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Kapitel eins 1817

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Obwohl er Klassenbester war, ging August Borsig nicht gern zur Schule, aber sie gehörte halt zum Leben. Und die längste Zeit hatte er schon hinter sich, bald wurde er konfirmiert und kam in die Lehre.

»Wo war ich stehengeblieben?«, fragte der Lehrer hoch oben vom Katheder her.

»Nirgendwo«, antwortete Walter Rawitsch, Borsigs Freund und Nebenmann. »Sie sitzen doch.«

Das Gelächter der anderen quittierte Wilhelm Mistek damit, dass er Rawitsch nach vorne kommandierte. Das konnte er gut, denn er war ein altgedienter preußischer Feldwebel. Rawitsch musste die Finger seiner rechten Hand ausstrecken und nach oben drehen. Die fünf Hiebe mit der Haselrute steckte der Junge weg, ohne aufzuschreien. Er galt als harter Hund, und alle bewunderten ihn – auch Borsig. Mit Leuten wie Walter Rawitsch hätten sich die Preußen 1806 bei Jena und Auerstedt nicht so schmählich in die Flucht schlagen lassen.

»Beim Hausbau bin ich stehengeblieben«, sagte Mistek. »Da liegen Steine, Ziegel, Mörtel und Balken auf dem Boden herum – und ein Jahr später steht dort ein wunderschönes Haus. Wie kommt das?«

Mehrere Finger schnellten in die Höhe, denn die Antwort schien nicht schwer. »Weil da Maurer, Zimmerleute und Dachdecker am Werke waren.«

Mistek nickte. »Richtig! Aber kommen die am Morgen einfach so auf die Baustelle und fangen nach Lust und Laune an, der eine greift sich einen Stein, der andere einen Balken – und dann macht jeder Seins?«

»Nein, da ist noch ein Polier, der aufpasst!«, rief Walter Rawitsch.

Der Lehrer herrschte ihn an: »Du schreibst zu Hause fünfzig Mal: Ich habe mich in der Schule zu melden, bevor ich den Mund aufmache. Doch ansonsten gut beobachtet. Da ist also ein Polier, der alles überwacht. Aber reicht das?«

Nun gab es nur noch einen, der sich meldete – und das war August Borsig. »Nein, da muss vorher einer sein, der sich ausgedacht hat, wie das Haus gebaut werden soll.«

»Bravo, Borsig! Und wie nennt man einen solchen Mann?«

Und wieder wusste nur Borsig, was gemeint war. »Einen Baumeister. Knobelsdorff.«

Mistek war beeindruckt. Was dieser Zwölfjährige schon alles wusste! Dennoch musste er schmunzeln. »Nun, der Erbauer des Berliner Opernhauses und des Schlosses von Sanssouci wird nicht gerade zum Breslauer Ring kommen, um hier ein Bürgerhaus zu errichten, zumal er seit 1753 tot ist. Aber es stimmt, dass es neben den Materialien und der menschlichen Arbeitskraft jemanden geben muss, der eine Idee hat und sie zu Papier bringt, also Zeichnungen anfertigt, nach denen sich der Polier und die Maurer und Zimmerleute zu richten haben. Aber wer ist es, der dem Baumeister seine Idee eingibt?« Keiner meldete sich, was Mistek etwas verstimmte. Nur gut, dass der Pfarrer nicht im Schulhaus war und ihn wegen dieses Mangels tadelte! August Borsig war seine letzte Hoffnung. »Nun, wer fehlt uns noch, wenn ein vortreffliches Haus entstehen soll?«

Borsig überlegte einen Augenblick. »Na, der Bauherr.«

Mistek runzelte die Stirn. »Wie?«

»Na, einer muss doch das Geld haben und dem Architekten sagen, wie er das Haus haben will, und nachher die Arbeiter und die Steine und Balken und das alles bezahlen.«

»Gut, das mag ja sein, aber die alles entscheidende Kraft ist Gott. Ohne den Willen und die Gnade des Herrn geht es nicht.« Und er erhob sich, um an die Tafel zu gehen und zu schreiben:

Johannes 4, 24: Gott ist Geist.

Markus 9, 23: Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.

Seit der Völkerschlacht bei Leipzig und dem Ende der Befreiungskriege waren nicht einmal dreieinhalb Jahre vergangen, und im Januar 1817 zeigte sich das preußische Bürgertum ebenso erschöpft wie resigniert. Die Erschöpfung rührte vom langen Kampf gegen Napoleon her, die Resignation hatte ihren Grund in den geplatzten Träumen, denn beim Wiener Congress war allen liberal-demokratischen und patriotisch-nationalen Bestrebungen ein Riegel vorgeschoben worden. Der König hatte seinem Volk eine Verfassung versprochen, dieses Versprechen aber niemals eingelöst. Das fortschrittliche Bürgertum zog sich in seine vier Wände zurück, die Zeit der Restauration und des Biedermeiers begann. In Europa gingen die Uhren nun langsam und in Breslau noch etwas langsamer, doch aufzuhalten war das neue Zeitalter – das der Industrie – nicht mehr. Keiner hatte eine Ahnung von dem, was in den nächsten fünfzig Jahren passieren sollte, auch August Borsig nicht, obwohl er eine herausragende Persönlichkeit dieses neuen Zeitalters werden sollte.

Trafen sie sich im kleinen Haus des Zimmermannes Johann George Borsig in der Neudorfstraße, um zu Abend zu essen, dann redeten sie weniger über die Zukunft als über das, was gewesen war. Den Ton gab der Vater an, und auch heute kam er wieder auf die Schlacht bei Großgörschen zu sprechen, die am 2. Mai 1813 geschlagen worden war und an der er als Kürassier im Regiment von Dolffs teilgenommen hatte.

»Wir haben beim Dorfe Starsiedel gestanden, und als die Brigade Klüx die Franzosen angegriffen hat, sind wir nach links herausgerückt, um deren Flanke zu decken. Doch schnell ist alles ins Stocken geraten.«

August Borsig hörte zwar zu, aber das Ganze interessierte ihn nur wenig. Als Napoleon Einzug in Berlin gehalten hatte, war er noch zu klein gewesen, das alles zu begreifen, und erst die schrecklichen Berichte und Bilder vom Russlandfeldzug 1812/13 hatten sich bei ihm eingebrannt. Da war er schon acht Jahre alt, und Alpträume quälten ihn. Wie der Sturm über die Ebene an der Beresina fegte und plötzlich eine Hand aus einer hohen Schneewehe ragte … Ein dunkelblauer Uniformärmel mit rotem Aufschlag folgte ihr … Ein französischer Grenadier kam zum Vorschein … In seiner Brust steckte ein Bajonett. Da schrie August dann mitten im Schlaf auf. Auch an die vielen Soldaten musste er denken, die durch Breslaus Straßen gelaufen waren, an die blauen Grenadiere des Franzosenkaisers, an die schwarzen Kosacken, an die bunten Jäger und Reiter. Der Vater war auf einem Braunen als stolzer Kürassier durch Breslau geritten, und seine prächtige Uniform hing noch immer im Schrank. Auch den langen, breiten Säbel hatte er aufbewahrt, den Helm, das Bandolier und die schweren, hohen Reiterstiefel mit den angeschnallten Sporen. Das alles erfüllte den Jungen eher mit Angst denn mit Ehrfurcht. Krieg und Soldatensein waren einfach nicht seine Sache. Dazu war er zu weich, das fühlte er, nahm es aber nicht als Mangel, zumal für ihn feststand, dass es, solange er lebte, keinen Krieg mehr geben würde.

Der Vater kam von seinen Erinnerungen nicht mehr los. »Fast vier Jahre sind es nun her … Mitte März, Schnee und Eis waren gerade weggetaut, da zieht der Zar in Breslau ein … Und unser König lässt an alle Mauern große Bögen mit seinen Aufrufen anschlagen: An mein Volk! Jetzt geht es gegen den verhassten Franzosenkaiser. Das schlesische Freikorps wird in der Kirche von Rogau eingesegnet, und alle singen … Na, was singen sie?«

Er sah die Seinen erwartungsvoll an, aber nur August kannte den Text. Mistek hatte ihn den Kindern wochenlang eingetrichtert. Und so konnte der Junge das Lied nun aufsagen:

Der Herr ist unsere Zuversicht, Wie schwer der Kampf auch werde. Wir streiten ja für Recht und Pflicht Und für die heil’ge Erde. Drum retten wir das Vaterland, So tat’s der Herr durch unsere Hand. Dem Herrn allein die Ehre!

»Bravo!«, rief der Vater. »So ist es recht für einen guten Preußen. Theodor Körner hat das gedichtet, einer, der in Major Lützows Freischar mitgekämpft hat.«

August hatte noch deutlich das Bild vor Augen, wie sich auf den Plätzen Breslaus ganze Züge von Freiwilligen gebildet hatten, um sich in den Bierschenken für das Lützow’sche Corps einschreiben zu lassen. Was war er froh gewesen, erst neun Jahre alt zu sein! Denn es grauste ihm davor, von einer französischen Kugel niedergestreckt zu werden, bevor er richtig gelebt hatte. Als dann der Kanonendonner über die Hügel Schlesiens gerollt war, hatten die anderen Jungen beim Soldatenspiel als Blücher und Gneisenau, als Ney und Marmot agiert, er dagegen hatte die Rolle des Feldschers, der sich um die Verwundeten zu kümmern hatte, zugewiesen bekommen. Keiner traute ihm zu, ein richtiger Feldherr zu sein – was ihn ziemlich kränkte. Mit in den Jubel eingefallen aber war er, als im Oktober überall in Schlesien die Glocken des Sieges geläutet hatten.

Nach dem Essen hockte man dann im milden Schein einer Rüböllampe gemütlich auf der hölzernen Bank, die sich um den grünen Kachelofen zog, und beschäftigte sich bis zur Schlafenszeit mit nützlichen Dingen. August, sein Vater und sein Bruder Gottlieb schnitzten Figuren, Tiere zumeist, und Flöten, während die Mutter und seine größeren Schwestern, die Susanne und die Eleonore, strickten. Luise, das Nesthäkchen, gerade einmal drei Jahre alt, schlief schon selig in der Kammer der Eltern.

An der Wand hing der kunstvoll gezeichnete Stammbaum der Familie Borsig, und aus dem ging hervor, dass es für die Männer eigentlich nur einen Beruf gegeben hatte: den des Zimmermanns. Und auch August Borsig zweifelte keinen Augenblick daran, Zimmermann zu werden. Wie sein Vater, wie sein Großvater, wie sein Onkel Christian. »Das liegt uns eben im Blut«, hieß es. Und nach dem Geruch frischen Holzes war der Junge geradezu süchtig. Holz war ein lebendiger Stoff, Holz konnte man formen. Aus einer biegsamen Rute wurde ein Flitzbogen, aus einem Klotz schnitzte er einen Kopf, aus Brettern und Balken baute er sich hinten im Garten ein Häuschen oben in der Baumkrone. Und in jeder freien Minute besuchte er seinen Vater, um ihm auf der Baustelle zur Hand zu gehen, vor allem aber, um zu schauen und zu lernen. Mit seinen zwölf Jahren wusste er schon eine Menge über die Kunst des Dachstuhlbaus. Der Stuhl war ein Gestell, auf dem die Holzkonstruktion ruhte, welche wiederum die Dachhaut trug. Und selbstverständlich wusste er, was Sparren waren, Firstbretter und Fuß- und Mittelpfetten.

Der Winter war lang, und es gab für einen Zimmermann wenig zu tun, und so freute sich Johann George Borsig, als er Anfang Februar von Meister Ihle den Auftrag erhielt, zu einer kleinen, aber sehr dringenden Reparatur ins Haus des Geheimen Regierungsraths Ludger Krauthausen zu eilen. Der Sturm in der gestrigen Nacht habe dessen altersschwachen Schornstein einstürzen lassen, und dabei seien nicht nur die Dachziegel zerschlagen worden, sondern auch einige morsche, weil von Würmern zerfressene Sparren zu Bruch gegangen.

Es war Sonntag, und so fragte August, ob er den Vater begleiten dürfe. Es wurde ihm zugestanden, und so machten sich beide gleich nach dem Frühstück auf den Weg. Es war die Schweidnitzer Vorstadt zu durchqueren, bis sie den Stadtgraben erreichten. Dem folgten sie Richtung Westen, um nach knapp einem Kilometer den Königsplatz zu erreichen, von dem die Nicolaistraße abging. Hier, zwischen Barbara-Kirche und Residenz-Theater, hatte Krauthausen, der aus den preußischen Rheinprovinzen an die Oder versetzt worden war, Quartier genommen. Gerade hatten sie ihr Ziel erreicht, da kam auch Meister Ihle mit seinem Pferdefuhrwerk, und sie luden erst einmal alle Hölzer ab, die sie brauchten, um die maroden Teile zu ersetzen.

»Dann wünsche ich frohes Schaffen!«, sagte Ihle und machte sich wieder auf den Heimweg, um seine Sonntagsruhe zu genießen. Sein Polier würde es schon richten.

Das Mädchen öffnete ihnen, nachdem sie am Klingelzug gerissen hatten, und führte sie auf den Dachboden hinauf.

Bis zum Mittagessen hatten Vater und Sohn alles sauber ausgebessert, so dass der Dachdecker gerufen werden konnte. Als sie wieder herabgestiegen waren und auf dem Weg zur Straße waren, ging im Hausflur unten eine Tür auf, und eine weißgekleidete Gestalt erschien.

»Ein Gespenst!«, rief August Borsig und wich im Reflex zurück.

Doch wer ihnen da den Weg verstellte, war kein anderer als Ludger Krauthausen, eine der berühmten rheinischen Frohnaturen. Untersetzt und schwarzhaarig war er, was nur daran liegen konnte, dass vor rund zweitausend Jahren ein römischer Legionär ein germanisches Mädchen geschwängert hatte. Um sich ein bisschen Heimat nach Schlesien zu holen, wollte er am Fastnachtssonntag einen närrischen Maskenball feiern.

»Und zu dieser Maskerade gehe ich als Kaiser Nero«, erklärte er den Borsigs. »Meine Frau hat mir gerade meine Toga abgesteckt.« Er bemerkte die fragenden Augen des Jungen. »Du weißt nicht, wer Nero war?«

»Doch …« August Borsig zögerte mit einer Erläuterung, da er sie als unschicklich empfand. Aber der Geheime Rath schien ja Spaß zu verstehen, und so sagte er schließlich, dass Nero der im letzten Jahr verstorbene Hund des Zimmermeisters Ihle gewesen sei.

Krauthausen lachte und nahm sich die Zeit, dem Jungen einen kleinen Vortrag zu halten. »Nero kam aus der julisch-claudischen Dynastie und war von 54 bis 68 nach Christi Geburt Kaiser des Römischen Reiches. Er sah sich als großer Dichter und Sänger, und kurz vor seinem Tod soll er immer wieder ausgerufen haben: ›Welch Künstler geht mit mir zugrunde!‹«

Kaiser sein, Herr und Herrscher über viele Menschen, das faszinierte August Borsig. Nicht immer nur Befehle entgegennehmen – ob nun vom Vater oder von Mistek –, sondern tun und lassen, was man selbst wollte. Von nun an träumte er immer wieder, einmal Herr zu sein.

Den Borsigs selbst verging die Lust zum Feiern, denn aus Nieder-Pontwitz kam die Nachricht, dass die Oma im Alter von 68 Jahren unerwartet verstorben war. Die Großeltern hießen noch Burzik, George und Johanna Burzik, und erst als ihr Sohn Johann George nach Breslau gegangen und Susanna Catharina Werner geehelicht hatte, war durch einen Schreibfehler des Standesbeamten aus Burzik Borsig geworden. Manche vermuteten auch, er habe den Namen still und heimlich eindeutschen wollen oder aber Borsig für wohlklingender gehalten als Burzik.

Von Breslau nach Nieder-Pontwitz, das im Fürstenthum Oels gelegen war, brauchten sie bei bitterer Kälte und auf teils noch vereisten Straßen mit der Kutsche, die sie sich geliehen hatten, mehr als drei Stunden, und sie kamen gerade vor der Dorfkirche an, als der Pfarrer zur Rede ansetzte.

»Wir sind traurig, Herr, denn wir müssen für immer Abschied nehmen von einem Menschen, der uns so vertraut war wie niemand sonst. Mit seinem Tod geben wir auch einen Teil von uns selbst dahin.«

Da schossen dem Jungen die Tränen in die Augen. Zwar war in den Tagen der Napoleonischen Kriege viel vom Sterben die Rede gewesen, aber immer hatte es nur die anderen getroffen, und es war Mitleid gewesen, aber nicht Leid. Seine Großmutter war auch einmal so jung gewesen wie er, ein gesundes und kraftvolles Mädchen … Nun lag sie im Sarg, und auch er würde am Ende seiner Tage in einem solchen Sarg liegen, während die anderen trauerten. In diesen Sekunden begriff August Borsig, dass auch er sterblich war, und das war für ihn eine furchtbare Erkenntnis. Zugleich schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass es Menschen gab, die unsterblich waren, Friedrich II. von Preußen oder dieser Kaiser Nero beispielsweise. Nur wer Großes leistete, konnte damit rechnen, unsterblich zu werden.

Der Rest des Februars und der März 1817 verliefen ohne Ereignisse, die sich im Gedächtnis der Jungen festgesetzt hätten, und das Gleichmaß der Tage wurde erst mit den Ostertagen beendet. Der Ostersonntag fiel in diesem Jahr auf den 6. April, und am Karfreitag kam seine Tante Anna, die fünf Jahre jüngere Schwester seines Vaters, für ein paar Tage zu Besuch. Sie war in Trebnitz bei einem hohen Offizier in Stellung. Anna Borsig galt als etwas verschroben, »nerrsch«, wie die Schlesier sagten, und glaubte an gute wie an böse Geister. Schon am ersten Abend erschreckte sie die Kinder mit ihren Erzählungen.

Der Vater musterte seine Schwester. »Nu, mein Madla, du siehst mir gar nicht gut aus. So blass und dünne.«

»Ja, da magst du recht haben, Johann, das kommt von diesem dreimal verfluchten Czaja!«

Die Breslauer staunten, denn Joachim Czaja, ihr Verlobter, ein Kürassier aus Steinau an der Oder, war schon seit über zwanzig Jahren tot. Er war kurz vor der geplanten Heirat vom Pferd gefallen und hatte sich den Hals gebrochen.

»Trauerst du noch immer um ihn?«, fragte Susanna Borsig, ihre Schwägerin.

»Nein, das nicht. Aber er ist ein Nachzehrer.«

Was das war, wusste August: ein Toter, der unter der Erde liegt oder sitzt und seinen Hinterbliebenen die Lebenskraft absaugt. Im Gegensatz zum Vampir kam er niemals aus seinem Grab heraus.

»Das mit dem Nachzehrer, das ist doch Mumpitz!«, rief der Vater.

»Das ist es nicht!«, beharrte die Tante. »Als er beerdigt worden ist, haben wir vergessen, etwas auf seine Brust zu legen, das ihn gebannt hätte, ein Messer oder eine Schere.«

Als Anna Borsig am Ostersonnabend mit ihrem Neffen durch die Breslauer Innenstadt schlenderte, entdeckte sie in der Nähe der St.-Elisabeth-Kirche die Stube einer Wahrsagerin.

»Das kann ich mir nicht entgehen lassen, mein Jingla!«, rief sie. »Und du kommst mit!«

»Nein, ich …«

Sie zog ihn mit sich zur Haustür. »Sei kein Plotsch!«

Ein Plotsch, ein Dummkopf, wollte er nicht sein, also ging er mit. Auch damit er seinem Freund Walter Rawitsch etwas zu erzählen hatte. Die Wahrsagerin erinnerte ihn stark an die Hexe aus Hänsel und Gretel. Er begann sich zu fürchten. Seine Tante aber plauderte ganz unbefangen mit ihr, und so widerstand er dem Impuls davonzulaufen.

»Mein Neffe zuerst!«, sagte Anna Borsig. »Ich bin mal gespannt, was aus ihm werden wird.«

Die Wahrsagerin starrte in ihre Kristallkugel, in der sich das Licht einer dicken Kerze brach. August zitterte nicht gerade vor Erwartung, aber gespannt war er doch, sosehr er das alles für Humbug hielt.

»Ich sehe eine Menge … Du bist ein Liebling der Götter, hoch sollst du steigen – aber mit einem Schlag kann alles aus sein.«

Schien es in Breslau, als würde die Welt auf ewig bleiben, wie sie gerade war, so geschah anderswo vieles, was sie völlig verändern sollte. Man brauchte das Eisen nicht mehr, um Kanonenrohre zu gießen, es konnte zu anderem verwendet werden. Es begann die große Stunde der Tüftler und Erfinder. Auch bildete sich – vor allem in England – ein Menschentyp heraus, der Neues schaffen wollte und viel damit verdiente, dass er andere für sich arbeiten ließ: der moderne Unternehmer. Erfüllt von der puritanischen Idee, dass nur harte Arbeit Gott gefiel, man aber das verdiente Geld nicht verprassen durfte – denn jede Lust, insbesondere die des Fleisches, war Sünde –, häuften diese Männer so viel Kapital an, dass sie neue Unternehmen gründen und neue Märkte erobern konnten.

John Wilkinson, 1728–1808, genannt Iron Mad Wilkinson, der aus einer Familie von Eisenhüttenleuten kam, baute 1747 in Lancashire seinen ersten Hochofen und erfand eine Präzisionsbohrmaschine zum Ausbohren von Kanonenrohren. Obwohl ihn ganz England auslachte, schuf er das erste Schiff aus Eisen. Er war so besessen von diesem Werkstoff, dass er sich sogar in einem gusseisernen Sarg begraben ließ.

Benjamin Huntsman, 1704–1776, von Hause aus Uhrmacher, experimentierte so lange, bis er flüssigen Stahl, Gussstahl, herstellen konnte.

James Watt, 1736–1819, gelernter Mechaniker, verbesserte den Wirkungsgrad der alten Wasserhebe-Dampfmaschinen in den englischen Gruben und machte sie zum Prototyp der modernen Maschine.

Aber auch in Deutschland begann es sich zu regen: Friedrich Krupp, 1787–1826, gründete 1810 mit dem Geld, das er von seiner Großmutter geerbt hatte, die »Firma Friedrich Krupp zur Verfertigung des Englischen Gußstahls und aller daraus resultierenden Fabrikationen«.

Eine Ahnung von dieser modernen Welt sollte August Borsig bekommen, als er Meister Ihle und seinen Vater bei einer Reise nach Tarnowitz begleiten durfte. Das lag 170 Kilometer südöstlich von Breslau, nahe an der Grenze zum sogenannten Congresspolen, das Teil des russischen Zarenreichs geworden war. Sie waren, da Ihles Fuhrwerk mit einigen Ersatzteilen schwer beladen war, mehrere Tage unterwegs. Mit der Schule nahm das keiner so genau, und wenn August ein paar Stunden versäumte, machte das nichts.

Der Junge hatte gestaunt. »Was hat denn ein Zimmermann mit einer Dampfmaschine zu tun? Die ist doch aus Eisen – was soll er da reparieren?«

Die beiden Männer erklärten ihm die Sache: Beim Bau der ersten Dampfmaschinen taten sich Zimmerleute, Schmiede, Schlosser, Eisengießer und Feinmechaniker zusammen, und bei ihren Konstruktionen war noch viel Holz im Spiel. So bestand der – neben dem Dampfzylinder – wichtigste Teil der Maschine, der unförmige und viele Zentner schwere Schwingbaum, aus Eichenholz, das heißt aus mehreren splitterfesten Balken, die in sauberer Zimmermannsarbeit aneinandergefügt worden waren. Diese Arbeit hatte Ihle vor Jahren auf der Friedrichsgrube in Tarnowitz für einen gewissen Friedrich Wilhelm Holtzhagen ausgeführt, dem inzwischen die Aufsicht über alle Dampfmaschinen der Berg- und Hüttenwerke Ober- und Niederschlesiens übertragen worden war.

»Jetzt sind einige Balken zu erneuern, und da hat uns Holtzhagen nach Tarnowitz gerufen«, schloss Ihle.

Als August Borsig vor der ersten Kolbendampfmaschine seines Lebens stand, empfand er sie im ersten Augenblick als ebenso geheimnisvoll wie bedrohlich. Klein kam er sich vor und so verletzlich wie eine Ameise, die auf den Amboss eines Schmiedes geklettert war. Langsam aber begriff er, dass sie Menschenwerk war und von Menschen kontrolliert wurde. Was ihn am meisten beeindruckte, waren die ungeheuren Kräfte, die mit dieser Maschine erzeugt und in Arbeit umgesetzt wurden. Dabei war alles ganz einfach: Man nahm Kohle und erhitzte damit das Wasser so weit, dass es zu Dampf wurde. Und in diesem Dampf – wurde er gebändigt und in richtige Bahnen gelenkt – steckte mehr Energie, als Hunderte von Menschen und Dutzende von Pferden aufzubringen vermochten. Holz und Eisen gehörten auch noch dazu, eine Menge Handwerker und natürlich einer, der sich das alles ausdachte und auf große Bögen zeichnete. Genau so hatte es ihnen Mistek beim Bau eines Hauses erklärt. So etwas zu können steckte im Menschen, wie es in den Bienen steckte, sich ihre Waben und Stöcke zu bauen. Im Menschen? Nein, nicht in allen, nur in einigen.

Dass er zu diesen wenigen Menschen gehörte, war August Borsig an diesem Tag von Tarnowitz zu keiner Sekunde bewusst. Er sah in diesen Jahren nur alles, nahm nur auf, was ihm begegnete, und speicherte es irgendwo im Gedächtnis, ohne dass das eine mit dem anderen zusammenkam. Seine Großmutter hatte immer gesagt: »Mit den Augen kann man stehlen« – also stahl er ununterbrochen. Er hatte jedoch keine Absicht, dies irgendwann einmal zu benutzen – es war der reine Spaß am Stehlen, der ihn trieb.

Nun gut, manchmal kramte er etwas hervor, wenn in der Schule nach bestimmten Sachen gefragt wurde. So wollte Mistek kurz vor den Sommerferien wissen, wo die Oder entspringt.

»In Polen!«, riefen alle.

»Falsch.«

»Im Kaiserthum Oesterreich«, sagte August Borsig. Das hatte ihm Meister Ihle auf der Fahrt nach Tarnowitz erklärt.

»Wieso entspringt die?«, fragte Walter Rawitsch. »Die Oder ist doch kein Sträfling.«

»Rawitsch, die Finger!« Der Lehrer holte seine Haselrute hervor.

Augusts Freund nahm das Züchtigungsritual klaglos hin. Seine Rache bestand darin, dass er Mistek an einem der nächsten Tage scheinbar arglos fragte, ob sein Name vom Englischen mistake – Fehler – herkäme. Darauf hatte ihn sein Vater gebracht.

Mistek blickte böse, entschloss sich dann aber, nicht aus der Haut zu fahren, sondern die Sache mit Humor zu nehmen. »Richtig! Ich bin in London geboren worden und war Hauslehrer der englischen Prinzen. Als ich nach Breslau gekommen bin, haben sie den Namen Mistake dann eingedeutscht in Mistek.« Dass viele seiner ehemaligen Schüler ihn Miststück nannten, wusste er nicht.

Endlich war die Schule aus. Auf dem Nachhauseweg kamen August und Walter an einer Glaserei vorbei, die sich nebenbei darauf spezialisiert hatte, Ölbilder einzurahmen und zum Verkauf auszustellen. Diese Gemälde wurden ihr von berufsmäßigen Kunstmalern, aber auch Amateuren zugeliefert. Die Auswahl an Motiven war nicht eben groß. Da war die Oder und nochmals die Oder, dann gab es röhrende Hirsche und balzende Auerhähne im schlesischen Bergland und schließlich das Breslauer Rathaus und die Naschmarktseite des Ringes. Das alles interessierte August Borsig nur mäßig, ein Bild aber beschäftigte ihn Tag und Nacht und tauchte sogar in seinen Träumen auf: der Anblick eines Südsee-Atolls. Ein Schoner ankerte unter üppigen Palmen. Bougainville vor Tahiti stand auf dem Schildchen, das am Rahmen klebte.

»Palmen!«, rief Borsig. »Ich liebe Palmen über alles!«

»Dann kauf dir doch den Schinken, und häng ihn dir übers Bett«, riet ihm Walter Rawitsch.

»Das würde ich ja gern, aber was das kostet! Woher soll ich das Geld nehmen?« Von seinen Eltern bekam er kein Geld dafür, und sich das Palmenbild zum Geburtstag oder zu Weihnachten zu wünschen hatte auch keinen Zweck, da gab es zum Geschenk immer nützliche Sachen.

Nach einigem Hin und Her trauten sie sich in den Laden, um mit dem Glasermeister zu handeln, doch der ließ sich nicht erweichen und blieb bei einem Preis, der den Jungen astronomisch hoch erschien. Auch wenn er jeden Groschen sparte, den er ab und an von Meister Ihle und seinem Vater bekam, nachdem er ihnen bei der Arbeit geholfen hatte, er hätte lange Monate gebraucht, bis er das Bild hätte kaufen können – zu lange, denn bis dahin war bestimmt jemand gekommen und hatte es ihm weggeschnappt.

Wie konnte man als Junge zu Geld kommen? Sosehr er sich auch den Kopf darüber zerbrach, er fand keinen Weg … Bis sein Blick eines Tages, als er seinem Vater beim Bau eines Dachstuhls in der Berliner Straße geholfen hatte, auf einen Haufen abgesägter Sparren, Balken und Bretter gefallen war. Es war der ganze Abfall, den Meister Ihle irgendwann mit seinem Pferdefuhrwerk abholen ließ, um ihn hinten im Hof verrotten zu lassen. Wenn nun Walter und er diese Reste mit Beil und Säge zerkleinerten und den Leuten als Anmachholz verkauften, dann …

»Mensch, das ist die Idee!«, rief der Freund am nächsten Morgen, denn auch im Sommer brauchte man Kleinholz zum Feueranmachen. In jeder Küche stand ja ein Herd, auf dem sieben Tage in der Woche gekocht werden musste.

Sie machten sich ans Werk, und August Borsig hatte den richtigen Riecher gehabt: Sie nahmen so viel ein, dass er schon bald an den Kauf des Palmenbildes denken konnte.

»Das werde ich mir selbst zum Geburtstag schenken!«, rief er.

Doch bevor es so weit war, erschien der Polizei-Commissarius in der Neudorfstraße, um seinen Vater zur Rede zur stellen. »Der Rentier Chalupka aus der Berliner Straße bezichtigt Ihren Sohn des Holzdiebstahls.«

August hatte nicht bedacht, dass der Abfall strenggenommen nicht Meister Ihle oder seinem Vater gehörte, sondern dem Bauherrn, und der war kein großzügiger Mensch, sondern einer, der sich wegen jeder Kleinigkeit mit seinen Nachbarn stritt.

Der Vater, der von der Geschäftsidee seines Sohnes nichts gewusst hatte, sah ein, dass er am kürzeren Hebel saß, und ersetzte Chalupka den Schaden. Große Schelte gab es nicht, denn die Eltern fanden es gut, was ihr Sohn da versucht hatte – aber sein geliebtes Palmenbild, das konnte August nun für immer und ewig vergessen.

Sein dreizehnter Geburtstag am 23. Juni stand ins Haus. Als wäre seine Existenz nicht Beweis genug, zeigte ihm seine Mutter kurz vor diesem Tag den Taufschein.

Militaria

Ein Tausend acht hundert und vier (1804) den dreiundzwanzigsten Junius ist zu Breslau dem Cairassier im Regiment v. Dollfs bei der 4. Leib-Eskadron, Johann George Bursig von seiner Ehefrau Susanna geb. Werner, EIN SOHN geboren worden, welcher den sechsundzwanzigsten desselben Monats getauft worden ist und die Namen erhalten hat Johann Friedrich August.

Solches wird hierdurch aufgrund des Kirchenbuches obengenannten Regiments von Amts wegen attestiert.

S. G. Böhm, Garnisonspfarrer

August staunte, dass da nun noch eine weitere Variante seines Nachnamens zu finden war, nämlich Bursig. Wie auch immer – Borsig gefiel ihm am besten.

Als er am Morgen des 23. Juni seinen Geburtstagstisch sah, stieß er einen Jubelschrei aus, denn was mitten auf ihm prangte, war das heißbegehrte Palmenbild. Was er in diesem Augenblick fühlte, war das Urvertrauen in die Welt: Alles war gut, auch das, was noch kommen sollte, das Leben war ein großes Geschenk Gottes.

Zum Geburtstagskaffee kamen seine Tante Anna aus Trebnitz, sein Großvater George Burzik und sein Onkel Christian Borsig, beide aus Nieder-Pontwitz, sowie sein Freund Walter Rawitsch. Man sprach weithin »Schläsch«, sagte also nicht schmatzen, sondern katschen, Lorke zum dünnen Kaffee, Koochmannla zu den Pfifferlingen, Muppa statt Mund und Tschelotka für die Verwandtschaft.

Friedrich, der Onkel, führte das große Wort. Er hatte mit seinen 36 Jahren schon viel erlebt, war als Zimmermannsgeselle auf der Walz gewesen und durch halb Europa gezogen und hatte seine Militärzeit im Leib-Kürassier-Regiment Großer Kurfürst in Berlin verbracht. Sprach er von der preußischen Residenz, dann geriet er ins Schwärmen.

»Ich habe ja viele Städte gesehen, aber nichts geht mir über Berlin!«, rief er enthusiastisch. »Wie gern war ich Unter den Linden! Das Opernhaus ist das schönste der Welt, und daneben steht die Königliche Bibliothek. Und nicht zu vergessen das Schloss, das Cadettenhaus in der Neuen Friedrichstraße, den Gensdarmen-Markt, die vielen Kirchen, die vielen Theater … Alles unbeschreiblich!«

Er warf einen Blick auf das Geburtstagskind. Sein Neffe hatte ihm mit großen Augen zugehört. Nein, der August sollte um Gottes willen in Breslau bleiben, denn Berlin war nichts für ihn. Für die Residenz war er viel zu zach und zögerlich, da würde er nur untergehen und sich selbst ins Elend stürzen.

Der König vom Feuerland

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