Читать книгу Der König vom Feuerland - Horst Bosetzky, Uwe Schimunek - Страница 5
Prolog 15. März 1854
Оглавление»Borsig!«, stöhnte Ludwig Rellstab, wieder einmal bei Varnhagen von Ense eingeladen. »Hören Sie auf mit unserem König der Lokomotiven! Ich soll für die Vossische Zeitung zu seinem fünfzigsten Geburtstag im Juni eine ganze Seite über ihn schreiben, ein umfassendes Lebensbild entwerfen – und habe bis jetzt nicht eine einzige Zeile zu Papier gebracht.«
»Da geht es Ihnen wie mir«, fügte Friedrich von Gräbendorff an. »Ich sitze an der Rede, die mein Minister bei der großen Feier am 25. dieses Monats halten soll.«
Karl Varnhagen von Ense brauchte einige Sekunden, bis ihm die Zusammenhänge klargeworden waren. »Sie meinen also unseren preußischen Handelsminister August von der Heydt. Geht es um Borsigs fünfhundertste Lokomotive?«
Der Assessor nickte. »So ist es. Aber ich bekomme das Phänomen August Borsig nicht in den Griff, ich verstehe nicht, wieso ausgerechnet dieser Mensch zu dem geworden ist, was er heute ist. Es hätte eigentlich nicht sein dürfen. Aller Logik zufolge hätte es dieser Mann höchstens bis zum Meister einer kleinen Zimmerei im hintersten Winkel Preußens bringen können.«
»Versuchen Sie es mit dem Begriff telos!«, riet ihm Gottfried Keller, der aufmerksam zugehört hatte.
»Pardon, wenn Sie mir bitte einmal …« Friedrich von Gräbendorff war Jurist und wusste mit dem Begriff telos nichts anzufangen.
Gottfried Keller war so weit mit allen philosophischen Grundbegriffen vertraut, dass er ihm in knappen Worten erklären konnte, worum es hierbei ging: »Aristoteles zufolge hat alles ein telos, ein ihm eigenes Ziel, und strebt an, es zu erreichen – mit anderen Worten, das zu werden, was ihm vorgegeben ist. Eine Eichel hat das telos, eine Eiche zu werden. Das ist ihr Endzweck. Ein immanenter Endzweck ist Bestandteil der Grundstruktur aller Wirklichkeit.«
»Ah …«, machte von Gräbendorff, und es war ihm deutlich anzusehen, dass er noch immer nicht so richtig verstand, was es mit der Teleologie auf sich hatte.
Varnhagen versuchte, ihm mit einem Scherz auf die Sprünge helfen. »Ich schlendere die Linden hinunter und treffe meinen Freund Samuel Goldstein mit seinen beiden Enkelkindern. Wie alt denn die Kleinen seien, will ich wissen. Antwortet Goldstein: ›Der Leibarzt des Königs ist fünf, der Geheime Oberregierungsrath wird sieben.‹«
Ludmilla Assing, Varnhagens Nichte, die Gottfried Keller wie auch den Assessor ins Haus gebracht hatte, verfolgte eine ähnliche Spur. »Das erinnert mich an Calvins Prädestinationslehre. Die Geschichte wird bedingt durch die Errettung der Auserkorenen und die Bestrafung der Zurückgewiesenen. Für Calvin bleibt es unergründlich, warum Gott in der Vorhersehung die einen zum Glück und die anderen zum Verderben bestimmt.«
Varnhagen verzog ein wenig das Gesicht. »Warum denn alles so verkomplizieren! Es war ganz einfach die Zeit, die Menschen wie Borsig hervorgebracht hat. Die entscheidenden Erfindungen waren außerhalb Preußens gemacht worden, und wenn wir nicht hinter alle anderen Staaten zurückfallen wollten – insbesondere hinter England –, musste in unserem Lande etwas geschehen, mussten wir Verkehr und Maschinenbau entwickeln. Beuth hat das als Erster begriffen, und ohne Beuth hätten wir keinen Borsig. Es lag ganz einfach in der Luft.«
Seine Nichte wollte sich damit nicht zufriedengeben. »Schön und gut, lieber Onkel, doch diese Rolle, diese Aufgabe hätten auch hundert andere übernehmen und erfüllen können. Warum aber gerade unser Borsig?«
Ludwig Rellstab, der August Borsig schon einige Male begegnet war, hatte eine zusätzliche Erklärung parat: »Weil er ein Besessener ist!«
Gottfried Keller nickte. »So ist es. Letztlich siegen immer die, die von einer Idee oder einer Mission besessen sind, die voller Hingabe an die für sie heilige Sache sind und alles andere in ihrem Leben nur diesem einen großen Ziel unterordnen.«
Varnhagen lachte. »Da spricht jemand aus Erfahrung!« Alle wussten, dass der Schweizer jeden Tag und jede Nacht in seiner kleinen Wohnung am Gensdarmen-Markt saß und in qualvoller Arbeit seinen Roman Der grüne Heinrich zu vollenden suchte.
»Langsam beginne ich zu begreifen«, sagte von Gräbendorff.
»Wie schön«, sagte Ludmilla Assing, wobei sie sich des spöttischen Tons nicht ganz enthalten konnte. »Auch wenn alles letztendlich unbegreiflich ist. Soweit ich August Borsig kenne, ist er nicht ganz frei von Selbstüberhöhung.«
Varnhagen konnte nicht anders, als ihr zuzustimmen. »Ganz recht. Ich erinnere nur an die Frage eines Besuchers, warum er denn am Eingang zum Fabrikgelände keine Statue des Königs habe aufstellen lassen, sondern die eines Schmiedes. Die Antwort: ›Hier passt kein König her, hier ist der Schmied der König.‹ Wobei anzumerken ist, dass sich Borsig selbst in erster Linie immer als Schmied gesehen hat und nicht als Zimmermann, Maschinenbauer oder Fabrikherr.«
Gottfried Keller blickte zu Ludmilla Assing hinüber. »Das wäre doch ein Roman für Sie …«
Varnhagens Nichte winkte ab. »Nein, eher für Sie oder unseren wackeren Rellstab hier. Ich schlage den Titel vor: Mutmaßungen über Borsig.«
»Ich bin in erster Linie Musikkritiker und Dichter!«, rief Ludwig Rellstab.
Auch Gottfried Keller winkte ab. »Ich habe mit Der grüne Heinrich genug zu tun, und dann sind Die Leute von Seldwyla an der Reihe. Außerdem bin ich kein Preuße.«
Varnhagen lachte. »Schiller war auch kein Franzose und Goethe kein Holländer, und sie haben trotzdem Die Jungfrau von Orleans und Egmont zu Papier gebracht.«
Der Assessor stieß einen tiefen Seufzer aus. »Das alles kann ich doch meinen Minister nicht referieren lassen! Er ist Bankier von Hause aus.«
Ludmilla Assing, die als Feuilletonistin und Romanautorin viele Erfahrungen gesammelt hatte, wusste einen Ausweg. »Gehen Sie bei Borsig vorbei und lassen sich von ihm erzählen, wie das alles gewesen ist in seinem Leben. Sie brauchen ja nicht damit anzufangen, wie er in der Wiege gelegen hat und was er als Knabe alles so gedacht und gemacht hat.«
»Eine vortreffliche Idee!«, sagte Varnhagen. »Aber so viel Aufwand für ein paar Worte des Ministers? Dazu ist unser lieber Borsig doch viel zu beschäftigt, als dass er die Zeit dafür hätte.«
»Ich komme mit!«, rief Ludwig Rellstab. »Bei mir wird er nicht so leicht ablehnen können. Und ich kenne einige Leute, die uns die Türe öffnen könnten, Heinrich Strack zum Beispiel, seinen Hofarchitekten.«
Friedrich von Gräbendorff bedankte sich und verließ, Ludwig Rellstab im Schlepp, die kleine Gesellschaft, um in das Dienstgebäude des Handelsministers zurückzukehren, in die ehemalige Gold- und Silbermanufactur in der Wilhelmstraße 79. Dort war es in letzter Zeit sehr laut, denn das Gebäude wurde nach Plänen von Friedrich August Stüler um ein Stockwerk erhöht. An seinem Schreibtisch angekommen, läutete er nach dem Bureaudiener und fragte das devote Männlein, ob etwas Wichtiges anliegen würde. Das war nicht der Fall.
»Gut, dann bin ich den Nachmittag über außer Haus. Sollte der Herr Minister nach mir fragen, so richten Sie ihm bitte aus, dass ich wegen der Rede zur fünfhundertsten Borsig-Lokomotive unterwegs bin.«
Damit verließen die beiden Männer das Ministerium und schlenderten zum Gensdarmen-Markt, denn es war zu vermuten, dass sich Heinrich Strack zu dieser Zeit im Café Stehely aufhalten würde. Und richtig, er saß dort im Roten Salon an einem der hinteren Tische und war in die Lektüre der Vossischen Zeitung vertieft. Rellstab trat näher, entschuldigte sich für die Störung, stellte von Gräbendorff vor und bat, kurz sein Anliegen vortragen zu dürfen.
»Aber natürlich!«, rief Heinrich Strack, hörte sich alles an und versprach, mit Borsig in den nächsten Tagen zu reden. »Ich vermute einmal, dass der Gute sich geschmeichelt fühlen und Ihrem Besuch zustimmen wird.«
Keine Woche später saßen sie August Borsig in dessen Moabiter Villa gegenüber und fragten ihn, wie denn wohl bei ihm alles angefangen und seinen Lauf genommen habe.
»Nun, meine Herren …« Borsig schloss die Augen, um sich zu sammeln. »Ich sehe alles noch genau vor mir … Auch wie ich als Kind durch die Werkstatt meines Vaters laufe und mir überall Splitter einreiße … Aber ich will nicht zu weit ausholen … Die Zeit der französischen Besatzung lassen wir am besten beiseite und beginnen erst mit den Tagen, da ich schon ein reifer Knabe war, dreizehn Jahre alt, und mich darin übte, ein tüchtiger Zimmermann zu werden. Anderes schien in meiner Familie auch gar nicht möglich. Nun denn, wir schreiben das Jahr 1817 und begeben uns nach Breslau in die Neudorfstraße …«