Читать книгу ad Fraenkel. Der Doppelstaat - Horst Dreier - Страница 7
2. These und Ansatz des Doppelstaates
ОглавлениеDie These des Doppelstaates9 ist, daß das nationalsozialistische Herrschaftssystem in zwei große Bereiche zerfällt: Im Normenstaat gelten alte und neue Vorschriften in dem Umfang, wie es zur Funktionsfähigkeit des auf Berechenbarkeit angelegten, im Prinzip weiter privatkapitalistisch strukturierten Wirtschaftssystems erforderlich ist. Im Maßnahmenstaat handeln die nationalsozialistischen Funktionsträger unabhängig von allen formalen Regeln und inhaltlichen Gerechtigkeitsvorstellungen so, wie es ihnen zur Erhaltung ihrer Macht und zur Durchsetzung ihrer spezifischen politischen Ziele – z.B. der Judenverfolgung – zweckmäßig scheint. Im Zweifel setzen sich die Prinzipien des Maßnahmenstaates gegen die des Normenstaates durch. Dieser Bezugsrahmen hat sich in vielen empirischen und theoretischen Studien als plausibel erwiesen.10
Das Spezifische des Ansatzes von Fraenkel besteht in der besonderen Form seines empirischen Zuganges: Er beschreibt die Funktionsweise des nationalsozialistischen Herrschaftssystems aus der unmittelbaren Anschauung eines Mitlebenden und Mitleidenden. Er greift aus der Fülle der politischen, administrativen und judikativen Vorgänge die typischen Beispiele heraus, wie sie nur einem wissenschaftlich und praktisch erfahrenen Autor erkennbar sind. Die von ihm ausgewählten Fälle und Tatsachen analysiert er exemplarisch im Hinblick auf ihre verallgemeinerungsfähigen Hintergründe und Konsequenzen.
Das Phänomen des Doppelstaates erklärt Fraenkel auf mehreren Ebenen: Er leitet den Doppelstaat aus sozialen, ökonomischen und politischen Interessenlagen ab. Er entwickelt den Doppelstaat aus der deutschen Staatstradition und aus den deutschen antidemokratischen Ideologien, wie sie maßgeblich bei Carl Schmitt ihren Ausdruck gefunden hatten.
Der Ansatz der Argumentation im Doppelstaat hebt sich deutlich von der Pluralismustheorie ab, die Fraenkel im Kern schon vor 1933, in ausgearbeiteter Form nach 1960 vertrat. Das ist jedoch keine theoretische Inkonsequenz, sondern notwendiger Ausdruck der unterschiedlichen Problemlagen. Der Pluralismus ist bei Fraenkel ein normatives Konzept zur Ausfüllung der Demokratiegebote der Weimarer Verfassung und des Grundgesetzes. In diesen Kategorien konnte der Nationalsozialismus nicht erfaßt werden. Im Doppelstaat ging es darum, die Erscheinungsformen und Gründe für die Vernichtung des Pluralismus zu untersuchen. Für diese Fragestellung liefert der im Doppelstaat entwickelte Ansatz ein bis heute gültiges originäres Konzept.
Ernst Fraenkels Doppelstaat ist ein Standardwerk über die Politik, die Justiz und das Recht im Nationalsozialismus. In den USA, in Großbritannien, in Deutschland und Italien erlangte der Doppelstaat den Rang eines Klassikers in der Literatur über die nationalsozialistische Epoche.