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5. Der Doppelstaat von 1974

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Fraenkel befaßte sich nach seiner Rückkehr nach Deutschland im Jahre 1951 nur noch am Rande seiner umfassenden wissenschaftlichen Tätigkeit mit dem Nationalsozialismus. Seit den sechziger Jahren schlugen ihm viele Kollegen und mehrere Verlage eine deutsche Ausgabe des Doppelstaates vor.27 Er sträubte sich lange Zeit dagegen. Möglicherweise fürchtete er, daß aus den historischen und theoretischen Teilen des Doppelstaates, insbesondere aus seiner Kapitalismuskritik, Einwände gegen die von ihm seit Ende der fünfziger Jahre entwickelte Pluralismus-Konzeption abgeleitet werden könnten. Vor allem scheute er die Wiederbegegnung mit der nationalsozialistischen Epoche, unter der er so gelitten hatte.

Nachdem 1969 ein unveränderter Nachdruck des Dual State bei Octagon Books, New York, erschienen war, vereinbarte Fraenkel auf vielfaches Drängen 1971 mit der Europäischen Verlagsanstalt in Frankfurt am Main eine deutsche Ausgabe des Doppelstaates. Da die deutsche Vorlage für die Übersetzung ins Englische von 1940 nicht erhalten war, mußte eine Rückübersetzung des englischen Textes angefertigt werden. Fraenkel wollte diese Aufgabe auf keinen Fall selbst übernehmen, wie er in einem Brief vom 8. April 1970 schrieb:

»Von einem können Sie mich nicht abbringen: ich werde diese Übersetzung nicht selber vornehmen. Dies ist nicht nur ein Zeit-, sondern auch ein seelisches Problem. Ich habe mehr als 5 Jahre unter dem Naziregime in Berlin als Anwalt praktiziert und ich habe mir, was ich damals auf dem Herzen hatte, im Doppelstaat aus der Seele geschrieben. Als der Krieg ausbrach, habe ich einen Strich unter meine bisherige Beschäftigung mit dem Dritten Reich gezogen und in den verflossenen drei Jahrzehnten nichts mehr über diesen Fragenkomplex veröffentlicht und auch nicht über Nationalsozialismus gelesen. Ich glaube, durch Abfassung des Dual State das meine zur theoretischen Klärung dieses Problemkreises beigetragen zu haben, ich habe die einschlägige Literatur bis zum physischen Ekel gelesen und kann es nicht über mich bringen, nochmals in diese ›Materie‹ hineinzusteigen. Dies wäre aber unvermeidlich, wenn ich die Übersetzung vornähme oder auch nur maßgeblich an ihr beteiligt wäre.«28

Es gelang schließlich, für die Übersetzung die damalige Studienrätin Manuela Schöps zu gewinnen, die am Otto-Suhr-Institut bei Fraenkel studiert hatte und mit seinem Werk und seiner Denkweise vertraut war. Je mehr die Übersetzung voranschritt, desto mehr befaßte sich Fraenkel wieder selbst mit dem Doppelstaat. Er redigierte schließlich den gesamten Text sehr sorgfältig. Bis zur Überprüfung vieler Anmerkungen wirkte er an allen Detailproblemen der Erstellung der deutschen Fassung mit.

Inhaltlich nahm Fraenkel nur geringe Veränderungen der englischen Vorlage vor. Er strich insbesondere die oben erwähnten Ausführungen über die »Prerogative« bei Locke, weil er meinte, daß sie für den deutschen Leser nicht nachvollziehbar seien. Einige Literaturnachweise stellte Fraenkel auf neuere, leichter zugängliche Ausgaben um. Mehrere Anmerkungen wurden durch neuere Literaturangaben ergänzt, andere entfielen, weil sie für den deutschen Leser überflüssige Nachweise enthielten.

Die – oft von Krankheitsperioden unterbrochene – intensive Beschäftigung mit der deutschen Ausgabe des Doppelstaates wurde zu Fraenkels letzter großer wissenschaftlicher Aufgabe. Je mehr er wieder an dem Doppelstaat arbeitete, desto mehr sah er darin ein Kernstück seines wissenschaftlichen Vermächtnisses. Drei Monate, nachdem der Doppelstaat im Dezember 1974 auf deutsch erschienen war, starb Fraenkel am 28. März 1975 in Berlin.

Die deutsche Fassung des Doppelstaates fand große Verbreitung und Anerkennung. Die Begriffe Doppelstaat, Normenstaat und Maßnahmenstaat wurden nach 1974 in der wissenschaftlichen Literatur über den Nationalsozialismus umfassend rezipiert. Das Bundessozialgericht übernahm Fraenkels Begrifflichkeit in einem Grundsatzurteil vom 11. Sept. 1991, in dem es die Todesurteilspraxis der Wehrmachtsgerichte dem Maßnahmenstaat zuordnete.29

Eine italienische Übersetzung erschien unter dem Titel »Il doppio Stato« mit einer Einführung von Noberto Bobbio 1983 in Turin bei Einaudi.30

Eine neue Ausgabe der englischen Fassung von 1941 erschien 2017 bei Oxford University Press.31 Herausgeber Jens Meierhenrich behandelt im Vorwort »An Ethnography of Nazi Law: The Intellectual Foundations of Ernst Fraenkel’s Theory of Dictatorship« auch die Rezeption des »Dual State« in der englischen und amerikanischen Literatur.

Eine auf neue Quellen gestützte Untersuchung zu Fraenkels Tätigkeiten in Berlin zwischen 1933 und 1938 als einfallsreicher Rechtsanwalt, mutiger Gegner des Regimes und theoretisch gebildeter Autor engagierter publizistischer und wissenschaftlicher Schriften veröffentlichte Douglas G. Morris 2020 bei Cambridge University Press.32

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