Читать книгу Mach dein Glück! Geh nach Berlin! - Horst Bosetzky, Uwe Schimunek - Страница 7
Tage in Prenzlau, unvergesslich
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Ernst Schering ging gern zur Schule, was in Prenzlau für einen Dreizehnjährigen recht ungewöhnlich war. Sein Bruder August sagte von ihm, er habe einen wachen Geist, der ständig gefüttert werden müsse. Ja, das stimmte schon, aber er war darüber durchaus nicht glücklich, sondern beneidete die, von denen es in der Bibel hieß „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr“. Auch fürchtete er, seine Eltern würden meinen, dass er etwas Besonderes wäre und ihn wie seinen Bruder August zum Studium in die Ferne schicken. Was ihm vorschwebte, war ein einfaches Leben, eines ohne viel Gelehrsamkeit und immer in Gottes freier Natur. Im Gasthof seines Vaters hatte es immer viel Trubel gegeben und da war er oft in die Wälder südlich Prenzlaus geflüchtet, zumindest aber an die Ufer des langgestreckten Unteruckersees.
Nun, bei seinem Vater waren viele interessante Menschen eingekehrt und hatten von ihren Geschäften und ihren Abenteuern berichtet, und er hatte ihnen immer zugehört, mal offen, mal heimlich, weil das viel spannender war als all das, was in seinen Kinderbüchern und seiner Fibel stand. Die vielen Reize, die dabei auf ihn eingedrungen waren, hatten sein Gehirn dahin gebracht, später auch hoch Kompliziertes verstehen zu können. Und so war es gekommen, dass er in der Schule, auch noch auf dem Gymnasium, mit dem Lernen keine Mühe hatte, alles flog ihm nur so zu. Nie strebte er nach etwas, immer geschah es mit ihm, und er staunte nur, wenn er irgendwo angekommen war. Ludwig Kuhz, sein Klassenlehrer, hatte ihn einmal einen Somnambulen genannt, einen Schlafwandler.
Solch Kommentar war für Kuhz sehr ungewöhnlich, denn das Seelenleben seiner Schutzbefohlenen interessierte ihn im allgemeinen herzlich wenig. Hauptsache, sie lernten Gehorsam, die Liebe zum König und dazu ein wenig Lesen und Schreiben sowie das, was im kleinen Katechismus stand. Vornehmlich war er mit sich selbst beschäftigt, denn als junger Mann war er in der Schlacht bei Großbeeren in französisches Feuer geraten und hatte stundenlang in einem Graben ausharren müssen, nur mit dem Körper seines toten Pferdes als Kugelfang. Seitdem spielten seine Nerven immer wieder verrückt, aber er hätte nie daran gedacht, sich vom Schuldienst entbinden zu lassen, denn Fahnenflucht war das Schlimmste für ihn. Heute war das Werden Brandenburg-Preußens zu behandeln, und folglich war er mit besonderer Hingabe bei der Sache.
„Was fällt euch ein, wenn ich den Namen Friedrich nenne?“, fragte er mit leuchtenden Augen.
„Der Friedrich, der Friedrich, das ist ein arger Wüterich“, reimte Gottfried Nickholz, Scherings Freund und Banknachbar, in Vorwegnahme des Struwwelpeters.
So leise er gesprochen hatte, Kuhz waren seine Worte nicht entgangen, und er stürzte nach vorn, riss den Jungen aus der Bank, stieß ihn nach vorn, befahl ihm, sich über das Katheder zu beugen und versohlte ihn mit seiner Haselrute so kräftig, dass es denen noch weh tat, die in der hintersten Reihe saßen. Gottfried Nickholz stieß keinen Schmerzenslaut aus, denn er war von zu Hause aus Prügel gewohnt. Gelobt sei, was hart macht, hieß es dort. Was ihn außerdem noch trug, waren sein Hass auf den Lehrer und die Vorfreude auf den Tag, da er Kuhz alles heimzahlen konnte.
Der Lehrer gab sich alle Mühe, gleichmütig zu wirken. „Zurück zum Vornamen Friedrich. Wer trug in Preußen als Erster diesen Namen?“
In vielen Gesichtern zuckten es, denn es lag den Jungen auf der Zunge zu rufen „Mein Großvater!“, doch sie beherrschten sich gerade noch rechtzeitig, um der Haselrute zu entgehen. Keiner wagte sich zu melden.
Kuhz stieß Gottfried Nickholz die Spitze seiner Haselrute in die Brust. „Nun …?“
Die Antwort kam prompt. „Na, Friedrich der Große.“
Den ins Feld zu führen, konnte nie falsch sein, doch Kuhz verdrehte dennoch die Augen. „Mensch, das ist doch Friedrich II., wie kann denn der Alte Fritz der erste Friedrich sein!? Es muss doch auch einen Friedrich I. gegeben haben …? Schering, na …!?“
Eher gelangweilt kam die Antwort. „Ja, Friedrich I. war unser erster König, König in Preußen, 1701, aber eigentlich war er schon unser dritter Friedrich, das heißt, als Markgraf von Brandenburg war er Friedrich III. Was aber auch wieder nicht so ganz stimmt, denn der erste Hohenzollern in der Mark Brandenburg war ja der Burggraf von Nürnberg, Friedrich VI., und der ist dann in Brandenburg als Markgraf zu Friedrich I. geworden.“
„Hör auf, mir meine Schüler zu verwirren!“, rief Kuhz, sichtlich verärgert, und wandte sich wieder Gottfried Nickholz zu. „Und – wo ist denn Friedrich I. zum König in Preußen gekrönt worden, na!?“
Die Antwort war so einfach, dass er sich nicht vorstellen konnte, dass jemand so dumm sein konnte, sie nicht parat zu haben, aber Gottfried Nickholz hatte wirklich keine Ahnung von allem. Da flüsterte ihm Ernst Schering „Königsberg“ zu – und wieder hörte es Kuhz.
„Wenn ich etwas hasse, dann ist es das Vorsagen!“, schrie er. „Wenn du glaubst, Gottfried, mich täuschen zu können, dann … ! Du hast mich betrügen wollen – das ist schmählich! Du und der Ernst. Zur Strafe sitzt ihre beide heute eine Stunde nach. Du wegen deiner Untat, Schering, und du, Nickholz, wegen deiner Dummheit!“
Beide waren furchtbar wütend auf Kuhz. Ernst Schering, weil es für ihn ein hoher Wert war, einem Freund zu helfen, und er es furchtbar ungerecht fand, dafür bestraft zu werden, Gottfried Nickholz, weil es ihn schmerzte, als Dämlack gebrandmarkt zu werden. Sein Vater war Bäcker, und er selbst verstand vom Backen mehr als Kuhz von preußischer Geschichte.
Wie auch immer, die beiden Jungen mussten im Klassenzimmer bleiben, als ihre Klassenkameraden nach der letzten Stunde jubelnd aus der Schule stürzten. Kuhz hatte sich eine ganz besondere Strafarbeit für sie ausgedacht: Sie sollten den Psalter durchgehen und sich fünfzehn Verszeilen aus der Bibel heraussuchen, sie abschreiben und danach auswendig lernen. Gottfried Nickholz liebte alles Martialische und wollte mit 3/8 beginnen. „Auf, Herr, und hilf mir, mein Gott! Denn du schlägst alle meine Feinde auf den Backen und zerschmetterst der Gottlosen Zähne.“
Ernst Schering hatte nichts dagegen einzuwenden, auch wenn er fand, es müsste auf „die Backen“ heißen. Er selbst begann mit 37/5: Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn; er wird’s wohl machen.
Nach etwa einer halben Stunde kam Kuhz herein, um zu prüfen, ob sie auch das taten, was ihnen aufgetragen ward. Und er ließ sich auch hinterm Katheder nieder. Einmal, um zu verhindern, dass die beiden sich möglicherweise noch amüsierten, zum anderen aber, weil er den Anblick hübscher Knaben durchaus anregend fand. Sein Vergnügen wurde aber nachhaltig gestört, als es über dem Uckerland plötzlich zu gewittern begann. Was zuerst harmlos erschien, wuchs sich in wenigen Minuten zu einem heftigen Unwetter aus. Blitz und Donner folgten immer rascher aufeinander, und schließlich schlug es zweimal hintereinander in den Turm des Prenzlauer Gymnasiums ein. Ein Wolkenbruch folgte und setzte die Stadt im Nu unter Wasser.
Den beiden Jungen machte all das nichts aus, Ludwig Kuhz aber zitterte am ganzen Körper und betete. „Gott, hilf mir; denn das Wasser geht mir bis an die Seele.“
Gottfried Nickholz grinste. „Das ist der 69. Psalm, Vers zwei.“
Ernst Schering liebte es, nach der Schule in die Gaststube zu treten, sich an einen freien Tisch zu setzen und sich wie ein Herr von und zu bedienen zu lassen. Im Gymnasium waren sie nur darauf aus, ihn zu diminuieren, und da tat es ihm wohl, wenn er sich einmal in der Rolle eines gemachten Mannes gefallen konnte. Meist bekam er nur das vorgesetzt, was die zahlenden Gäste verschmäht hatten, aber das störte ihn wenig. Weil er hatte nachsitzen müssen, war es später als sonst geworden und von den Herren, die ihren Mittagstisch bei Christian Schering einnahmen, waren alle schon wieder gegangen – nur sein Bruder August, der für ein paar Tage aus Berlin heraufgekommen war, saß noch am Fenster und plauderte mit einem der renommierten Söhne Prenzlaus, mit Karl Gottlieb Richter, der seit 1825 als Regierungspräsident in Minden lebte. Ernst Schering konnte große Teile ihres Gespräches verstehen, denn beide Männer waren Juristen und verstanden es, sich in Szene zu setzen.
August Schering hatte vor kurzem sein Studium beendet und war zur Zeit noch Auskultator, befand sich also in Phase eins der dreistufigen Ausbildung zum höheren Justizbeamten, und brachte dem Älteren ein hohes Maß an Verehrung entgegen.
„Wenn ich mir so Ihre Karriere ansehe, Herr Regierungspräsident, dann kann ich nur ausrufen: Chapeau! Wann haben Sie hier in Prenzlau Ihren Schulabschluss gemacht?“
Karl Gottlieb Richter musste einen Augenblick nachdenken. „Im vorigen Jahrhundert noch. 1777 bin ich auf die Welt gekommen – das kann ich mir wegen der drei Sieben noch merken, aber das andere … 1794 muss es gewesen sein. Anschließend habe ich in Halle studiert – Rechtswissenschaften und Theologie. Dann kamen der Gerichts-Referendar und der Gerichts-Assessor – und sie haben mich zur königlichen Kriegs- und Domänenkammer nach Posen geschickt.“
„Es folgten Potsdam, Halberstadt, Breslau und jetzt Minden“, fuhr August Schering fort.
Karl Gottlieb Richter lachte. „Sie sind ja bestens informiert, junger Mann!“
August Schering senkte die Stimme. „Ich habe gestern den Rat belauscht, da ist das alles erörtert worden.“
Der Regierungspräsident tat erschrocken. „Mein Gott – Prenzlau will mich wohl zum Ehrenbürger machen!“
„Wenn es einer verdient hat, dann Sie, und den Roten Adlerorden II. Klasse mit Eichenlaub, den haben Sie ja schon.“
Wie wunderbar musste es sein, ging es Ernst Schering durch den Kopf, von allen so verehrt zu werden und sich wie ein Halbgott fühlen zu dürfen! Die Menschen zogen Hut oder Zylinder, wenn sie an einem vorbeiflanierten, in den Läden machten sie eine Verbeugung, trat man ein, man saß im Theater mit anderen Honoratioren zusammen in der Loge des Königs und durfte hochdekoriert ins Ausland reisen, um Preußens Interessen zu vertreten. Und das Schönste war, dass man solch ein Leben haben konnte, obwohl man nur aus Prenzlau kam. Im Konfirmationsunterricht wie auch bei Ludwig Kuhz hatte er das Vaterunser auswendig lernen müssen: Dein Wille geschehe! Ob es Gottes Wille war, ihn auch so etwas werden zu lassen, wie es Karl Gottlieb Richter geworden war? Oder hatte der HERR seinen ach so tüchtigen Bruder August im Auge und nicht ihn?
Ein Zuruf seiner Mutter riss ihn aus seinen Gedanken: „Ernst, beim Apotheker Holz ist die Köchin erkrankt, du möchtest ihm sein Mittagessen nach Hause bringen!“
„Ja, sofort, ich muss nur noch schnell aufessen!“
Beim Nachwürzen bemerkte er, dass sich wieder einmal schwarze Krümel im Salz befanden. Was immer das war, es ärgerte ihn. Ebenso beim Zucker. Sie schafften es nicht, ihn so herzustellen, dass keine braunen Körner dazwischen waren. Seine Mutter hatte schon geklagt, er habe einen „Reinlichkeitsfimmel“, doch das störte ihn nicht.
Noch mit dem letzten Bissen im Mund trabte er los. In der Tür der Holtz´schen Apotheke wartete schon der Gehilfe Friedrich Krumbeck, der sich von seinem Unfall weithin erholt hatte und alsbald zu einer stadtbekannten Persönlichkeit geworden war. Ernst Schering übergab dem „Alchemisten-Fritz“ das mit einem karierten Tuch abgedeckte Tablett und machte sich schnell wieder auf den Heimweg. Als er am Dominikanerkloster vorbeikam, lief er seinem Freund Gottfried Nickholz in die Arme, der gerade angeln gehen wollte.
„Kommste mit an´n See runter?“
„Ja.“
Ernst Schering hatte die wenigen Schularbeiten schnell gemacht, und bis die Leute zum Abendschoppen kamen und er wieder beim Bedienen helfen musste, hatte er noch ein wenig Zeit. Sie liefen zum langgestreckten Unteruckersee hinunter, und nahe der Stelle, an dem das Flüsschen mit dem Namen Ucker den See wieder verließ, warf Gottfried Nickholz seine Angelrute aus. Den Blick auf die rotweiße Pose gerichtet, unterhielten sie sich leise.
„Oben in Vorpommern heißt die Ucker Uecker“, sagte Ernst Schering. „Weißt du das?“
„Nein, interessiert mich auch nicht.“
„Aber Kuhz könnte mal danach fragen.“
„Dieses Arschloch!“ rief Gottfried Nickholz.
In dieser Einschätzung ihres Lehrers waren sie sich beide einig. Auch darin, dass man ihm mal eins auswischen müsste. Die Idee dazu hatte dann Ernst Schering.
„Haste gesehen, was der für ´ne Angst vorm Gewitter hat.“
Der Freund nickte. „Ja, klar. Meinste, ich bin blind!?“
„Na, wenn er solche Angst vorm Gewitter hat, dann müssen wir eben dafür sorgen, dass es bei ihm vorm Fenster ein mächtiges Gewitter gibt!“ rief Ernst Schering.
„Pssst!“ zischte Gottfried Nickholz. „Die Fische beißen nicht, wenn de so schreist!“ Dann tippte er sich gegen die Stirn. „Wie willste denn dafür sorgen, dass es ein Gewitter gibt: Vielleicht in die Kirche gehen und beten?“
„Nein“, beharrte Ernst Schering. „Aber wir können doch einen Böller basteln und den bei ihm vorm Fenster losgehen lassen, das ist doch auch wie Blitz und Donner.“
„Gute Idee!“ Gottfried Nickholz war begeistert. „Und das Pulver dafür, das besorge ich mir von Alchemisten-Fritze, den kenn´ ich ganz gut. Wenn ich dem ein paar Fische für sein Abendbrot schenke, dann tut der uns den Gefallen.“
Als Gottfried Nickholz nach einer Stunde ein paar Barben und Elritzen im mitgebrachten Eimer hatte, machten sie sich auf den Weg zur Holtz´schen Apotheke, wo der Alchemisten-Fritze gerade damit beschäftigt war, einem kleinen Jungen das Laufen beizubringen. Sie trugen ihm ihr Anliegen vor.
Friedrich Krumbeck grinste. „Wenn ihr inzwischen auf den Jungen aufpasst, auf den Julius, besorge ich euch, das was ihr braucht, damit es richtig knallt und blitzt.“
Nach ein paar Minuten kam er mit einem Tütchen Schwarzpulver und einer Handvoll roter Tonerde zurück. „Das mischt ihr, steckt es in eine Pappröhre, presst es zusammen, nehmt einen eingefetteten Bindfaden als Lunte und haltet ein Streichholz dran.“
Sie bedankten sich, schlichen sich in den Schuppen der Schering´schen Gastwirtschaft und machten sich ans Basteln. Schwer war das Herstellen eines mächtigen Böllers für zwei geschickte Jungen wie sie nun wahrlich nicht, und sie waren schon fertig, bevor die Sonne nach Templin zu hinter den Kiefern versank.
„Wir müssen warten, bis es halbwegs dunkel geworden ist“, sagte Ernst Schering. „Sonst ist der Effekt nicht eben groß.“
„Nun gut.“
Sie verabredeten sich für 10 Uhr abends, und als die Kirchturmuhren von St. Jacobi und St. Marien fast zeitgleich schlugen, kletterten sie aus den Fenstern ihrer Schlafzimmer und schlichen sich zur Grabowstraße, wo Ludwig Kuhz, ein Hagestolz, also bekennender Junggeselle, allein mit seiner Haushälterin in einem einstöckigen Häuschen wohnte. Wo sein Zimmer lag, das wussten sie, weil er sich gern von seinen Schülern, hatte man eine Klausur geschrieben, die prall gefüllte Tasche nach Hause tragen ließ.
Unter dem Zimmer des Lehrers angekommen, machten sie sich ans Werk. Gottfried Nickholz hielt den Böller in der Hand, Ernst Schering riss ein Streichholz an und hielt die Flamme an die Lunte. Sie fing sogleich Feuer und begann abzubrennen. Mit ein paar schnellen und absolut lautlosen Schritten war er am Fensterbrett und legte den Böller auf das Zinkblech. Dann lief er zurück.
„Drei … zwei … eins“, zählte Ernst Schering.
Gleich würde es blitzen und donnern und Kuhz mit einem Aufschrei hochfahren und sich gar nicht mehr einkriegen.
Doch nichts geschah.
Gottfried Nickholz wartete einen Augenblick, dann sprang er zum Fensterbrett, um den Böller hochzunehmen und zu sehen, warum die Sache nicht funktionierte hatte.
Als er ihn in der Hand hatte, gab es eine mächtige Explosion.