schlug der Länge nach hin. Doch er rappelte sich blitzschnell wieder hoch und baute sich vor mir auf, als sei er Cassius Clay persönlich. „Come on! Jetzt hast du Angst, was? Du traust dich wohl nicht.“
„Das wollen wir doch mal sehen!“ Schon stürmte ich vor und schlug auf ihn ein. Mein rechter Haken saß genau in seiner Magengrube, und er gab einen Schmerzenslaut von sich. Doch er gab nicht auf, sondern keilte wild um sich. Ein rechter Schwinger traf mich an der Schulter und warf mich aufs Bett. Schon war er über mir und bearbeitete mein Gesicht.
Jetzt bekam ich’s tatsächlich mit der Angst zu tun, und es war wohl mehr Notwehr, als ich ihn mit einer Art Karateschlag an der Halsschlagader traf. Er brach auf der Stelle zusammen und klatschte geradezu auf den Boden.
Er ist tot!, schoss es mir durch den Kopf. Weg von hier, schnell weg!
Ich stürzte die Treppe hinunter, riss die Haustür auf und sprang in meinen Mercedes. Muttchen Braatz, die gerade vom Einkaufen kam, schaute mir ganz verdattert hinterdrein. Auch das noch!
Ich fuhr ziellos durch die Stadt und brütete die tollsten Pläne aus. Auf alle Fälle wollte ich an diesem Abend nicht in die Grunewaldstraße zurückkehren, sondern erst einmal abwarten, was die Morgenzeitungen brachten.
Mord in Steglitz! Amerikanischer Journalist erschlagen aufgefunden! Alte Dame sah den Mörder!
Und darunter mein Steckbrief.
Sollte das das Ende sein? Mein einziger Trost war, dass dann auch Kolczyk sein Spiel verloren hatte. Wenn ich vor dem Schwurgericht stand, würde ich auspacken und auch sein Leben zerstören. Geteilter Schmerz – halber Schmerz!