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Kapitel vier 1823

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Seit Beginn der Demagogenverfolgung, die nach der Ermordung des Dichters August von Kotzebue – er galt als Gegner demokratischer Freiheiten – am 7. Juli 1819 eingesetzt hatte, stagnierte in Berlin das öffentliche Leben. Die wichtigste Behörde war das Polizeipräsidium. Seit den Befreiungskriegen, in denen man um die zweihunderttausend Menschen in Berlin gezählt hatte, wuchs die Bevölkerungszahl von Jahr zu Jahr, und hinter London, Paris und St. Petersburg stand die preußische Residenz in der Rangliste der europäischen Metropolen an vierter Stelle. Während im politischen Bereich die liberalen Ideen radikal unterdrückt wurden, kamen sie in der Gewerbe- und Wirtschaftspolitik voll zur Geltung. Trotz aller Unterdrückung erlebten Wissenschaft und Bildung, Kunst und Kultur eine ihrer glanzvollsten Epochen. Berlin entwickelte sich langsam zur Industriestadt. Damit wuchsen auch die sozialen Probleme, und 1820 waren vor den Stadtmauern die ersten Mietskasernen entstanden. Der Salon von Karl August und Rahel Varnhagen von Ense galt als geistiger Mittelpunkt der Stadt. Am 3. März 1821 hatte man das von Karl Friedrich Schinkel geschaffene Nationaldenkmal für die Befreiungskriege auf dem Kreuzberg enthüllt. Am 18. Juni 1821 war Carl Maria von Webers romantische Oper Der Freischütz uraufgeführt worden. Im gleichen Jahr hatte Schinkel den Neubau des Schauspielhauses am Gensdarmen-Markt vollendet, und am Oranienburger Thor konnte die Eisengießerei und Maschinenfabrik von Franz Anton Egells ihren Betrieb aufnehmen.

So war das Berlin beschaffen, in das August Borsig am 1. Oktober 1823 seinen Einzug hielt. Am Alexanderplatz stieg er aus der Postkutsche, und das lange Sitzen hatte seine Glieder so steif werden lassen, dass seine ersten Schritte auf dem harten Berliner Pflaster sehr unbeholfen wirkten und er wie ein alter Mann aussah und nicht wie ein junger Spund, der gekommen war, die Welt zu erobern.

Berlin war sicher eine ganz besondere Stadt, aber das ließ ihn nicht vor Ehrfurcht erstarren, denn schließlich kam er aus Breslau und nicht vom Dorfe. Aber die Leute waren doch irgendwie anders.

»Kannst du mir bitte mal sagen, wie ich zur Münzstraße komme?«

Der Schusterjunge, den er angesprochen hatte, grinste. »Klar kann ick det, denn wenn ick det nich könnte, wär ick ja janz schön mit’m Klammerbeutel jepudert. Det is also ’ne Beleidigung, det Se mir det nich zutrau’n.«

Borsig brauchte einen Augenblick, um mit dieser Logik zurechtzukommen. »Muss ich also in diese Richtung?« Er zeigte nach Süden.

»Nee, hier nach Westen. Erst kommt die Alexanderstraße, die ham Se direkt vor da Neese, und dann die Münzstraße.«

Borsig bedankte sich, schulterte die Kiste mit seinen Siebensachen und machte sich auf den Weg. Bald hatte er das zweistöckige Haus der Witwe Järschersky erreicht, in dem ihm die Berliner Schule ein Zimmer reserviert hatte. Der Name irritierte ihn nicht, denn in Breslau gab es viele, die ein -ky am Ende hatten: Brohasky, Ciazynsky, Damretzky, Domschikowsky, Galetschky, Labitzky, Panowsky oder Websky. Es waren eine ganze Menge -ky’s, an die er sich erinnern konnte.

Luise Järschersky ging auf die siebzig zu und kam aus der französischen Kolonie in Berlin, wie sich an ihrem Mädchennamen Grolleau leicht erkennen ließ. Geheiratet hatte sie den Holzhändler Johann Järschersky, der aus Ostpreußen nach Berlin gekommen war. Ihr Vorbild war die stadtbekannte Madame Du Titre, mit der sie auch befreundet war. Beide sprachen noch fließend französisch, liebten aber den urwüchsigen Berliner Dialekt und konnten komisch erzählen. Etwa in der Art, wie Madame Du Titre dem König nach dem Tod seiner Luise ihr Mitgefühl ausgedrückt hatte: »Ja, Majestätken, et is schlimm for Ihnen. Wer nimmt ooch jern een Witwer mit sieben Kinderkens?«

Die Witwe Järschersky hieß August Borsig herzlich willkommen. »Ach du meine Jüte, drei Bonbons in eene Tüte! Sie sind nun schon der dritte Jast aus Breslau, den ick hier bemuttan darf. Erst war et der Friedrich von Gentz, aber der ist ja ab in det jlückliche Österreich, und denn der Herr Schleiermacher, aber wat der so rumspinnt, det is mir allet höchst schleierhaft.« Dann verwies sie auf ihre Nähe zu Madame Du Titre und hatte auch gleich noch eine Anekdote bereit, die man sich von ihrer Freundin erzählte: »Sie hat Joethe schon imma bewundert, und als er vor ’n paar Jahre in Berlin war, hat er ooch von ihr jehört. Als er ihr uff de Straße sieht, da will er ihr verwirren und fragt: ›Kennen Sie mich?‹ Da macht sie janz ehrfürchtich ’n Knicks und ruft: ›Jroßer Mann, wer sollte Ihnen nich kennen: Fest gemauert in der Erden/steht die Form, aus Lehm gebrannt!‹«

Borsig ging es wie ein Mühlrad im Kopf herum, und er zog sich erst einmal in sein Zimmer zurück, um wieder etwas zu sich zu kommen. Erschöpft warf er sich auf das Bett. Seine Gefühle waren höchst zwiespältig. Einerseits fühlte er sich einsam und verlassen und sehnte sich nach seiner Familie, nach Marie, nach Kiesewetters Zimmerei, andererseits aber war er froh und glücklich, ein neues Leben zu beginnen, war er neugierig auf die Preußenresidenz. Er fühlte sich wie ein Schauspieler, der auf der Breslauer Bühne zehn Jahre lang einen Zimmermann gespielt hatte und sich nun freuen konnte, dass es in Berlin andere Rollen für ihn gab.

Er mochte eine Stunde tief und fest geschlafen haben, als jemand an seine Zimmertür klopfte. Es war Wilhelm Järschersky, der Sohn seiner Wirtin, und der wollte ihn fragen, ob er morgen mit ihm durch Berlin spazieren und den Cicerone spielen dürfe.

»Gerne. Aber haben Sie denn die nötige Zeit dafür?«

Wilhelm Järschersky lachte. »Aber ja, ich bin Student, und bei uns hat das neue Semester noch nicht so richtig angefangen – jedenfalls nicht für mich.«

Erst als der Studiosus wieder gegangen war, bemerkte Borsig die Zeichnung, die über seinem Bett hing. Sie zeigte einen jungen Mann, der am Brandenburger Thor aus der Postkutsche stieg und frohgemut Berliner Boden betrat. Darunter stand: Schicksal, ick erwarte dir!

Egells bedauerte zu keiner Zeit, dass er sich vor zwei Jahren mit staatlicher Unterstützung selbständig gemacht hatte. Gemessen an dem, was er in England gesehen hatte, war seine Maschinenanstalt nur eine kleine Klitsche und mehr Manufactur als Fabrik. In der Lindenstraße betrieb er eine kleine Eisengießerei und in der Mühlenstraße, der späteren Obentrautstraße, eine Schlosserwerkstatt. Viel warf das alles noch nicht ab, und immer wieder ging ihm ein Ausspruch seiner Mutter durch den Kopf: »Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen.« Er baute alles, was irgendwie denkbar war, und erwarb sich schnell einen guten Ruf als Konstrukteur. Besonderen Erfolg hatte er mit einer gedrungenen und raumsparenden Dampfmaschine, einer sogenannten Bügelmaschine.

Einer seiner besten Leute war Johann Friedrich Ludwig Wöhlert, ein Tischler aus Kiel, der 1818 nach kurzer Wanderschaft nach Berlin gekommen war. Er sah heute Morgen etwas müde aus.

»Na, Wöhlert, gestern wieder zu lange auf den Spuren Ihres Vaters gewandelt?« Der war Brauer.

»Nein, ich habe nur mit geschlossenen Augen nachgedacht. Fragt mich gestern ein Constabler, mit dem ich ins Gespräch gekommen war, ob unsere Bügelmaschine nicht was für seine Frau wäre. ›Wir haben acht Kinder und so viel Wäsche!‹ Da frage ich mich, ob man nicht wirklich etwas bauen kann, das mit heißem Dampf die zerknitterten Wäschestücke glättet …«

»Hm …« Egells dachte nach. »Möglich erscheint mir das schon, aber die Leute müssten dafür statt ihrer Küche kleine Säle zu Hause haben.«

Auch Egells, ansonsten ein rastloser Arbeiter, war heute etwas müde. Schließlich war er jungverheiratet, und seine Anna Elisabeth Sabina, Tochter des Porzellanmalers Peter Angelé, hatte ihm vermittelt, dass ein Bett auch anderem als der bloßen Nachtruhe dienen konnte.

Gegen Mittag ließ sich Beuth in der Lindenstraße sehen. Egells hieß seinen Freund und Förderer herzlich willkommen.

»Na, willst du sehen, ob sich die Gelder, die Preußen hier investiert hat, auch verzinsen werden?«

Beuth lächelte. »Alles, was wir jetzt für die Industrialisierung unseres Landes tun, wird sich später einmal auszahlen. Nein, ich komme, um zu hören, wie es mit dem Umzug in die Chausseestraße vorangeht.«

»Wir werden erst nächstes Jahr alles unter Dach und Fach haben, aber wir kommen mit allem gut voran.«

»Das freut mich zu hören«, sagte Beuth. »Die Königliche Eisengießerei ist ja schon seit nahezu zwanzig Jahren dort zu Hause, und ich hoffe, dass sich in der Gegend nordöstlich des Oranienburger Thores – Chausseestraße, Zollmauer, Garten- und Liesenstraße – bald viele Eisengießereien und Maschinenbau-Anstalten ansiedeln werden. Aus Dutzenden von Schornsteinen sehe ich Rauch in den Himmel steigen.«

Bis der Unterricht in Beuths Institut begann, hatte August Borsig noch zwei Wochen Zeit, sich mit Preußens Residenz vertraut zu machen, und einige Male zog er auch mit Wilhelm Järschersky durch Berlin, das gerade einen wunderbaren Altweibersommer erlebte. Die Damen, die nachmittags Unter den Linden spazieren gingen, hatten zum Teil noch ihre bunten Sonnenschirme aufgespannt, und der Thiergarten zeigte weiterhin ein sattes Grün. Die wenigen Blätter, die von den Linden und Kastanien zu Boden schwebten, fielen nicht weiter ins Gewicht.

Zuerst ging es zum Schloss der Hohenzollern, und Järschersky geriet so ins Schwärmen, dass es Borsig fast zu viel wurde. Denn so recht imponieren wollte ihm das Gebäude nicht, schließlich war auch das Breslauer Schloss keine Hundehütte. Er hörte erst wieder richtig zu, als Järschersky vom Grünen Hut zu erzählen begann.

»Dieser kleine Turm, den du dort oben siehst, ist der Grüne Hut. Er ist ein Überbleibsel der alten Burg, die hier gestanden hat, und diente bis 1648 als Gefängnis. Ganz unten im Turm stand die Eiserne Jungfrau, eine Frauengestalt aus Eisen. Die weitgeöffneten Arme waren als Schwerter ausgebildet, und im Leib befanden sich links und rechts scharfe Messer. Wurde einer zum Tode verurteilt, musste der vor der Eisernen Jungfrau auf eine steinerne Platte treten und sie küssen. Dadurch wurde ein Mechanismus ausgelöst, und die Arme umfingen ihn, pressten ihn gegen die Messer und zerschnitten seinen Körper. Die einzelnen Stücke der Leiche fielen dann durch eine Klappe runter in die Spree – und die Fische und die Krebse hatten was zu fressen.«

Borsig schüttelte sich und war in den kommenden Wochen nur schwer dazu zu bewegen, Fische aus der Spree zu essen. Weniger gruselte ihm vor der Weißen Frau, dem Schlossgespenst der Hohenzollern, bei dem es sich um Anna Sydow handeln sollte, eine Gespielin des Kurfürsten Joachim II. Kaum war der verstorben, beraubte sein Sohn die »schöne Gießerin« all ihrer Güter und Kleinodien und ließ sie auf die Festung Spandau bringen, wo sie nach harter Behandlung verstarb. Sie kam aber im Grab nicht zur Ruhe und wurde zur Todesbotin der Hohenzollern. Jedes Mal, wenn sich ein Landesherr anschickte, einzugehen in die Ewigkeit, erschien sie im Berliner Schloss.

»Da bin ich ja mal gespannt«, sagte Borsig, dessen Liebe zum König sich in Grenzen hielt, hatte sich doch Friedrich Wilhelm III. seiner Meinung nach im Kampf gegen Napoleon am Anfang recht dämlich angestellt.

»Weiter zum Opernhaus«, sagte Järschersky, »mit dessen Bau 1741 begonnen worden ist. Die Pläne stammen von Knobelsdorff, aber Friedrich der Große soll da auch ein Wörtchen mitgeredet haben. 1742 gab es die erste Opernaufführung, später auch Maskenbälle.«

»Ah ja …« Borsig erinnerte sich an Breslau, wo der Geheime Rath Ludger von Krauthausen als Nero gegangen war.

Weiter ging es zum Forum Friedericianum, zur Hedwigskirche und zum Prinz-Heinrich-Palais, wo sie einen Augenblick innehielten.

»Prinz Heinrich ist 1802 gestorben, und aus seinem Palais ist die Berliner Universität geworden, die Alma mater berolinensis, die Friedrich-Wilhelms-Universität. Im Oktober 1810 hat es hier die ersten Lehrveranstaltungen gegeben.«

Borsig lachte. »Das haben wir in Breslau auch, die Schlesische Friedrich-Wilhelms-Universität mit fünf Fakultäten.«

»Und warum hast du nicht versucht, dort zu studieren?«

Borsig winkte ab. »Das ist mir alles viel zu trockenes Zeug.« Nein, in keiner Sekunde seines Lebens hatte er daran gedacht, sich an einer Universität einzuschreiben.

»Das Ende des Forum Fridericianum bildet die Königliche Bibliothek«, sagte Järschersky und zeigte auf ein Gebäude mit einer merkwürdig geschwungenen Fassade. »Weißt du, wie die Berliner sie nennen?«

»Nein, woher denn?«

»Kommode. Weil das Gebäude wie eine Kommode aussieht. Die Leute erzählen sich, dass der König sich mit dem Baumeister Georg Christian Unger über den Neubau gestritten hat, und als sie zu keiner Einigung gekommen sind, hat er auf seine Kommode gezeigt und gesagt: ›So wie das Ding da ist, so will ich, dass Er die Bibliothek errichtet!‹ In Wirklichkeit aber soll die Idee aus Wien stammen, von einem gewissen Erlach.«

Auf der anderen Seite der Straße Unter den Linden gab es die Bauten um den Lustgarten, das Zeughaus und Schinkels Königswache zu bestaunen. Dessen strenge, klare und nüchterne Form faszinierte Borsig.

»Wenn wir Glück haben, kannst du Schinkel sehen«, sagte Järschersky. »Hinten am Lustgarten und an der Spreebrücke arbeiten sie gerade am Fundament seines Museums. Um das Fundament zu gewinnen, wird ein alter Arm der Spree zugeschüttet, und sie rammen viele tausend Pfähle in den Boden. Ein mächtiger Bau soll es werden, mit einer langen, hohen Säulengalerie an seiner Front.«

Sie liefen hin und hatten Glück, denn der Oberbaurath Schinkel stand tatsächlich gerade mit einigen Aufsehern zusammen und erklärte denen anhand eines riesigen Planes, was zu tun war. Stumm und anbetend stand Borsig da. Ein Mann, der sich anschickte, so etwas Großartiges zu schaffen wie ein Museum, das den Bauten Griechenlands in nichts nachstehen würde, der war ein Gott für ihn.

Noch größer wurde seine Bewunderung für Schinkel, als sie auf dem Gensdarmen-Markt standen und ihr Blick zum Schauspielhaus hinüberging.

»Das alte Haus ist 1817 abgebrannt«, wusste Järschersky zu erzählen, »und Schinkel hat 1819 und 1820 ein neues an seine Stelle gesetzt. Anderthalbtausend Zuschauer gehen rein, und hier am Fries kannst du gleich einmal Latein lernen: Fridericus Guilelmus III. Theatrum et Odeum incendio consumta majore cultu restituit 1821. Das bedeutet?«

»Friedrich Guelemus hat das Theater 1821 dreimal mit Major Cultu zusammen besucht«, riet Borsig.

Järschersky wusste es besser. »Friedrich Wilhelm III. hat das abgebrannte Schauspielhaus und den Concertsaal in größerer Pracht wiederhergestellt 1821.« Er lachte. »Du solltest anfangen, Latein zu lernen!«

»Dann schon lieber Englisch, denn die Engländer geben jetzt überall den Ton an und nicht mehr die alten Römer.« Dabei stieß Borsig einen Seufzer aus. »Jetzt bin ich aber wirklich erschöpft! Wo habt ihr denn hier in Berlin einen schönen Kretscham?«

»Einen was?«

»Ein Gasthaus. Ein Königreich für ein Schweidnitzer Schöps oder ein Gottesberger Pils!«

Destillen und Budiken gab es genügend in Berlin, und bald hatten sie ihren Durst gestillt.

Am nächsten Tag ging es dann durch die weniger repräsentativen Teile der Stadt und durch Straßen, in denen Läden, Werkstätten und Manufacturen zu finden waren. Hinter verrußten Scheiben begann es plötzlich rot aufzuglühen. Das dumpfe Dröhnen eines Vorschlaghammers war zu hören, und heller klang es, wenn ein kleinerer Hammer auf den Amboss schlug. Aus den Schornsteinen quollen dunkle Rauchwolken in den herbstlich verschleierten Himmel. Aus düsteren Thorwegen kamen Männer mit blauen Arbeitshemden heraus, ein Schurzfell um die Hüfte gebunden. Was hier entstand, war nicht so prunkvoll und gigantisch wie das, was Schinkel schuf, aber es war für August Borsig eine ebenso hohe Kunst. Irgendwie fühlte er, dass Eisen und Maschinen die Welt alsbald beherrschen würden und Schinkels Bauten dann nur Beiwerk waren.

In der Mauerstraße las Borsig an einem der Häuser den Namen Julius Conrad Freund und ließ sich von Järschersky erzählen, dass Freund von Uthfelde an der Weser nach Berlin gekommen war, um als Lehrling in die Dampfmaschinenwerkstatt seines Bruders einzutreten. »Brillengläser hat er anfangs geschliffen. Dann ist der Bruder gestorben, und mit achtzehn Jahren hat er die Werkstatt übernommen.«

Borsig staunte, was einem preußischen Untertanen alles möglich war, wenn er diese Karte spielte, die Karte des Maschinenbaus. Ein Zimmermannsgeselle wie er konnte niemals General werden oder Minister des Königs, niemals Landjunker oder Professor, aber Werkstattbesitzer und vielleicht einmal – wenn sich die Dinge in Preußen so entwickelten wie in England – ein Fabrikherr, der reich und mächtig war und vor dem König nicht demütig in die Knie gehen musste.

Während er dies dachte, waren sie in die Lindenstraße eingebogen, und dort fiel sein Blick auf ein Haus, das in großen Buchstaben den Namen F. A. J. Egells trug. Er stand lange davor und sah zu, wie hinter den Scheiben Lichter und Flammen gelb und rötlich aufzuckten. Drinnen quoll das flüssige Eisen aus dem Ofen oder den Gießpfannen in die Formen. Er musste unwillkürlich an die Zeichnung denken, die über seinem Bett in der Münzstraße hing: Schicksal, ick erwarte dir!

»Du, ich glaube, das flüssige Eisen und die Maschinen, die daraus entstehen, die sind mein Schicksal!«

Wilhelm Järschersky lachte nur. »Ich dachte auch, die Philosophie und die Theologie seien mein Schicksal, als ich Schleiermachers Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen gelesen hatte – aber denkste! Wie meine Mutter sagen würde: Doof bleibt doof, da helfen keene Pillen. Ich versteh das alles nicht, was die da sabbeln, und ich werde nie Philosophieprofessor oder Pfarrer werden, da habe ich absolut auf die falsche Karte gesetzt und mich völlig überhoben. Das Einzige, wozu ich tauge, ist, Holzhändler zu werden – genau wie mein Vater. Und du solltest daraus deine Lehre ziehen: Nicht hoch hinauswollen, sondern schön auf dem Boden bleiben. Zimmermann, bleib bei deinen Balken!«

August Borsig litt unter Berlin, und er litt unter sich selbst. Die Stadt war ihm zu groß und zu abweisend. Er fand sich unerträglich, weil er Sehnsucht nach Breslau hatte, nach seiner Familie, nach Marie, und Angst vor dem Neuen, das da auf ihn zukam. Zimmermann, bleib bei deinen Balken! Wilhelm Järscherskys Warnung hatte er noch lange im Ohr. Er aber wollte nicht bei seinen Balken bleiben, sondern um alles in der Welt hin zum Eisen, hin zu den Maschinen aus Eisen. War das sein Glück, war das sein Untergang? Zu all den inneren Monologen und Qualen kam die Tatsache, dass er die Hohenzollernresidenz ziemlich langweilig fand. In die Oper und ins Theater zog es ihn nicht, und daneben gab es nichts, was ihn wirklich begeistert hätte – weder das Freischießen auf dem Berliner Schützenplatz noch eines der wenigen Volksfeste. Zur Schlachtfeier von Großbeeren wäre er schon gegangen, aber die hatte bereits am 23. August stattgefunden.

»Dein Gemütszustand lässt ja sehr zu wünschen übrig«, hatte Wilhelm Järschersky schnell erkannt. »Berlin ist dir nicht aufregend genug … Nun gut, mal sehen, was wir dagegen machen können.« Er überlegte einen Augenblick. »Warst du schon einmal bei einem Duell dabei?«

Borsig war erstaunt über diese Frage. »Nein. Ich dachte, die sind jetzt verboten.«

»Das sind Sie auch, und es gibt einige Jahre Festungshaft, wenn einer getötet wird, aber beim Adel und in der Armee drückt man schon mal beide Augen zu, wenn sich zwei Zu und Von duellieren. Die Ehre ist eben das Wichtigste.« Järschersky begann nun zu flüstern. »Ich weiß, dass es morgen früh um fünf im Thiergarten ein Duell geben wird. Waldemar von Schwanow ist von einem Neffen zum Zweikampf gefordert worden, dem Leutnant Ferdinand von Deichmann. Schwanow hat gesagt: ›Ich bin ein Mann, der auf dem Schlachtfeld Pulver gerochen hat – du aber nur im Bett das Puder deiner Mätressen.‹«

Borsig staunte. »Woher kennst du die denn alle?«

»Der von Schwanow hat ausgedehnte Waldungen und sein Holz immer an meinen Vater verkauft. Da sind wir oft bei ihm gewesen.«

Borsig schauerte es ein wenig. »Und die schießen richtig mit Pistolen aufeinander?«

»Ja, meinst du denn, die bewerfen sich mit Pferdeäppeln?«

Am nächsten Morgen, kaum hatte es von den Kirchtürmen vier Uhr geschlagen, liefen sie zum Thiergarten, um sich in der Nähe des Brandenburger Thores im Gebüsch zu verstecken – vor sich die Lichtung, auf der das Duell stattfinden sollte. Järscherskys Informationen waren richtig gewesen: Pünktlich erschienen die beiden Duellanten mit ihren Sekundanten. Wie schwarze Krähen kamen sie vom Hauptweg her. Einer der Begleiter trug einen Mahagoni-Koffer mit den Waffen. Es wurden einige Worte gewechselt, die Järschersky und Borsig in ihrem Versteck aber nicht verstanden. Die Distanz, über die der Schusswechsel gehen sollte, wurde vermessen. Dies geschah dergestalt, dass die beiden Sekundanten Rücken an Rücken standen und sich dann jeweils fünfzehn Schritte voneinander wegbewegten. Als die Standpunkte der beiden Schützen mit zwei armdicken Ästen markiert waren, wurde aber noch gewartet.

»Der Arzt ist noch nicht da«, flüsterte Järschersky.

Der erschien schließlich, und von Schwanow, der Ältere der beiden, und der Leutnant traten, ohne sich eines Blickes zu würdigen, an den aufgeklappten Mahagoni-Koffer, griffen zu den absolut gleichen Pistolen und schritten wie mechanische Puppen zu ihren festgelegten Positionen. Dabei wurden sie immer langsamer, als sei die Feder, mit der man sie aufgezogen hatte, abgelaufen. Borsig kam es so vor, als würden sie gar nicht ankommen wollen. Doch nichts ließ sie mehr aufhalten, und als sie ihre Markierungen erreicht hatten, machten sie wie auf Befehl gleichzeitig kehrt, so dass nun ihre Gesichter einander zugewandt waren. Der Lauf ihrer Waffe zeigte noch nach unten.

In der Mitte zwischen beiden, aber in sicherer Entfernung von der Schusslinie, stand der eine Sekundant mit einem weißen Tuch in der hochgereckten rechten Hand.

Järschersky zitterte vor Erregung. »Du oder ich! Sein oder Nichtsein!«

August Borsig schloss die Augen und dachte nur: Du sollst nicht töten! Am liebsten wäre er auf die Lichtung gestürzt, um die beiden Adligen an ihrem Tun zu hindern. Järschersky musste das gespürt haben, denn er drückte ihn fest auf den Boden.

Dann wurde das Tuch gesenkt, und der Neffe als Beleidigter hatte den ersten Schuss. Seine Kugel verfehlte die Brust von Schwanows.

Der aber traf.

Borsig sprang auf und lief in Richtung Straße. Järschersky folgte ihm. Als sie wieder in der Münzstraße waren und frühstücken wollten, kam ihnen die Witwe Järschersky schon im Hausflur entgegen, völlig aufgelöst.

»Bei uns is eingebrochen worden!«, rief sie ihnen zu.

Järschersky sah Borsig vorwurfsvoll an. »Das kommt davon, wenn man Berlin langweilig findet!«

Bei Borsig hatten sie nur ein paar Münzen mitgehen lassen, so dass ihn dieser Zwischenfall nicht besonders aufregte. Wilhelm Järschersky hingegen fehlte einiges an Geld, Gebrauchsgegenständen und Kleidungsstücken. Dieser Verlust führte dazu, dass er den ganzen Tag über schlechte Laune hatte und am Abend unbedingt um die Häuser ziehen wollte, um bei Bier und Schnaps sein Elend zu vergessen. Borsig schloss sich ihm ohne Zögern an, denn auch er fühlte sich schlecht. Sein Heimweh führte dazu, dass er Schlesisch sprach.

Wenns dann wird zum Saufa kumma, Do warn irscht die Bäuche brumma! Wein, dann warn ber wie Wosser scheppa, Saufa aus dan guldna Teppa. ’s Duppelbier werd niemals sauer, Denn dirt sein de besta Brauer.

Es ging feuchtfröhlich zu, und gegen Mitternacht hatte Borsig alle Weinkeller und Kneipen kennengelernt. Plötzlich war Järschersky verschwunden. Panik erfasste Borsig, denn es war stockfinster – wie sollte er nun in der fremden Stadt allein nach Hause finden? Eine Straßenbeleuchtung gab es nicht, nur an wenigen Häusern hingen Laternen. Das Pflaster war grob, und in den Rinnsteinen flossen die Fäkalien Richtung Spree. Um in die Häuser zu gelangen, musste man über ausgelegte Bretter laufen. Er stürzte, rappelte sich wieder auf, taumelte erneut und schaffte es, ein paar Schritte zu gehen, indem er sich an einer Hauswand festhielt. Zum ersten Mal in seinem Leben war er richtig betrunken. »Der Borsig, der Borsig«, grölte er, »der hat das ganze Leben noch vor sich.« Dann schlug er lang hin. Das Letzte, was er wahrnahm, war die Singuhr der Parochialkirche mit ihren 37 Glocken.

Als er wieder zu sich kam, lag er auf einer langen hölzernen Bank. Im ersten Augenblick dachte er, er würde sich in Beuths neuer Gewerbeschule befinden. Doch da wurde ein Betrunkener in den Raum geführt, der schrie, man möge ihn freilassen, da er sonst seinen Dienst verlieren würde. Ein Junge fiel im Schlaf auf die Erde und schrie fürchterlich. Ein elegant gekleideter junger Mann hielt seinen Pass in die Höhe und erklärte in gebrochenem Deutsch, er sei Engländer und niemand dürfe einen Untertanen Seiner Majestät festhalten.

»Na, nu jehm Se endlich Ruhe, Sie! Die andern wolln ooch schlafen.« In der Tür stand ein Aufseher, ein altgedienter Soldat, und rauchte ruhig seine Pfeife.

»Wo bin ich hier?«, fragte Borsig.

»In der Stadtvogtei, mein Guter.«

Am nächsten Morgen flog die Tür auf, und ein Constabler kam, um Borsig zum Verhör zu holen. Der erzählte seine Geschichte, und man entließ ihn mit der Warnung, Herrn Beuth, dem Staatsrath und Director der Technischen Deputation für Handel und Gewerbe, von seinem wüsten Treiben Mitteilung zu machen, wenn er noch einmal aufgegriffen und zum Molkenmarkt No. 2 gebracht würde.

Beuths Technische Schule war im Hause Klosterstraße 36 untergebracht, einem alten zweistöckigen Bau mit einer monotonen Fassade, und bestand im Grunde genommen nur aus zwei nicht eben großen Klassenräumen. Beuths Ziel war nicht eine Anstalt, in der die Massen ausgebildet wurden, sondern er setzte auf Qualität und wollte nur die Besten hier versammelt sehen. So hatte er dieses neue Lehrinstitut vor zwei Jahren mit nur dreizehn Schülern und vier Lehrern eröffnet und bestimmt, dass nie mehr als dreißig Schüler zugleich unterrichtet werden sollten.

Wer Beuth zum ersten Mal sah, hätte ihn für einen Dichter oder Komponisten halten können, beim Formulieren des Konzeptes aber hatte der Offizier in ihm Oberhand gewonnen, und so las sich die Präambel über Wesen und Aufgabe seines Institutes wie ein Befehl an seine Schwadron:

Der Unterricht wird kostenfrei erteilt. Die Disziplin ist streng. Nachlässige Schüler und solche, die dem Unterricht nicht folgen können, werden in den ersten Monaten entlassen, damit sie die Lehrer nicht ermüden und andern kein schlechtes Beispiel geben. Über denselben wissenschaftlichen Gegenstand wird in zwei aufeinanderfolgenden Stunden gelehrt. In der einen werden die Schüler über das in der vorigen Stunde Gelernte geprüft. In der anderen wird mit dem Unterricht fortgefahren. Geübte Schüler sollen Vorschüler (Repetitoren unter Aufsicht des Lehrers) sein.

Der Schüler August Borsig, nunmehr neunzehn Jahre alt, saß mit nicht ganz zwei Dutzend Gefährten in einem Klassenzimmer, das nüchtern und sachlich war und voll preußischen Geistes. Das Bild des Königs hing an der Wand, und Friedrich Wilhelm III. blickte streng auf seine jungen Untertanen – alles begabte Handwerker. Sie kamen aus allen seinen Provinzen, Berliner gab es nur wenige. Borsig konnte sich über seine Gefühle nicht ganz klarwerden. Einerseits war er stolz darauf, dass er Schlesien in diesem illustren Kreis vertreten durfte, andererseits litt er darunter, schon wieder die Schulbank drücken zu müssen. Viel lieber hätte er draußen seine Kräfte erprobt und geholfen, etwas Bleibendes zu schaffen.

Ein Lehrer trat ein, und Borsig fand, dass der Mann jämmerlich aussah – fast sehnte er sich nach Mistek, der wenigstens von der Statur her überzeugend gewirkt hatte. Ohne sich vorzustellen, die jungen Herren willkommen zu heißen und ihnen eine erfolgreiche Zeit an dieser Schule zu wünschen, betrat der Mann das Podium, klopfte mit dem Bleistift auf die Tischplatte und musterte die Anwesenden mit einem scharfen Blick. Dann nahm er ein eng beschriebenes Blatt aus einem blauen Aktendeckel und hielt mit schnarrender Stimme eine kleine Rede.

»Ich verlese die Satzungen, das Gesetz unserer Schule. Ohne Gesetz kein Staat, keine Schule, keine Ordnung. Wir Preußen wissen, was wir dem Gesetz schulden. Der Herr Oberfinanzrath Beuth hat unser Gesetz eigenhändig entworfen.« Er setzte die Brille auf und begann, mit der Stimme eines Dompredigers zu lesen:

Für die Zöglinge des Königlichen Gewerbe-Instituts.

Es ist die Pflicht der Zöglinge des Königlichen Gewerbe-Instituts, sich der Wohltat wert zu zeigen, welche der Staat ihnen durch Aufnahme angedeihen lässt. Diese Anstalt ist nur für sehr fähige, fleißige, ordentliche und moralische Menschen bestimmt; andere werden daraus entfernt. Ihr anzugehören soll eine Auszeichnung sein. Wahrer Gewerbefleiß ist nicht ohne Tugend denkbar. Das Gewerbe-Institut kennt keine andre Strafe, als Entfernung aus der Anstalt.

Diese erfolgt zu jeder Zeit und ohne weiteres:

1. Wenn die Fortschritte eines Zöglings nicht hinreichend sind, um den folgenden Unterricht zu verstehen, oder zu gering für eine Versetzung in die obere Klasse;

2. wenn der Zögling sich nicht der größten Sittlichkeit und des größten Anstandes befleißigt;

3. wenn der Zögling den Unterricht unter dem Vorwande von Krankheit oder ohne vorgängige Einwilligung der Herren Lehrer versäumt;

4. wenn der Zögling, welcher verpflichtet ist, sich eine Viertelstunde vor dem Anfange des Unterrichts im Gewerbehause einzufinden, im Laufe eines Lehrgangs sechsmal zu spät gekommen ist, d. h. nachdem die Stunde geschlagen hat.

»Aber Sträflingskleidung bekommen wir keine?«, murmelte der Zögling, der neben Borsig platziert worden war und auf dessen Namensschild Schäschke stand.

Der Lehrer setzte seine Brille ab und musterte die Versammelten mit dem scharfen Blick eines Criminal-Commissarius, der auf der Suche nach einem Schwerverbrecher war. Das Schweigen wurde immer beklommener. Der Lehrer entschied sich aber, nichts gehört zu haben, und legte das Blatt, von dem er abgelesen hatte, bedächtig in den blauen Aktendeckel zurück.

Borsig schloss die Augen und wünschte sich auf den Dachstuhl zurück, an dem Meister Kiesewetter gerade baute. Unten stand Marie und winkte zu ihm hinauf. In der Ferne zog sich das silberne Band der Oder Richtung Ostsee.

»Der eigentliche Unterricht beginnt nachmittags zwei Uhr.« Damit schritt der Lehrer würdig zur Tür.

Die Zöglinge traten auf die Klosterstraße hinaus und genossen die Herbstsonne, die in diesem Jahr ganz besonders mild war. Es war Zufall, dass Borsig neben Schäschke geriet.

»Wenn der Lehrer das mit der Sträflingskleidung gehört hätte, wärst du gleich geflogen«, sagte Borsig.

Schäschke zuckte mit den Schultern. »Das hätte dieser Sesselfurzer nicht gewagt. Mein Vater kennt zu viele hochgestellte Persönlichkeiten.«

Der alte Schäschke war Juwelier mit einem Ladenlokal in der Nähe des Berliner Schlosses, und Schäschke junior hatte Goldschmied gelernt.

Am Nachmittag erschien Beuth persönlich im Klassenzimmer, um seine Eleven zu begrüßen. Borsig war überrascht von seiner äußeren Gestalt, denn einen Lützow’schen Offizier hätte er sich kraftvoller vorgestellt, vor allem die dünne, helle Stimme des Geheimen Oberfinanzrathes irritierte ihn. Sein altväterlich weit geschnittener blauer Überrock war schon ziemlich abgetragen, da war wohl Friedrich der Große in seinen letzten Tagen in Sanssouci das Vorbild. Hochgewachsen war er und hager, hielt sich aber trotz seiner 42 Jahre noch immer militärisch straff. Den kleinen Kopf bewegte er schnell hin und her, und seine langen Haare wehten dabei durch die Luft wie die eines Kunstmalers oder Pianisten. Mit seinem Halstuch wirkte er auf August Borsig auch eher wie ein Künstler und nicht wie ein Beamter, der für Handel und Gewerbe zuständig war. Ein guter Redner war er, jedes seiner Worte war Aufruf und Mahnung. Er fing die Zöglinge damit ein, dass er von seiner Englandreise erzählte, von der er vor wenigen Tagen zurückgekehrt war.

»Deren hochstehendes Gewerbe hat mich über alle Maßen beeindruckt. Aber was die Engländer können, das können wir auch, wenn wir mit der ganzen Kraft des alten harten Preußentums in die Zeit der Maschinen hinübergehen. Der Fleiß der Gewerbe und der Wille der Handwerker, sich in die Pflicht nehmen zu lassen und Besseres und Vollkommenes zu leisten, sind unseres Glückes Unterpfand. Sich regen bringt Segen. Für jeden Einzelnen wie für unser ganzes Land. Unsere Zukunft wird eine glänzende sein, wenn Sie, meine Herren, in Ihrem Gewerbe glänzen.«

Seine klugen Augen ruhten sekundenlang auf jedem seiner Zöglinge, und Borsig fühlte sich von diesem Blick durchbohrt und bis in die tiefsten Tiefen seiner Seele durchschaut. Schäschke sollte später sagen, Beuth habe jeden derart magisch und intensiv angeblickt, um in ihm ein inneres Feuer zu entzünden.

Doch in August Borsig war dieses Feuer nicht zu entfachen. Im Gespräch, das Beuth mit jedem der Neuen führte, gab er an, Baumeister werden zu wollen und sein Vorbild sei Schinkel. Doch das stimmte nicht. Er war kein Künstler.

Der Herbst ging in den Winter über, die Tage in der Klosterstraße wurden immer trüber, und Borsig litt unter allem. Morgens musste er, wie die Witwe Järschersky es ausdrückte, schon vor dem Wachwerden aufstehen, und oft hetzte er ohne Frühstück durch die dunklen Gassen zum Gewerbehaus. Am schlimmsten war es, wenn von der nahen Spree her die nasskalten Nebelschwaden durch die Straßen zogen. Die Angst, zu spät zu kommen, und der harte preußische Stil nahmen ihm jede Freude am Leben. Beim Einbiegen in die Klosterstraße hörte er das helle, blecherne Gebimmel der Schulglocke. Er war nie ein guter Läufer gewesen und wog auch zu viel, jetzt musste er das Letzte aus seinem Körper herausholen. Atemlos kam er oben an, eine halbe Minute zu spät. Der Lehrer Gänsicke begrüßte ihn wortlos mit einem Blick, der seine ganze Missbilligung zum Ausdruck brachte, griff nach seiner Liste und machte hinter dem Namen Borsig ein Kreuz. Das dritte schon. Beim sechsten flog man von der Gewerbeschule. Als ersten Zögling hatte es gestern den Mechaniker Buttgereit aus Königsberg erwischt.

In der ersten Stunde hatten sie Chemie, und Gänsicke zögerte keinen Augenblick, sich die Zuspätkommer vorzuknöpfen.

»Borsig, sagen Sie uns doch einmal, was Sie über die Theorie der Oxidation wissen, wie sie von de Lavoisier aufgestellt worden ist.«

»Ja, also …« Nichts wusste er von ihr, denn als sie gestern davon gesprochen hatten, war er mit seinen Gedanken dabei gewesen, eine riesige Kuppel für Schinkels neues Museum zu entwerfen.

Alles, was reine Wissenschaft war, und insbesondere die Chemie verabscheute er. Er wollte etwas mit seinen Händen schaffen, egal nun, ob es Holz, Stein oder Eisen war. Was nützte es ihm da zu sehen, wie sich Flüssigkeiten in Gläsern rot oder blau zu färben begannen, wie Gasblasen langsam in kleinen Perlen nach oben stiegen oder wie Stücke von Eisen oder Zink von einer Säure langsam zerfressen wurden?

Als er Beuth zufällig in der Mittagspause allein an seinem Klassenzimmer vorübergehen sah, ging er spontan auf ihn zu und bat ihn, kurz unter vier Augen mit ihm sprechen zu dürfen.

»Gut, Borsig, kommen Sie mit in mein Bureau!«

Dort angekommen, erleichterte August Borsig sein Herz. »Mir ist alles so fremd, und ich will nicht mehr zur Schule gehen – zur dritten schon in meinem Leben! Pardon, aber was ich hier bei Ihnen lerne, das erscheint mir für meine Zukunft unwichtig zu sein, es gibt mir nichts, es bedeutet mir nichts. Ich muss etwas mit meinen eigenen Händen tun, einen greifbaren Stoff vor mir haben, etwas gestalten.«

Beuth hatte ihm aufmerksam zugehört. »Ich kann sie schon verstehen, ganz nach Goethes Faust: Grau, teurer Freund, ist alle Theorie/Und grün des Lebens goldner Baum. Schön und gut, aber wollen wir fortschreiten in unserem Gewerbe und unserer Industrie, dann müssen wir wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält – und das geht nur mit viel Wissenschaft, also Formeln, Gleichungen et cetera. Und erst recht gilt das, wenn wir Neues schaffen wollen.«

»Ich kann das auch ohne diesen ganzen Firlefanz!«, rief Borsig.

Beuth lächelte. »Sie wollen mich provozieren, Borsig, dass ich Sie verärgert und empört mit einem Federstrich von meiner Anstalt verweise. Aber das tue ich nicht, denn ich halte Sie für den besten Zögling, den wir bislang hatten. In Ihnen steckt etwas, steckt sehr viel, das sagt mir meine Menschenkenntnis, aber das kann sich nur entfalten, wenn Sie noch dazulernen, fremde Gedanken in sich aufnehmen und nicht nur Dampfmaschinen bauen können, sondern auch wissen, welche Gesetze der Physik und der Chemie sie funktionieren lassen. Darum bitte ich Sie: Bleiben Sie noch bei uns!«

Das schmeichelte Borsig, und er sagte zu, sich nun immer strebend zu bemühen und die beiden Jahre an Beuths Gewerbeschule durchzuhalten.

Um sich von all seinen Problemen abzulenken, folgte er am Abend des 23. November einer Einladung Wilhelm Järscherskys, mit ihm zum Kupfergraben zu kommen.

»Da wird erstens Schinkels neue Schlossbrücke eingeweiht, und zweitens gibt es die Hochzeit des Kronprinzen. Vor dem Zeughaus hat man eine Säulenhalle für dreihundert Ehrenjungfrauen errichtet. Mensch, die muss ich sehen! Vielleicht ist auch eine für mich dabei.«

So zogen sie los. Die Hochzeit des Kronprinzen mit der katholischen Prinzessin Elisabeth aus Bayern interessierte Borsig wenig, aber über die neue Brücke wollte er schon schreiten – allein ihres kunstvollen Geländers wegen. Als sie ankamen, war die Brücke aber noch gesperrt. Bei der abendlichen Illumination brachte jemand das Gerücht auf, niemand dürfe heute über die Brücke gehen. Viele wurden nun von der Angst gepackt, nicht mehr rechtzeitig auf die andere Seite der Spree zu kommen und das große Schauspiel der Eheschließung zu verpassen.

»Komm!«, rief Järschersky. »Am Kupfergraben gibt es eine Notbrücke zum Lustgarten hinüber.«

Auf diese Idee kamen aber auch viele andere, und es wurde gedrängelt und gestoßen. Am engen Platz vor der Brücke staute sich alles, und das Geländer am Spreekanal hielt dem Ansturm nicht mehr stand. Es brach weg, und Dutzende von Menschen wurden von den Nachdrückenden über die Kaimauer hinweg ins eisige Wasser gestoßen. So auch August Borsig.

Der König vom Feuerland

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