Читать книгу ad Fraenkel. Der Doppelstaat - Horst Dreier - Страница 9
4. Der Dual State von 1941
ОглавлениеEs gelang Fraenkel, das Manuskript des Urdoppelstaates von 1938 in französischem Diplomatengepäck aus Deutschland ins westliche Ausland bringen zu lassen. Nach seiner Flucht am 20. September 1938 aus Berlin in die USA arbeitete Fraenkel das Manuskript für eine englische Übersetzung um. Weil das Buch jetzt nicht mehr für deutsche Leser, sondern für die amerikanische und englische Öffentlichkeit bestimmt war, trat der Charakter einer wissenschaftlichen Analyse des nationalsozialistischen Herrschaftssystems stärker hervor. Viele Passagen wurden abgemildert oder ergänzt. Neue Gedankengänge wurden eingefügt, die dem angelsächsischen Leser das Verständnis erleichtern sollten. Um die englische Übersetzung des Begriffes Maßnahmenstaat in »Prerogative State« plausibel zu machen, fügte Fraenkel z. B. eine Abgrenzung zum Begriff der »Prerogative« bei John Locke ein19. Durch diese Überarbeitung gewann der Doppelstaat an analytischer Schärfe und Überzeugungskraft.
Die englische Übersetzung von E. A. Shils erschien um die Jahreswende 1940/41 unter dem Titel »The Dual State« in der Oxford University Press, New York. Der Dual State fand sofort große Aufmerksamkeit in der amerikanischen und englischen Öffentlichkeit.20
Bereits 1942 veröffentlichte Franz Neumann in New York mit dem »Behemoth« die zweite große Analyse des nationalsozialistischen Herrschaftssystems. Er widersprach darin offen der zentralen These des Doppelstaates.21 Über den »Behemoth« publizierte Ernst Fraenkel 1942 eine Rezension, in der er sich Franz Neumanns theoretischem Ansatz weithin anschloß.22
Aus heutiger Sicht stellt sich das Verhältnis zwischen »Dual State« und »Behemoth« so dar: Während sich die Untersuchung Fraenkels auf die Zeit bis 1938 beschränkt, steht bei Franz Neumann das Dritte Reich der unmittelbaren Vorkriegs- und der Kriegszeit im Mittelpunkt. Man kann den Behemoth als historische Fortentwicklung des Doppelstaates verstehen. Unter dem Eindruck der Vorbereitung und Durchführung des Krieges erweiterte sich der Maßnahmenstaat zu dem alles verschlingenden Unstaat, den Franz Neumann mit dem Namen des alttestamentarischen Ungeheuers Behemoth kennzeichnete. Die beiden großen Bücher der Freunde23 Ernst Fraenkel und Franz Neumann über den Nationalsozialismus stehen nicht in einem unauflösbaren Gegensatz. Sie ergänzen sich, weil sie unterschiedliche Entwicklungsphasen des Regimes analysieren.
Der Doppelstaat war in seiner englischen Fassung nach 1945 nur in wenigen Exemplaren in Deutschland verfügbar, die meist nur mit Schwierigkeiten über die Fernleihe zu beschaffen waren. Die erste Rezension des Dual State in einer deutschen Fachzeitschrift erschien 1969 in der Kritischen Justiz; die erste Besprechung in der deutschen Presse war ein Artikel von Helmut Ridder 1970 in der ZEIT.24 Unter diesen Umständen blieb die Rezeption des Doppelstaates zunächst begrenzt. Karl Dietrich Bracher z. B. bezeichnete in seinem zuerst 1969 erschienenen Standardwerk »Die deutsche Diktatur« Ernst Fraenkels Doppelstaat zwar – in einer Fußnote – als »grundlegend«, setzte sich damit aber nicht inhaltlich auseinander.25 In entsprechender Weise erwähnte das ebenfalls zuerst 1969 erschienene, weitverbreitete Taschenbuch von Martin Broszat »Der Staat Hitlers« den Doppelstaat lediglich an einer Stelle.26