Читать книгу Die Verwissenschaftlichung der ›Judenfrage‹ im Nationalsozialismus - Horst Junginger - Страница 10

4. Die Weimarer Republik als Höhepunkt und Wende der Judenemanzipation: Institutionalisierungsprozesse und ihr Ende

Оглавление

Die am 11. August 1919 in Weimar erlassene Verfassung des Deutschen Reiches übernahm in ihrem Artikel 136 die Bestimmungen der Paulskirchenverfassung, wonach der Genuss der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte sowie die Zulassung zu öffentlichen Ämtern unabhängig vom religiösen Bekenntnis zu gewähren seien, und leitete sie in verbindliches Recht über. Eine Benachteiligung der Juden war unter der Bedingung voller Glaubens- und Gewissensfreiheit (Artikel 135) nun per Gesetz verboten. An der Art und Weise, wie sich die Universität den Juden gegenüber verhielt, lässt sich ablesen, inwieweit der Emanzipationsgedanke in einer der zentralen Instanzen des Staates tatsächlich Fuß fassen konnte, oder ob er vielleicht nur widerwillig akzeptiert oder sogar bewusst unterlaufen wurde. Als erstes wirkte sich die Gesetzesänderung bei der Zulassung jüdischer Dozenten zum akademischen Lehrberuf aus. Es handelte sich hier um einen aussagekräftigen Lackmustest, der den Grad anzeigte, bis zu dem der Weimarer Verfassungsstaat mit seinem zentralen Postulat der politischen Gleichberechtigung die deutsche Gesellschaft zu beeinflussen vermochte. Von einem wirklichen Sieg der Judenemanzipation hätte man im Bereich der Hochschulen aber erst dann sprechen können, wenn Juden und Christen nicht nur auf der Ebene der privaten Religiosität, sondern auch im Hinblick auf ihre universitäre Vertretung gleichgestellt worden wären. Hatte die neue Gesetzeslage die Anstellung eines jüdischen so gut wie eines katholischen oder evangelischen Hochschullehrers selbstverständlich oder zumindest möglich gemacht, so problematisch erschien nach wie vor die Institutionalisierung einer Wissenschaft des Judentums, sei es in der Form einer jüdischen Theologie oder einer säkularen jüdischen Geschichts-, Kultur- oder Religionswissenschaft, die einem lange geäußerten Wunsch der deutschen Juden entsprochen hätte. Das eine bedeutete einzelne Juden, das andere das Judentum als solches zu akzeptieren. Ungeachtet des Bemühens der Verfassung, den religiösen Glauben eines Menschen zu seiner Privatangelegenheit zu erklären und in der Frage der religiösen Organisation alle Glaubensgemeinschaften prinzipiell gleich zu behandeln, blieben doch die Religion und die angeblich von ihr bewirkten Charaktereigenschaften der Juden der entscheidende Knackpunkt, der eine Normalisierung des deutsch-jüdischen Verhältnisses verhinderte.

Weil die Gleichstellung aller Religionsgemeinschaften zwangsläufig zu einer Reduzierung der kirchlichen Vorrechte führte, die in der Monarchie bestanden, konnten gerade die Religionsartikel nur gegen den erbitterten Widerstand der evangelischen und katholischen Kirche durchgesetzt werden. Ihre Ablehnung der Weimarer Demokratie lag nicht zuletzt in dieser objektiven und, verglichen mit der vorherigen Teilhabe an der Verbindung von Thron und Altar, gravierenden Schlechterstellung begründet. Ein zusätzliches Problem bedeutete es für die Kirchen, dass nun ausgerechnet die Juden, die seit fast zwei Jahrtausenden als die geborenen Feinde Gottes und des Christentums galten, Nutznießer der neuen Verfassung wurden und erheblich von ihr profitierten. In der Tat brachte das politische System von Weimar dem Judentum einen noch nie da gewesenen Fortschritt und führte zu einem entsprechenden Aufblühen jüdischen Lebens. Die Renaissance der jüdischen Kultur ergriff die Kunst ebenso wie die Religion, die Wissenschaft und viele andere gesellschaftliche Bereiche.1 Es kam zu einer deutlichen Zunahme jüdischer Verlage, Museen, Zeitungen und zu einem Erstarken der jüdischen Bildungsbewegung. Am Ende der Weimarer Republik erschienen etwa 20 jüdische Wochen- und 80 jüdische Monatszeitschriften, die zur Meinungs- und Gruppenbildung innerhalb des Judentums beitrugen.2 Nicht zufällig gehörten zwei Enzyklopädien zu den wichtigsten Projekten der Selbstvergewisserung des deutschen Judentums. Sprach das vierbändige Jüdische Lexikon (1927 – 1930) eher ein allgemeines Publikum an, verfolgte die Encyclopaedia Judaica betont wissenschaftliche Interessen. Deren erste neun Bände konnten noch in der Weimarer Republik (1928 – 1932) erscheinen. Mit dem zehnten Band wurde das Vorhaben aber 1934 gewaltsam beendet. Der Untertitel der Encyclopaedia Judaica „Das Judentum in Geschichte und Gegenwart“ weist eine deutliche Parallele zu dem protestantischen Lexikon Die Religion in Geschichte und Gegenwart auf, das in fünf Bänden zur gleichen Zeit zwischen 1927 und 1931 erschien. Auch die beiden jüdischen Lexika hatten den Charakter von Kulturenzyklopädien und leisteten einen wichtigen Beitrag zur Herausbildung und Festigung eines jüdischen Milieus. Wie die RGG spielte auch die EJ eine „wissenschaftliche Katalysatorenrolle“, indem sie die maßgeblichen Wissenschaftler und die einschlägige Forschung zu bestimmten Themen zusammenführte.3 Manche Beiträge hatten die Länge einer Buchveröffentlichung und stellten, wie etwa der Kabbala-Artikel von Gershom Scholem (1897 – 1982), eine herausragende wissenschaftliche Leistung dar.4 Sowohl das Jüdische Lexikon wie die Encyclopaedia Judaica verfolgten das gemeinsame Ziel, Juden wie Nichtjuden die Schätze der jüdischen Kultur vor Augen zu führen. Sie waren wichtige Medien, in denen sich ein modernes jüdisches Bewusstsein Ausdruck verschaffen konnte.5

In öffentlichkeitswirksamen Sektoren wie der Literatur, dem Theater oder der Presse wurde der Einfluss des Judentums noch stärker wahrgenommen, als er es tatsächlich war. Die Antisemiten sprachen deswegen von einem Überhandnehmen jüdischen Einflusses und nutzten die Verunsicherung aus, die weite Teile der Bevölkerung in den Nachkriegsjahren erfasst hatte. Uralte, längst überwunden geglaubte Vorurteile erwachten zu neuem Leben und gaben vielen Deutschen scheinbar plausible Antworten auf politische Probleme, denen sie sich nicht gewachsen fühlten. Sie konnten oder wollten nicht verstehen, dass sich die Juden in einer Situation befanden, in der sie gerade deshalb ein stärkeres Selbstbewusstsein entwickelten, weil sie ihren Platz in der deutschen Gesellschaft einnehmen wollten, der ihnen so lange vorenthalten worden war. Allerdings bildete das deutsche Judentum keine homogene Einheit, wie es das antisemitische Klischee suggerierte. Die innerjüdischen Auseinandersetzungen um das Verhältnis von Tradition und Moderne glichen vielmehr den Diskussionen, die auch in der deutschen Mehrheitsgesellschaft geführt wurden. Auch im Judentum stellte sich nach dem Ersten Weltkrieg die große Frage, ob man der Religion einen identitätsstiftenden Sinn beimessen sollte und, wenn ja, wie sie sich mit einer modernen Weltauffassung in Übereinstimmung bringen ließ, ohne dabei ihre innere Substanz aufzugeben. Ohne stärkere Ausrichtung an wissenschaftlichen Erklärungsmodellen konnte auch die jüdische Religion nicht bestehen. Doch wie weit darf die Wissenschaft in den Bereich der Religion eindringen, ohne zerstörerisch zu wirken? Müssen sich Wissenschaft und Wunder nicht gegenseitig ausschließen? Wie im Bereich des Christentums gewann auch innerhalb des Judentums ein Lösungsansatz an Einfluss, der auf eine wissenschaftliche Theologie beziehungsweise auf eine religiöse oder theologische Religionswissenschaft hinauslief.

Als weiterer Beleg für das neue Selbstbewusstsein des deutschen Judentums können die Bemühungen angesehen werden, die sofort nach Kriegsende unternommen wurden, um eine Akademie für die Wissenschaft des Judentums ins Leben zu rufen. Im Februar 1919 traf sich in Berlin eine Gruppe einflussreicher jüdischer Persönlichkeiten, unter ihnen Ernst Cassirer (1874 – 1945) und Albert Einstein (1879 – 1955), um über die Gründung einer Akademie für die Wissenschaft des Judentums zu beraten. Bereits im Juli 1919 konnte der Althistoriker Eugen Täubler (1879 – 1953) zum ersten Direktor ernannt werden.6 Den ursprünglich von Hermann Cohen (1842 – 1918) und Franz Rosenzweig (1886 – 1929) ausgehenden Impuls entwickelte Täubler gemäß seiner eigenen Interessen weiter. In kritischer Auseinandersetzung mit der traditionellen Wissenschaft des Judentums suchte er eine stärkere Professionalisierung und Angleichung an die Universitätswissenschaft zu erreichen. Wegen der schwierigen ökonomischen Situation beschränkte sich der Betrieb der Akademie am Anfang aber auf eine historische, philologische und talmudische Sektion. Die Etablierung weiterer Abteilungen, darunter eine religionswissenschaftliche, ließ sich nicht realisieren.7 Als Täubler 1922 einen Ruf an die Universität Zürich annahm, wurde die Akademieleitung von dem Rabbiner und Philosophiehistoriker Julius Guttmann (1880 – 1950) übernommen. Ab 1925 hatte Täubler den Lehrstuhl für Alte Geschichte an der Universität Heidelberg inne, doch legte er nach der nationalsozialistischen Machtübernahme seine Professur im Juli 1933 unter Protest nieder und trat auch aus der Heidelberger Akademie der Wissenschaften aus. Täubler siedelte nach Berlin über, wo er eine Lehrtätigkeit an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums übernahm. Von dort aus emigrierte er 1941 in die USA.8 Pläne für die Etablierung einer universitären Wissenschaft des Judentums gab es bereits seit den 1830er Jahren.9 Weil jedoch die von Leopold Zunz (1794 – 1886) und Abraham Geiger (1810 – 1874) seinerzeit unternommenen Vorstöße auf wenig Entgegenkommen stießen und weil sich weder Preußen noch ein anderer deutscher Staat mit der Schaffung einer judaistischen Professur, geschweige denn eines eigenen Instituts einverstanden erklären konnte, wurde 1854 in Breslau das Jüdisch-theologische Seminar gegründet, das über viele Jahrzehnte hinweg der Rabbinerausbildung diente, bis es 1938 von den Nationalsozialisten geschlossen wurde. 1872 folgte in Berlin die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums und im Jahr darauf, ebenfalls in Berlin, das orthodoxe Rabbinerseminar. Um den inferioren Status der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums öffentlich zum Ausdruck zu bringen, durfte sie sich vor 1920 und nach 1934 nicht einmal als Hochschule, sondern nur als Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums bezeichnen. Im vorherigen Kapitel wurde bereits erwähnt, dass nach ihrer Schließung Leo Baeck (1873 – 1956) mit den noch verbliebenen Schülern, unter ihnen Leopold Lucas, 1943 in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert wurde.

Wegen der Ablehnung durch die deutschen Kultusbehörden vollzog sich die Entwicklung der Wissenschaft des Judentums gänzlich außerhalb staatlicher Strukturen und beruhte auf der Initiative und den Finanzmitteln von privater Seite. Das Äußerste was die deutschen Behörden den Juden zugestanden, war die Finanzierung einiger Lektorenstellen, die an den Universitäten in Frankfurt, Halle, Hamburg, Leipzig und Marburg zeitweise eingerichtet wurden, weil für bestimmte Aufgaben auf dem Gebiet der hebräischen Sprache und der jüdischen Religion kein christlicher Gelehrter zur Verfügung stand. Solche Lehrstellen kosteten fast kein Geld und ließen sich jederzeit wieder zurückziehen. Als der Leipziger Alttestamentler Rudolf Kittel (1853 – 1941) einen sachkundigen Mitarbeiter für sein Editionsprojekt der Biblia Hebraica benötigte, innerhalb der Theologie aber niemand fand, griff er auf Israel Isser Kahan (1858 – 1924) zurück, der schon etliche Jahre vorher Franz Delitzsch (1830 – 1890) im Institutum Judaicum Delitzschianum als Hilfskraft gedient hatte. Kahan hatte wohl nur an einer Jeschiwa ein Talmudstudium absolviert, aber weder eine Ausbildung zum Rabbiner durchlaufen, noch an einer Universität studiert. Wegen seines Namenswechsels von Cohn zu Kahan und weil er sich im Sinne der Judenmission geäußert hatte, kam das Gerücht auf, dass er zum Christentum übergetreten sei, was er allerdings bestritt.10 In der Hauszeitschrift des Institutum Judaicum Saat auf Hoffnung hatte sich Kahan sehr wohlwollend über die Genugtuung der Christen geäußert, die sich immer dann einstelle, wenn sich ein Jude durch die innere Werthaftigkeit des Neuen Testaments überzeugen lasse und wenn er dessen Worte aufnähme, „ohne sich gegen sie zu sträuben, wenigstens solange der Widerspruchsgeist nicht durch die Nennung der Autorität geweckt wird, gegen die Israel mit Blindheit geschlagen ist“.11 Einem anderen Votum zufolge war Kahan an religiösen Fragen aber nicht sonderlich interessiert und zog sich aus dem Lehrkörper zurück, weil ihm die Betonung des Missionarischen Unbehagen bereitete.12 Am 16. November 1911 richtete Kittel eine Eingabe an das sächsische Kultusministerium, in der er ausführlich begründete, warum er einen jüdischen Mitarbeiter benötigte. Seine Argumentation ist in doppelter Hinsicht bezeichnend, weil sie zum einen das Überlegenheitsgefühl eines christlichen Universitätsprofessors zum Ausdruck bringt und weil sie andererseits doch auch eine gewisse Furcht vor der jüdischen Konkurrenz erkennen lässt. „Der Natur der Sache nach“ stünden für die Erforschung der schwierigen und zum Teil entlegenen Sprachdenkmäler des Judentums vom Ende des Alten Testaments bis zum apostolischen Zeitalter leider fast nur Juden zur Verfügung.

„Hierdurch entsteht die Gefahr, dass, wo Christen über diese Dinge mitreden wollen, sie sich bei Juden Rats erholen müssen, besonders aber, dass diese Wissenszweige mit der Zeit zu einer Art Geheimwissenschaft des Judentums werden, eine Gefahr, die um so ernster ist, als sich innerhalb des Judentums in neuerer Zeit viel stärker als früher eine jüdisch ‚apologetische‘, d.h. gegen das Christentum aggressiv vorgehende Richtung geltend macht.“

Er werde allerdings darauf achten, „dass mit der Zeit christliche Kräfte, an denen es im Augenblick fast vollständig fehlt“, herangebildet würden. Nach Lage der Dinge sei es dringend notwendig, dass eine jüngere Generation christlicher Theologen heranwachse, die „mit besserem Erfolg als die gegenwärtige“ die geistige Auseinandersetzung mit dem Judentum bestehe.13

Unter den geschilderten Umständen und weil Kahan bereit war, die Lektorenstelle für 1500 Reichsmark im Jahr zu übernehmen, stimmte das Ministerium zu, einen am Alttestamentlichen Seminar anzustellenden Lektor für späthebräische, jüdisch-aramäische und talmudische Wissenschaften zu remunerieren. 1919 wurde Kahan sogar der Titel eines Honorarprofessors verliehen, nachdem er, wie Henry Wassermann nicht ohne Bitterkeit schreibt, „sieben Jahre lang eine Handvoll protestantischer Theologiestudenten darin unterwiesen hatte, eine Seite der Mischna zu lesen ohne den christlichen Halt zu verlieren“.14 Es ist bezeichnend, dass der erste Beginn einer Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums von einem für die Judenmission tätigen jüdischen Lektor für Rabbinica seinen Ausgang nahm. Inhaltlich trug Kahan wenig zur Wissenschaft des Judentums bei. Zu seinem Leipziger Schülerkreis gehörte auch Gerhard Kittel, der einige Jahre später als Vertreter einer antisemitischen NS-Judaistik in Erscheinung treten sollte. Kittel lehrte seit 1917 als Privatdozent in Leipzig. Doch er kannte Kahan über seinen Vater – Professor für Alttestamentliche Wissenschaft von 1898 – 1923 und Rektor der Alma mater Lipsiensis von 1917 – 1919 – schon seit längerem. Im Vorwort einer Veröffentlichung des Jahres 1914 (Die Oden Salomos) bezeichnete er Kahan als seinen Lehrer, und 1926 widmete er ihm sein bekanntes Buch über Die Probleme des palästinensischen Spätjudentums und das Urchristentum. Für die zweite Auflage der Religion in Geschichte und Gegenwart verfasste Kittel einen Eintrag über Kahan.15 In seiner ersten kompromisslos antisemitischen Publikation über Die Judenfrage nannte er ihn 1933 seinen Hebräischlehrer und jemand, der ihn vor einer „generellen ‚Diffamierung des Judentums‘“ immer bewahren werde.16

Ungeachtet der dienenden Funktion und des untergeordneten Status, die Kahans Position in Leipzig charakterisierten, öffnete sie eine Tür, durch die sein Nachfolger, Lazar Gulkowitsch (1891 – 1941), eintreten und der erste Habilitand auf dem Gebiet der Wissenschaft des Judentums in Deutschland werden konnte. Nach Kahans Tod übernahm Gulkowitsch 1924 dessen Lektorat, das er bis 1933 ausübte. Gulkowitsch hatte in Mir im Gouvernement Minsk eine Talmudschule besucht und in Virbalis (Wirbellen, heute Kybartai) eine jüdische Volksschule geleitet und dort auch dem Rabbinat angehört.17 Ab 1919 studierte er an der Universität Königsberg Medizin und Theologie, um 1922 mit einer 24-seitigen Arbeit über Wesen und Entstehung der Qabbala zu promovieren. Er reichte später auch eine medizinische Dissertation ein, doch nahm er dann den ihm in Leipzig 1924 angebotenen Lehrauftrag wahr, ohne das Verfahren in Königsberg zum Abschluss zu bringen. Im Jahr darauf, das heißt im Juni 1925, richtete er eine Voranfrage an die Philosophische Fakultät der Universität Leipzig, ob er sich für späthebräische Religionsgeschichte und Religionsphilosophie habilitieren könne. Als ihm beschieden wurde, dass dies vom Thema her nicht möglich sei, dass aber gegen eine Habilitation auf dem Gebiet der „Wissenschaft des späteren Judentums“ keine Einwände bestünden, reichte er eine Arbeit mit dem Titel Der Hasidismus, religionswissenschaftlich betrachtet ein.18 Allerdings stieß die Habilitationsschrift wegen inhaltlicher und formaler Mängel bei den Gutachtern nicht auf einhellige Zustimmung. Schließlich setzte sich der Religionshistoriker Hans Haas (1886 – 1935) als Hauptgutachter mit seinem positiven Votum durch. Insbesondere lobte Haas die religionsgeschichtliche Verortung des Chassidismus, der, wie Gulkowitsch herausgearbeitet habe, deutliche Parallelen zum Christentum aufweise. Im Anschluss an Martin Buber betonte Haas die spirituelle Erlebnisdimension des Chassidismus, die sich gegen eine enge jüdische Dogmatik wende. „Aus demselben Geiste heraus, aus dem ein Jesus gegen den Ritualismus des synagogalen Judentums seiner Tage anging“, habe der Chassidismus sich gegen „den erstarrten Talmudismus“ gekehrt, um die Religion des Judentums zu erneuern und zu vertiefen.19 Indem Gulkowitsch den Chassidismus zu einem „gefühlsmäßigen Widerspruch gegen die talmudische Formalreligion“ erklärte, trug er nicht unmaßgeblich zu einer Bestärkung des christlichen Vorurteils bei, wie es sich auch in der gutachterlichen Stellungnahme von Hans Haas unter Berufung auf Martin Buber findet. Zurecht hatte Gershom Scholem bereits Bubers mythopoetische Deutung des Chassidismus als unhaltbar zurückgewiesen.20 Die noch weiter gehende Interpretation des Chassidismus als Negation der talmudischen Formalreligion, der „ihren blutleer gewordenen Begriffen neue Inhalte, ihrer Buchgelehrsamkeit das Gotteserlebnis, ihrer Formgebundenheit die sittliche Tatforderung“ entgegenstellte,21 ließ sich leicht in das Schema eines christlichen Antitalmudismus einfügen. Auf diesem Hintergrund fügte Haas seiner Anerkennung über die „weiterhin tüchtigen Leistungen“, die von dem Habilitanden noch zu erwarten seien, die als Lob gedachte Formulierung hinzu, Gulkowitsch sei bislang stets „durchaus unjüdisch bescheiden“ aufgetreten.22 Nicht zuletzt weil die offenbar unter hohem Anpassungsdruck geschriebene Arbeit Gulkowitschs solche Ergebnisse zeitigte, warf ihr Wassermann einen „Ausverkauf des Chassidismus und stellvertretend auch des Judentums“ vor.23

Vielleicht sollte man die Habilitationsschrift von Lazar Gulkowitsch nicht ganz so negativ bewerten. Sie war in verschiedener Hinsicht ein Erstlingswerk und wäre so sicherlich nicht stehen geblieben, hätte sich ihr Verfasser mit der Kritik einer etablierten Wissenschaft des Judentums auseinandersetzen müssen. Am 18. Juli 1927 erhielt Gulkowitsch schließlich die Venia legendi für die „Wissenschaft vom späteren Judentum“ verliehen, wobei er allerdings seinen Habilitationsvortrag aufgrund fachlicher Mängel ein zweites Mal zu halten hatte.24 Dadurch wurde er zum ersten und wohl auch einzigen Privatdozenten, der als Jude die Wissenschaft des Judentums an einer deutschen Universität vertrat. Nach acht Jahren als Lektor in der Evangelisch-theologischen und fünf Jahren als Privatdozent in der Philosophischen Fakultät stellte Haas zusammen mit Johannes Leipoldt (1880 – 1965) und Albrecht Alt (1883 – 1956) im Juni 1932 den Antrag auf eine außerordentliche Professur für Gulkowitsch, dem am 5. August 1932 stattgegeben wurde.25 Gulkowitschs Ernennung markiert den Höhepunkt der akademischen Anerkennung der Wissenschaft des Judentums durch den deutschen Staat in der Weimarer Republik. Diese ‚Blüte‘ sollte allerdings nur von kurzer Dauer sein. Weil er nur einen Lehrauftrag und keine Festanstellung hatte, fiel Gulkowitsch zwar nicht unter das Berufsbeamtengesetz vom 7. April 1933. Doch in einem Schreiben der Fakultät an das Sächsische Volksbildungsministerium hieß es drei Tage später, dass er seine Stelle wohl verlieren werde, und tatsächlich wurde ihm am 22. September 1933 offiziell die Venia legendi entzogen.26 Gulkowitsch hatte aber insofern Glück, als er nach seiner Entlassung in Leipzig einen Ruf auf eine ordentliche Professur für jüdische Studien an der Universität Tartu (Dorpat) in Estland erhielt. Die vom „Verein jüdischer Wissenschaft an der Universität Tartu“ gestiftete Professur beinhaltete zugleich die Leitung eines neu gegründeten Seminars für jüdische Studien, das sich sehr positiv entwickelte. In Tartu war es sogar möglich, einen Doktorgrad im Fach Judaistik (Dr. phil. litt. jud.) zu erwerben.27 Freilich währte auch hier die Zeit einer ungestörten Lehrtätigkeit nicht lange. Nachdem eine prosowjetische Regierung im August 1940 den Beitritt Estlands zur Sowjetunion vollzogen hatte, wurde das Institut geschlossen und Gulkowitsch entlassen. Als im Jahr darauf im Juli 1941 deutsche Truppen das estnische Staatsgebiet besetzten, befanden sich noch etwa 1000 Juden im Land. Das unter der Leitung des früheren Tübinger Studentenführers Martin Sandberger (1911 – 2010) stehende Sonderkommando 1a begann sogleich nach dem Einmarsch der Wehrmacht mit der planmäßigen Ermordung der estnischen Juden. Bereits am 12. Oktober 1941 schickte Sandberger seinen Vorgesetzen die Erfolgsmeldung, dass es bislang gelungen sei, 440 Juden zu exekutieren.28 Unter ihnen befanden sich Lazar Gulkowitsch, seine Frau und seine beiden Töchter.

Kurz nachdem er aus der Zeitung von Gulkowitschs Entlassung gehört hatte, schrieb der Leipziger Neutestamentler Paul Fiebig (1876 – 1949) am 12. Oktober 1933 an das sächsische Volksbildungsministerium, um sich selbst für dessen Nachfolge ins Gespräch zu bringen. Es sei notwendig, die von Gulkowitsch geleistete Arbeit „unter christliche Leitung zu stellen“ und „in die neutestamentliche Wissenschaft einzugliedern“.29 Ob man ihm etwas über seine Chancen mitteilen könne. Der zuständige Referent im Ministerium riet Fiebig zur Geduld und wandte sich an die Evangelischtheologische Fakultät, wo dessen Vorpreschen Befremden auslöste. Vor allem Haas zeigte sich konsterniert und nannte Fiebigs Verhalten beschämend. Fiebig sei das Sorgenkind der Fakultät. Seine wissenschaftlichen Leistungen würden allseits als ungenügend eingestuft. Für die Stelle käme nur ein geborener Jude in Betracht.30 Fiebig, der 1902 stellvertretender Direktor des Institutum Judaicum Delitzschianum geworden war, hatte seit dieser Zeit eng mit Kahan und später mit Gulkowitsch zusammengearbeitet. Nach dem Ersten Weltkrieg wirkte er als Pfarrer in Leipzig, wo er sich mit Unterstützung Johannes Leipoldts 1924 für Neues Testament habilitieren und 1930 eine außerordentliche Professur erlangen konnte. Roland Deines nennt ihn deswegen einen der Pioniere der rabbinischen Forschung.31 Obgleich Fiebig angab, die Stelle ohne Gehalt übernehmen zu wollen und obwohl er darauf hinwies, dass er in der letzten Zeit für Polizeistellen in Leipzig und Dresden hebräisch geschriebene Briefe überprüft hätte, überwogen die Bedenken gegen ihn.32 Immerhin wurde er 1939 mit Hilfe der Fakultät zum außerplanmäßigen Professor ernannt und in ein Dozentenverhältnis neuer Ordnung, das mit der Verbeamtung und einem festen Gehalt einherging, übernommen. Auch hierbei gab er an, für die Gestapo und die Zollfahndungsstelle gearbeitet zu haben. Er sei der einzige vereidigte Dolmetscher für Hebräisch und Jiddisch in ganz Deutschland. Seine Anbindung an die Universität Leipzig wäre deshalb auch aus politischen Gründen wichtig.33 Es half nichts. Anstelle Fiebigs kam bei der Nachfolge für Gulkowitsch ein noch nicht promovierter Schüler Leipoldts, Rudolf Meyer (1909 – 1991), zum Zug, der seit dem 1. April 1934 als dessen studentische Hilfskraft arbeitete. Als Leipoldt im Jahr darauf ein Stipendium für Meyer beantragte, argumentierte er zum einen damit, dass dieser eine ausgezeichnete Dissertation über die Stellung des Kindes im Talmud vorgelegt habe. Zum andern sei es in der gegenwärtigen Lage notwendig, dafür zu sorgen, dass das rabbinische Schrifttum von einem Nichtjuden bearbeitet werde, ein Argument, das im Ministerium auf offene Ohren stieß.34 Nachdem Meyer zum Wehrdienst eingezogen wurde, blieb Fiebig der einzige Vertreter für das Lehrgebiet der „spätjüdischen Wissenschaft“.35 Dass sich die jüdische in eine antijüdische Wissenschaft des Judentums verwandelte, zeigt sich auch daran, dass nicht nur Meyer, sondern auch Fiebig und Leipoldt für das 1939 in Eisenach gegründete deutschchristliche Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben arbeiteten.

Eine weitere judaistische Lektorenstelle wurde 1926 an der Universität Halle eingerichtet und im Nebenamt mit Dr. Mojssej Woskin (1884 – 1944) besetzt. Der aus der Ukraine stammende Woskin hatte vor dem Ersten Weltkrieg in Berlin studiert und nach seinem Wechsel an die Universität Halle 1923 mit einer Arbeit über die Entwicklung der hebräischen Sprache promoviert.36 Im gleichen Jahr gründete er in Leipzig die Hebräische Sprachschule Techijja. Auf einen gemeinsamen Antrag der Evangelischtheologischen und der Philosophischen Fakultät hin wurde Woskin 1926 mit dem Lektorat für rabbinische Literatur und Sprache betraut. Da eine hauptamtliche Bestallung abgelehnt wurde, erhielt Woskin nur 100 Reichsmark pro Monat für seine Tätigkeit. Obwohl er am 27. September 1933 entlassen wurde, konnte er nach Einwendungen seitens der Philosophischen Fakultät noch einige Monate in den Räumen der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft weiterarbeiten. 1937 emigrierte er in die Tschechoslowakei, wo er unter anderem Guido Kisch bei seiner Studie über die Prager Universität behilflich war.37 Im Juli 1943 wurde er mit Frau und Tochter nach Theresienstadt und im Oktober des darauffolgenden Jahrs nach Auschwitz deportiert. Dort wurde er am 20. Oktober 1944 ermordet.

Auf Initiative des Orientalisten Paul E. Kahle (1875 – 1964) hatte die Universität Gießen bereits 1918 ein Lektorat für jüdische Studien eingerichtet, dessen Finanzierung jedoch nicht durch den Staat, sondern durch jüdische Geldgeber erfolgte. Die beiden ersten Stelleninhaber, die Rabbiner Dr. Israel Abraham Rabin (1882 – 1951) und Jacob Jechiel Weinberg (1884 – 1966), unterrichteten nur wenige Semester, denn als Kahle 1923 einen Ruf an die Universität Bonn annahm, kam auch das Lektorat zum Erliegen.38 Nachdem Kahles Nachfolger, der Assyriologe Julius Lewy (1895–1963), einen neuen Anlauf unternommen hatte, konnte die Lektorenstelle 1927 wieder aktiviert und mit Samuel Bialoblocki (1888 – 1960) besetzt werden.39 Doch auch jetzt stimmte das Hessische Landesamt für das Bildungswesen dem beantragten Lektorat für nachbiblisches Judentum nur deshalb zu, weil die israelitische Kultusgemeinde in Hessen die Finanzierung übernahm.40 Bialoblocki, der in Berlin Orientalistik studiert hatte, promovierte 1928 in Gießen mit einer Arbeit zum islamischen und jüdischen Eherecht. So wie Rabin parallel zu seinem Gießener Lektorat eine Lehrtätigkeit an der Universität Frankfurt ausgeübt hatte, so unterrichtete Bialoblocki seit 1932 gleichzeitig als Hilfskraft für nachbiblisches Judentum und Neuhebräisch an der nahe gelegenen Universität Marburg. Im April 1933 aufgefordert, seine Tätigkeit einzustellen, konnte er noch bis zur endgültigen Entscheidung für einige Monate weiterarbeiten, weil sich die Evangelischtheologische Fakultät für ihn einsetzte. Am 22. September 1933 wurde Bialoblocki der Marburger und wenige Tage später am 4. Oktober 1933 auch der Gießener Lehrauftrag entzogen.41 Er emigrierte noch im gleichen Jahr nach Palästina und wurde 1957 Direktor des Talmuddepartments an der Bar Ilan Universität in Israel.42

Im Grunde genommen kann man bei den genannten Lektoraten, wenn überhaupt, nur ansatzweise von einer universitären Vertretung der Wissenschaft des Judentums sprechen. Weder hatten ihre Inhaber irgendeinen gefestigten oder gar etatisierten Status, noch waren sie frei, ihre Lehrtätigkeit unabhängig von den an sie gerichteten Vorgaben und Erwartungen zu gestalten. Eigentlich kann nur die Privatdozentenstelle Lazar Gulkowitschs in der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig dazugerechnet werden. Als Mitarbeiter in einer theologischen Fakultät waren die jüdischen Lektoren ausländische Gastarbeiter im Weinberg des Herrn. Ihre Anstellung beruhte allein darauf, dass keine einheimischen Fachkräfte zur Verfügung standen. Diese Art der Wissenschaft entsprach im alten Sinn des Wortes einer ancilla theologiae. Jüdische Lektoren leisteten einen Beitrag dazu, die Wahrheit des Christentums auf den von der Theologie vernachlässigten Gebieten der Rabbinica und Hebraica zu bestätigen. Sicherlich boten unterschiedliche Seminare unterschiedliche Spielräume. Doch ließ der Status der Lektoren keinen Zweifel an ihrer Funktion als untergeordnetem Dienstpersonal aufkommen, das zu tun und zu lassen hatte, was man ihm vorgab. Könnte man unter Berücksichtigung des ‚Aufschwungs‘, den Gulkowitschs Lehrtätigkeit in Leipzig nahm – und ohne seine Entlassung weiter genommen hätte – ein weniger negatives Urteil fällen? Wenn dem zarten Pflänzchen einer Wissenschaft des Judentums mehr Zeit vergönnt und ein besserer Boden bereitet gewesen wäre, hätte sie zweifellos kräftigere Triebe schlagen und in weiteren Farben und Formen aufblühen können. Doch der Same fiel unter die Dornen. Mehr noch, was er in wenigen Jahren hervorzubringen in der Lage war, wurde nach 1933 mit kräftiger Hand ausgejätet und als Unkraut vernichtet. An der Geschichte der judaistischen Lektorate zeigt sich, welch enge Grenzen der Judenemanzipation im deutschen Hochschulwesen gesetzt waren. Die politischen Veränderungen hatten in der Weimarer Republik zwar die Berufung eines jüdischen Professors prinzipiell möglich und an einigen Universitäten auch selbstverständlich gemacht. Aber das Zugeständnis beschränkte sich in der Hauptsache auf die naturwissenschaftlichen Fächer, die Rechts- und Staatswissenschaft und die Medizin. Sensible Disziplinen, in denen die weltanschaulichen Grundlagen und das nationale Selbstverständnis des Staates abgehandelt wurden, standen den Juden längst nicht in gleicher Weise offen. Auch in der Hochphase der Judenemanzipation blieb es völlig undenkbar, dass den Juden auch nur ein Lehrstuhl zugestanden worden wäre, der sich mit der Geschichte des Judentums beschäftigt oder die Möglichkeit zur Ausbildung von Rabbinern geboten hätte. Ungeachtet des Weimarer Verfassungsgebots einer Gleichbehandlung aller Religionen blieb die Religion des Judentums von der Universität prinzipiell ausgeschlossen. Das heißt, die Judenemanzipation erfasste zwar den äußeren Bereich der privaten Religiosität, nicht aber die inneren Strukturen des Staates. Wenn der Staat es mit seiner Verfassung ernst gemeint hätte, hätte er entweder die jüdische Religion an der Universität zulassen, oder aber die christlichen Theologien daraus verbannen müssen.

Nur an einer einzigen Universität, der 1912 gegründeten und 1914 inaugurierten Universität Frankfurt, kam es in den 1920er Jahren zur ansatzweisen Berücksichtigung einer jüdischen Theologie bzw. jüdischen Religionswissenschaft. An der Frankfurter Stiftungsuniversität bestand aber insofern eine Sondersituation, als sie in starkem Maße auf der finanziellen Unterstützung durch jüdische Geldgeber beruhte und ganz bewusst ohne evangelische und katholische Theologie konzipiert wurde. Wegen der Absicht, der Frankfurter Universität keine theologischen Fakultäten anzugliedern, erhoben sich bereits im Vorfeld heftige Auseinandersetzungen, in deren Verlauf Martin Rade (1857 – 1940), der bekannte Herausgeber der protestantischen Kulturzeitschrift Die Christliche Welt, verlangte, dem Judentum eine universitäre Vertretung einzuräumen und neben den christlichen auch eine jüdisch-theologische Fakultät einzurichten.43 Wie könne es sein, dass eine lebendige Religion von 600.000 Reichsdeutschen noch immer der staatlichen Anerkennung entbehre? So gut gemeint Rades Idee auch gewesen sein mochte, so wenig Aussicht auf Realisierung bestand für sie. Seine Vorstellung, die Wissenschaft des Judentums und eine jüdische Theologie nach dem Modell der evangelischtheologischen Religionswissenschaft liberalprotestantischer Prägung miteinander zu verbinden, stieß nicht einmal bei den Juden auf allgemeine Zustimmung. Zum einen hatten viele jüdische Wissenschaftler kaum noch einen inneren Bezug zur jüdischen Religion und lehnten es ab, in das Korsett einer jüdischen Theologie eingezwängt zu werden. Und zum andern fürchteten die Vertreter des orthodoxen Judentums, dass Form und Inhalt des jüdischen Glaubens durch eine lediglich wissenschaftliche Behandlung relativiert oder sogar in Frage gestellt werden könnten. Auf evangelischer Seite erhob der Alttestamentler und führende Repräsentant der Religionsgeschichtlichen Schule Hermann Gunkel (1862 – 1932) grundsätzliche Einwände gegen die Etablierung einer jüdisch-theologischen Fakultät an der Universität Frankfurt. Die „gegenwärtige jüdische Wissenschaft“ sei noch weit davon entfernt, dass man sie wissenschaftlich ernst nehmen könne. Wie lasse sich unter solchen Umständen an eine ganze Fakultät denken, schrieb er an Rade. „Vielmehr steht die Sache noch immer so, daß die einzige Konfession, in der wirklich wissenschaftlicher Geist möglich ist, noch immer die evangelische ist.“44 Gunkels gleichermaßen von Überheblichkeit und Unkenntnis geprägtes Urteil lautete deshalb, dass an die Universität Frankfurt zwar die evangelische, nicht aber die jüdische Religion gehöre. Wenn schon ein Vertreter des liberalen Protestantismus derart ablehnend auf Rades Vorstoß reagierte, war auf konservativer und biblizistischer Seite kaum eine positivere Aufnahme zu erwarten.

Die aus Sicht der evangelischen und katholischen Kirche untragbare Situation einer Universitätsneugründung ohne Berücksichtigung ihrer Interessen führte dazu, dass in der Philosophischen Fakultät der Universität Frankfurt schließlich konfessionelle Lehraufträge geschaffen wurden, die den religiösen Bedürfnissen der Studierenden Rechnung tragen sollten. Den Anfang machte Erich Foerster (1865 – 1945), der seit 1914 einen evangelischen Lehrauftrag für die Geschichte der christlichen Religion innehatte. Daraufhin intervenierte der katholische Bischof von Limburg Augustinus Kilian (1856 – 1930) bei den zuständigen Stellen, um ein katholisches Pendant zu etablieren. Er schloss dabei an bereits seit längerem bestehende Initiativen an, die von der preußischen Regierung eine stärkere Vertretung der katholischen Theologie an solchen Universitäten Preußens verlangten, an denen es keine katholisch-theologische Fakultät gab. So wie Politiker des Zentrums zu diesem Zweck in der Preußischen Landesversammlung aktiv wurden, so wandten sich die Bischöfe mehrfach an das Kultusministerium, um ihrem Wunsch nach katholischen Professuren Geltung zu verschaffen.45 Allerdings lösten diese Pläne bei den Protestanten eine massive Gegenbewegung aus, die an der Universität Marburg von Rudolf Otto angeführt wurde. Sie ließen sich deshalb nicht wie gewünscht realisieren, obgleich das Kultusministerium dem katholischen Anliegen wohlwollend gegenüber stand. Der preußische Kultusminister Carl Heinrich Becker (1876 – 1933) erwirkte beim Kuratorium der Universität Frankfurt immerhin, dass es 8000 Reichsmark pro Jahr für einen katholischen Lehrauftrag zur Verfügung stellte. Nach der Zustimmung durch den Limburger Bischof wurde der Münsteraner Privatdozent Johann Peter Steffes (1883 – 1955) im Sommersemester 1922 mit der Abhaltung eines Lehrauftrags für „katholische Religionswissenschaft“ beauftragt. Diese hatte mit ihrem säkularen Pendant jedoch wenig gemein. Öfters wurde für sie der Ausdruck katholische Weltanschauung gebraucht, und de facto entsprach die Lehrtätigkeit von Steffes einer katholischen Weltanschauungslehre. Auch die anderen religionswissenschaftlichen Lehrstellen katholischer Provenienz, die in diesen Jahren an den Universitäten in Münster, Bonn, Würzburg und München geschaffen wurden, dienten expressis verbis dem Ziel, ein katholisches Gegengewicht gegen eine nichtkonfessionelle Religionsforschung zu schaffen, deren Einfluss für gefährlich und den Interessen der Kirchen abträglich gehalten wurde.

Man kann es kaum anders als eine Ironie der Geschichte bezeichnen, dass ausgerechnet die erfolgreiche Intervention des katholischen Bischofs von Limburg den Juden die erste offizielle Vertretung an einer deutschen Universität einbrachte. Denn aus Proporzgründen konnte es das preußische Kultusministerium schlechterdings nicht mehr ablehnen, als der Vorstand der Israelitischen Gemeinde Frankfurts im Mai 1921 daraufhin einen eigenen Antrag für einen jüdischen Dozenten einreichte, dessen Lehrgebiet jüdische Religionswissenschaft und jüdische Ethik beinhalten sollte. Die Weimarer Reichsverfassung hatte es unmöglich gemacht, dieses Gesuch zurückzuweisen. Der erste von der Jüdischen Gemeinde vorgeschlagene Kandidat, der Rabbiner Nehemia Anton Nobel (1871 – 1922), verstarb aber schon im Januar 1922, so dass Franz Rosenzweig (1886 – 1929) an seine Stelle trat. Doch auch Rosenzweig, dem der Lehrauftrag im Dezember 1922 erteilt wurde, konnte ihn krankheitsbedingt nicht wahrnehmen. Er litt an einer amyotrophischen Lateralsklerose, von der er wusste, dass sie in wenigen Jahren zu seinem Tod führen würde. Um das Unternehmen nicht zu gefährden, nahm er den Lehrauftrag an, ohne jemand etwas von seiner Krankheit zu sagen. Gleichzeitig suchte er nach einem geeigneten Ersatzkandidaten.46 Schon seit etlichen Jahren dachte Rosenzweig darüber nach, welche äußere Form die Wissenschaft des Judentums annehmen sollte und wie sie sich in Verbindung mit dem deutschen Universitätssystem bringen ließ. In einem langen Brief an Martin Buber, fragte er diesen am 12. Januar 1923, ob er es sich vorstellen könne, den Lehrauftrag zu übernehmen.47 Rosenzweig leitete seit 1920 die jüdische Volkshochschule in Frankfurt und kannte Buber von seiner Vorlesungsreihe „Religion als Gegenwart“, die dieser von Januar bis März 1922 dort gehalten hatte. Die Chance erkennend, die sich dem Judentum jetzt in Frankfurt bot, sprach Rosenzweig Buber gegenüber von einer kleinen Klinke, die in der Lage sei, ein großes Tor zu öffnen.48

Buber äußerte sich zunächst zurückhaltend, weil er daran zweifelte, ob die Jüdische Gemeinde seine Person akzeptieren und ihm volle Lehrfreiheit gewähren würde. Er wusste sehr gut, dass er aus der Perspektive eines normativen Judentums als unsicherer Kantonist galt und dass seine religiösen und religionsphilosophischen Ansichten längst nicht von allen Juden geteilt wurden. Er ging weder zur Synagoge, noch hielt er sich an die jüdischen Speisevorschriften und nahm ohne Bedenken auch nichtkoscheres Essen zu sich. Mit 14 hatte er schon aufgehört, die Tefillin (Gebetsriemen) anzulegen.49 Rosenzweig konnte Buber mit dem Argument beruhigen, dass die Gemeinde nur über das Vorschlagsrecht und darüber hinaus über keine weiteren Einflussmöglichkeiten verfüge.50 Doch Rosenzweig unterschätzte den Widerstand, der sich gegen seinen Wunschkandidaten erhob. Es kam zu schweren Auseinandersetzungen mit der Folge, dass Buber erst am 8. Dezember 1923 der Lehrauftrag für jüdische Religionswissenschaft und jüdische Ethik übertragen wurde. Der Streit spitzte das allgemeine Problem einer theologisch gebundenen Religionsforschung in einer Weise zu, die der Situation auf protestantischer Seite entsprach. Einerseits sollten solche mit dem Ausdruck Religionswissenschaft umschriebenen Lehrstellen eine theologische Bindung enthalten und selbstverständlich auch eine religiöse Funktion erfüllen. Auf keinen Fall durften sie die durch das Glaubensbekenntnis vorgegebenen Grenzen überschreiten. Andererseits musste ihr wissenschaftlicher Charakter betont und ihren Inhabern ein höheres als das sonst übliche Maß an Lehrfreiheit eingeräumt werden. Die Wirkung derartiger Lehraufträge wäre außerordentlich beschränkt gewesen, hätten sie sich in herkömmlichen theologischen Bahnen bewegt und die nichtchristliche bzw. nichtjüdische Religionsgeschichte vor allem unter dogmatischen und apologetischen Gesichtspunkten behandelt. Zudem entfaltete die nichtkonfessionelle Religionswissenschaft in der Weimarer Republik eine starke Sogwirkung, so dass es wissenschaftlich und hochschulpolitisch zunehmend schwieriger wurde, die partikularen Interessen einer Religion und die Belange der allgemeinen Religionsgeschichte miteinander zu vereinbaren. Die außertheologische Religionswissenschaft hatte sich schon lange vor dem Ersten Weltkrieg für die Gleichbehandlung aller Religionen eingesetzt, wie sie in der Weimarer Reichsverfassung Gesetz wurde. Im Ergebnis führte das Zusammenlaufen der beiden Entwicklungslinien einer konfessionellen und einer an der allgemeinen Religionsgeschichte orientierten überkonfessionellen Religionsforschung zur theologischen Religionswissenschaft evangelischer, jüdischer und ansatzweise auch katholischer Provenienz.

Hatte Rosenzweig während des Krieges noch an eine konventionelle jüdisch-theologische Fakultät gedacht, hielt er diese Organisationsform für zunehmend ungeeignet, um den sich nach dem Ersten Weltkrieg manifestierenden religiösen Bedürfnissen des deutschen Judentums gerecht werden zu können. Gleichzeitig lehnte Rosenzweig aber auch eine Wissenschaft des Judentums ab, die sich gänzlich in wissenschaftlichen oder sogar positivistischen Bahnen bewegte und eine religiöse Bindung strikt ablehnte. Er kritisierte deshalb den Kurs, den die Akademie für die Wissenschaft des Judentums unter der Leitung Täublers nahm als dem Anliegen des Judentums unangemessen und zog sich ganz aus ihrer Arbeit zurück. Aus seiner Sicht kam es nicht darauf an, den bereits bestehenden Büchern über das Judentum noch weitere hinzuzufügen.51 Dessen geistige Not würde sich auf diesem Wege niemals überwinden lassen. Seine eigenen Vorstellungen verwirklichte er im Freien Jüdischen Lehrhaus, in das er die jüdische Volkshochschule in Frankfurt mittlerweile überführt hatte. Analog zu einem der Synagoge angegliederten Lehrhaus (bet hamidrasch) sah er in ihm den geeigneten Ort für das gemeinsame Studium der heiligen Schriften des Judentums.52 Dem Ziel einer Wiederverlebendigung der jüdischen Religion diente auch das ehrgeizige Projekt einer neuen Bibelübersetzung, das er zusammen mit Buber in Angriff nahm. Ungeachtet ihrer unterschiedlichen Auffassungen in der Frage des Zionismus und im Hinblick auf die Bedeutung der Synagoge glaubten beide, dass es für die deutschen Juden von elementarer Wichtigkeit sei, wieder ein unmittelbares und lebensmächtiges Verhältnis zu ihrer Religion zu gewinnen. Ihre „Verdeutschung der Schrift“ orientierte sich deshalb mehr an respiratorischen und kolometrischen Gesichtspunkten als an Fragen der Philologie und Ästhetik. Sie sollte bereits im Duktus den jüdischen Geist der hebräischen Bibel zum Ausdruck bringen. Der von Rosenzweig und Buber artikulierte sprachliche Nationalismus wurde aber von jüdischen Literaturkritikern wie Siegfried Kracauer (1889 – 1966) und Walter Benjamin (1892 – 1940) als archaisierend, reaktionär und der völkischen Romantik verdächtig nahe stehend kritisiert.53

Die Schwierigkeiten, die Buber mit der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt hatte, entsprachen dem Misstrauen, das Vertretern der evangelischtheologischen Religionswissenschaft wie Rudolf Otto, Friedrich Heiler (1892 – 1967) und Jakob Wilhelm Hauer (1881 – 1962) auf protestantischer Seite entgegenschlug. Wie bei ihnen, so fürchtete man auch im Falle Bubers eine Aufweichung des rechten Glaubens und eine zunehmend freie Form der Religiosität, von der man nicht so genau wusste, ob sie nicht irgendwann einmal einen „point of no return“ erreichen und den Boden der Tora und der Synagoge ganz hinter sich lassen würde. Vor allem in der allzu unbekümmerten Beschäftigung mit anderen Religionen, besonders denen des indischen Subkontinents, sah man bei Buber die Gefahr einer Relativierung normativer Glaubenswahrheiten zugunsten einer dem eigenen Belieben überlassenen synkretistischen Religionsdeutung. Andererseits war es gerade die Distanz zur Orthodoxie, die den Vertretern der theologischen Religionswissenschaft ihre Popularität und den Ruf einbrachte, wenn schon keine Ketzer, so doch zumindest Vorkämpfer für religiöse Toleranz zu sein. Sie konnten auf diese Weise vielleicht mehr für ihre Religion tun als die Schar der Frommen, deren Wirkungskreis sich gemeinhin auf die eigene Gruppe beschränkt. Abgesehen von einer starken Antipathie jedwedem Formalismus und allen Ausprägungen des Dogmatismus und der Apologetik gegenüber gehörte zu den konfessionsübergreifenden Gemeinsamkeiten der theologischen Religionswissenschaft eine tief sitzende Geringschätzung der „Amtskirche“, deren bürokratische Strukturen, wie sie es selbst erfahren hatten, echtes religiöses Leben bereits im Keim erstickten. Wie sollte unter solchen Umständen den spirituellen Nöten des modernen Menschen abgeholfen werden? Die Repräsentanten der theologischen oder religiösen Religionswissenschaft einigte die Vorstellung eines inneren Zusammenhangs aller religiös Suchenden ebenso wie das Pathos, mit dem sie von der Existenz einer ecclesia invisibilis und eines allgemeinen religiösen Menschheitsbundes sprachen. Auch die Vorliebe für die Mystik und ein sich in religiöser Ergriffenheit ausdrückendes Verhältnis der religiösen Unmittelbarkeit zwischen Mensch und Gott charakterisierte ihre gemeinsame Religionsauffassung. Religionswissenschaftler von Beruf, waren sie Propheten einer neuen Zeit und verkündeten eine Universalreligion jenseits aller konfessionellen Beschränkungen. Dadurch wurden sie in ihren eigenen religiösen Traditionen zu Außenseitern, denen die Religionswissenschaft Hoffnung und ein Stück weit auch eine neue Heimat bot. Offensichtlich brachte die formelle Gleichberechtigung aller Religionen in der Weimarer Republik auch eine jüdische Variante der theologischen oder religiösen Religionswissenschaft hervor, die sich nur unwesentlich von ihrem protestantischen Pendant unterschied. Von einem speziellen jüdischen Wesen, das in einem antisemitischen Sinn völlig neue Ausdrucksformen generieren würde, kann auch auf dem Gebiet der Religionsforschung nicht im Mindesten die Rede sein. Der Institutionalisierungsprozess einer jüdischen Religionswissenschaft an der Universität Frankfurt spiegelt, in ihrem relativen Erfolg wie in ihrem Scheitern, den Stand wider, den die Judenemanzipation in der Weimarer Republik erreicht hatte.

Im Unterschied zu Buber standen Otto, Heiler und Hauer aber als Staatsbeamte in einem festen Arbeitsverhältnis und in der akademischen Hierarchie ganz oben. Buber hatte dagegen nur einen schlecht bezahlten Lehrauftrag, der ihm jederzeit gekündigt werden konnte. So regelmäßig Anträge auf eine finanzielle Aufstockung gestellt wurden, so regelmäßig wurden sie abgelehnt. Sein wissenschaftliches Programm musste Buber in Frankfurt auf der Stufe eines kümmerlichen Lehrauftrags entfalten.54 Am Ende der 1920er Jahre schien sich für ihn kurzzeitig die Möglichkeit einer von Salman Schocken (1877 – 1959) finanzierte Stiftungsprofessur zu eröffnen, doch der Plan ließ sich nicht realisieren. Zusammen mit dem Frankfurter Universitätskurator Kurt Riezler (1882 – 1955) erreichte es der Dekan der Philosophischen Fakultät Walter F. Otto (1874 – 1958) wenigstens, dass Buber am 11. August 1930 zum Honorarprofessor für Religionswissenschaft ernannt und dass ihm außerdem zum Sommersemester 1931 ein bezahlter Lehrauftrag mit der gleichen thematischen Zuschreibung erteilt wurde.55 Das bedeutete nicht nur einen zweiten Lehrauftrag aus dem Bereich der Wissenschaft des Judentums, sondern für Buber auch die Unabhängigkeit von der Jüdischen Gemeinde. Überdies hatte er nun die Möglichkeit, seinen Doktoranden und Schüler Norbert Nahum Glatzer (1903 – 1990) im Nebenfach in Religionsgeschichte prüfen zu können. Glatzer promovierte dann 1931 bei Buber mit Untersuchungen zur Geschichtslehre der Tannaiten, die der Schocken Verlag zwei Jahre später publizierte. Auf Vorschlag des Vorstands der Israelitischen Gemeinde erhielt Glatzer im Juli 1932 außerdem Bubers vormaligen, theologisch gebundenen Lehrauftrag für jüdische Religionswissenschaft und Ethik. Allerdings dauerte die Hochzeit der jüdischen Religionswissenschaft in Frankfurt mit zwei Lehraufträgen kein ganzes Jahr. Nach Erlass des Berufsbeamtengesetzes wurde Glatzer bereits im April 1933 der Lehrauftrag entzogen. Er emigrierte zunächst nach Palästina und siedelte dann 1938 in die USA über, wo er ab 1943 verschiedene Professuren wahrnahm. Von 1950 – 1973 lehrte Glatzer an der Brandeis Universität, Waltham/Massachusetts, und ab 1973 bekleidete er den Lehrstuhl für Judaistik an der Universität Boston.56

In dem von der Universität Frankfurt am 10. April 1933 im Rahmen des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums verschickten Fragebogen trug Buber bei der Frage, ob er „deutsch-arischer Abstammung und frei von jüdischem Rasseneinschlag“ sei, nicht lediglich das Wort „nein“ ein, sondern schrieb selbstbewusst: „Ich bin jüdischer Abstammung und jüdischen Glaubens“.57 Daraufhin legte ihm der Dekan der Philosophischen Fakultät Erhard Lommatzsch (1886 – 1975) „im Interesse eines ruhigen Lehrbetriebs“ am 25. April nahe, auf die Abhaltung seiner Vorlesungen und Übungen im Sommersemester zu verzichten. Aufgrund der politischen Lage sei, wie Lommatzsch zynisch erklärte, mit der Störung seiner Veranstaltungen zu rechnen. Noch grotesker war es, dass Buber kurz darauf eine offizielle Einladung für die am 10. Mai stattfindenden Bücherverbrennung auf dem Frankfurter Römerberg erhielt.58 Der neue, erst am 26. April gewählte Rektor Ernst Krieck (1882 – 1947) rief Anfang Mai in einem an alle Mitglieder des Lehrkörpers verschickten Schreiben dazu auf, der Verbrennung „marxistischen und korruptionistischen“ Schrifttums beizuwohnen. Im Hinblick auf „die große symbolische Bedeutung dieser Zeremonie“ wünsche er eine zahlreiche Teilnahme seitens der Professorenschaft.59 Dass bei der Bücherverbrennung ausgerechnet der evangelische Hochschulpfarrer Otto Fricke (1902 – 1954) die Ansprache hielt, führte Buber vor Augen, wie es um den Dialog zwischen Christen und Juden in Deutschland nunmehr stand, zumal Fricke erklärte, dass es darum gehe, „ein Bekenntnis zum deutschen Wesen abzulegen“. „Vor Gott und der Geschichte“ appellierte Fricke insbesondere an die in Uniform anwesenden Korporationen, bereit zu sein, „Deutschland zu jeder Stunde zu schützen und zu schirmen“. Das zu entzündende Feuer sei ein „Wahrzeichen des Willens“, sich aller zersetzenden und undeutschen Schriften für immer zu entledigen.60 Wie konnte sich Buber nicht von den Worten des Hochschulpfarrers angesprochen fühlen? Am 4. Oktober 1933 wurde ihm als rassefremdem Juden offiziell die Lehrbefugnis entzogen. Weil er sich an die Hoffnung auf eine Besserung der Lage klammerte und weil er in einer solchen Notzeit Deutschland nicht verlassen, sondern am Aufbau eines jüdischen Bildungswesens mitwirken wollte, harrte Buber noch weitere fünf Jahre aus. Im März 1938 emigrierte er nach Palästina und übernahm an der Hebräischen Universität in Jerusalem eine Professur für Sozialphilosophie.

Der folgende Blick auf den religiösen Dialog, den der liberale Jude Martin Buber und der liberale Protestant Jakob Wilhelm Hauer am Ende der Weimarer Republik miteinander führten, veranschaulicht, dass die Judenemanzipation in dieser Zeit ihren Zenit erreicht und zum Teil bereits überschritten hatte. Die Rückkehr alter, offenbar nur verdrängter, aber nicht wirklich überwundener antisemitischer Klischeevorstellungen erfolgte ohne Gegenwehr derjenigen, die bis dahin zu den Befürwortern einer politischen Gleichstellung der deutschen Juden gehörten. Der Emanzipationsgedanke hatte die deutsche Gesellschaft nicht wirklich erfasst und innerlich verändert. Er war offensichtlich nur ein äußerliches Akzidenz, das bereits vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten geopfert wurde, um die schwere ökonomische und politische Krise in der Endphase der Weimarer Republik heil zu überstehen. Buber und Hauer entwickelten ab 1929 eine enge, fast freundschaftliche Beziehung, die auf ähnlich gelagerten religiösen, wissenschaftlichen und politischen Ansichten beruhte. Sie kannten sich von den Vorbereitungen für eine religiöse Weltfriedenskonferenz und einer hierfür geplanten Dialogveranstaltung her, die im Jüdischen Lehrhaus in Stuttgart stattfinden sollte.61 Auch wenn beides nicht zustande kam, ergab sich daraus für Hauer und Buber die Möglichkeit einer Verständigung über das Verhältnis der Religionen untereinander und die Frage, wie sie sich zum Krieg, zum Frieden, zum Sozialismus, zum Volk usw. verhalten sollten. Hauer und Buber glaubten an die Notwendigkeit einer religiösen Erneuerung und teilten die Skepsis gegenüber den etablierten Religionen, denen sie nicht zutrauten, das religiöse Bedürfnis der Gegenwart befriedigen zu können. Aus ihrer Sicht war es gerade deren selbstgerechte Saturiertheit, die als erstes überwunden werden musste. Mit der Besinnung auf die religiösen Tiefenschichten des Menschen und der daraus hervorgehenden Durchgeistigung der Lebensführung zielten Buber und Hauer nicht lediglich auf die persönliche Religiosität des Einzelnen. Sie dachten dabei auch an ein neues Gemeinschaftsgefühl und an eine neue Verbindung von Glaube und Volk. Die auf dieser Grundlage sowohl bei Hauer als auch bei Buber vorhandene Tendenz zu einem religiösen Sozialismus hatte bei beiden einen völkischen Einschlag, der ein gegenläufiges Moment zu dem von ihnen in den Vordergrund gestellten religiösen Universalismus bedeutete. Bei Hauer verengte sich der Gedanke einer religiösen Erneuerung des Volkes nach 1933 zu einer völkischen Religionsdoktrin und führte zur Gründung der Deutschen Glaubensbewegung mit dem ultimativen Ziel, das Christentum als weltanschauliches Fundament des Deutschen Reiches abzulösen.

Hauer hatte nach dem Ersten Weltkrieg als Vikar der evangelischen Kirche in Württemberg eine Gemeinschaft junger Menschen geleitet, die sich nach dem Ort ihrer Zusammenkünfte „Bund der Köngener“ nannte. Seit 1924 veranstalteten die Köngener jährliche Arbeitswochen, bei denen sie über bestimmte Themen diskutierten. Am Anfang ging es vornehmlich um die Auseinandersetzung mit den Positionen der Amtskirche, dann trat die Beschäftigung mit anderen weltanschaulichen Themen in den Vordergrund.62 Unabhängig vom Inhalt hatten diese Treffen einen stark identitätsstiftenden Charakter, der die Gruppe fest um ihren Führer herum zusammenschweißte. Zu der Januartagung 1931 lud Hauer auch Buber ein. Sie stand unter dem Motto „Der Mensch als Maßstab der Gesellschaftsordnung“ und beinhaltete vor allem eine Diskussion des Kommunismus. Buber schrieb Hauer im Mai 1930, dass er gerne kommen werde und dass er dem Anliegen der Köngener geistig nahe stehe.63 Die Arbeitswoche wurde von allen Teilnehmern als ein großer Erfolg im geistigen Ringen um eine wichtige Lebensfrage gewertet, auch wenn Buber durch einige anwesende Nationalsozialisten mit entstellten Talmudzitaten angegriffen wurde. Die nächste Tagung sollte sich mit dem Nationalsozialismus beschäftigen und im darauf folgenden Jahr stattfinden. Aus organisatorischen Gründen musste sie jedoch auf die erste Januarwoche des Jahres 1933 verschoben werden. Sie trug jetzt den Titel „Die religiösen und geistigen Grundlagen einer völkischen Bewegung“. Als Buber im Februar 1931 seine Teilnahme zusagte, konnte er noch nicht wissen, wie sehr sich das ganze Unternehmen nach der völkischen Seite hin verschieben würde. Im September 1932 machte Hauer ihm den Vorschlag, er solle über „die Judenfrage im Zusammenhang mit der völkischen Bewegung“ referieren.64 Doch Buber bekam das Gefühl, dass er politisch instrumentalisiert werden sollte, und lehnte das Vortragsthema in dieser Form ab. So wichtig ihm das Volkstum sei, schrieb er Hauer ins Stammbuch, so halte er „den Gedanken des völkischen Staates für problematisch und seine heute übliche Verabsolutierung für den geraden Weg zur kommenden Katastrophe“.65 Hauer ließ sich davon nicht beirren und wandte sich 14 Tage später erneut an Buber. Er sei der Meinung, dass Buber wie kein anderer etwas Substantielles „zur Lösung der Judenfrage in der Neuorganisation des deutschen Staates“ beitragen könne. „Wenn Sie, wie Sie sagen, keine Vorschläge dazu zu machen haben, so halte ich es doch für wichtig, dass Sie da wären, um zur Judenfrage von Ihrer religiösen Haltung aus Stellung zu nehmen, die ja sowohl das deutsche Volk wie das Judentum betrifft.“ Buber müsse „unsere Schwierigkeit“ doch einigermaßen begreifen. Es stehe doch außer Frage, dass „unser Theater und unsere Literatur“ von den Juden in einer sehr unguten Weise beeinflusst worden sei. „Oder geben Sie mir darin nicht recht?“ Es käme ihm darauf an, von einem Mann jüdischen Glaubens das zu hören, was hier gesagt werden müsse.66

Buber, der nicht realisierte, wie tief die Kluft zwischen ihm und dem von Hauer verwendete Wort „uns“, das heißt zwischen Deutschen und jüdischen Deutschen mittlerweile geworden war, willigte schließlich ein, um den Dialog nicht abbrechen zu lassen.67 Am 4. Januar 1933 hielt er deshalb auf der Kasseler Arbeitswoche einen Vortrag zum Thema „Israel und die Völker“, der nicht nur Bubers politische Naivität zum Ausdruck bringt, sondern der auch eine bedenkliche Annäherung an den völkischen Jargon enthält.68 Möglicherweise wurde Buber im Nachhinein stärker bewusst, auf was er sich eingelassen hatte, denn er lehnte die von Hauer gewünschte Veröffentlichung seines Vortrages ab. Von nationalsozialistischer Seite hatte Hauer den bekannten Erziehungswissenschaftler Ernst Krieck für eine Teilnahme gewonnen, nachdem Alfred Rosenberg (1893 – 1946) auf seine Anfragen nicht reagiert und der spätere Ministerpräsident und Kultusminister Württembergs Christian Mergenthaler (1884 – 1980) wegen Bubers Anwesenheit abgesagt hatte. Krieck trat in Kassel in einer Weise als NS-Propagandist in Erscheinung, die auch andere Teilnehmer als unangenehm empfanden. Nur vier Monate später wurde Krieck Rektor der Universität Frankfurt und somit auch Bubers Vorgesetzter. Von Krieck erhielt Buber die Einladung zur Bücherverbrennung, und über seinen Schreibtisch lief die ministerielle Verfügung, mit der Buber auf den Tag genau neun Monate nach seinem Vortrag in Kassel die Lehrbefugnis entzogen wurde. Von einer lediglich geistigen Auseinandersetzung, wie sie sich Buber vielleicht am Anfang vorgestellt hatte, konnte auf der Kasseler Tagung im Januar 1933 nicht die Rede sein. Außerdem spielte Hauer Buber gegenüber zu diesem Zeitpunkt bereits mit gezinkten Karten. Ohne dass Buber davon wusste, suchte ihn Hauer für eine Mitwirkung bei der Lösung der „Judenfrage“ einzuspannen. Buber sollte als Vertreter einer zionistischen Dissimilation helfen, die Juden aus dem deutschen Volkskörper herauszulösen, ohne ihm dabei Schaden zuzufügen. Hauer diente sich damit sogar dem Sicherheitsdienst der SS an. Am 9. März 1934 schrieb er an Werner Best (1903 – 1989), den Verbindungsmann zwischen der SS und der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung, dass er mit führenden Zionisten in Kontakt stehe und dass nach seiner Einschätzung eine „vertragliche Verständigung“ zwischen den Juden und dem Dritten Reich durchaus möglich sei. Die „schwere Erschütterung unseres Welthandels durch das Judentum“ hätte sich vermeiden lassen, wenn man auf diese Weise vorgegangen wäre. Dass die Zionisten das Judentum in Palästina wieder „zu einem klar abgegrenzten Volk“ machen wollten, solle man ausnützen.69 Hauer tat so, als ob er die geeignete Persönlichkeit sei, die hier als Vermittler aktiv werden könnte. Etwa vier Wochen danach traf er sich in München zu einer Besprechung mit Heinrich Himmler (1900 – 1945) und Reinhard Heydrich (1904 – 1942), um dann wenig später selbst in den SD einzutreten.70

Im August 1934 nahm Hauer mit Buber zusammen an der zweiten Eranos-Tagung im schweizerischen Ascona teil. Eigentlich sollte es bei diesen Treffen nur um einen geistigen Austausch zwischen westlicher und östlicher Spiritualität gehen und die Politik ausgeschlossen bleiben. Doch Hauer hielt sich nicht daran und brach eine Lanze für das politische System des Nationalsozialismus.71 Darüber hinaus bespitzelte er Buber für den SD. Der von ihm verfasste Bericht über Buber ist zwar nicht überliefert, aber es existiert eine Zusammenfassung, die offenbar von Paul Zapp (1910 – 1999), dem zeitweiligen Generalsekretär der Deutschen Glaubensbewegung und Schüler Hauers, angefertigt wurde. Zapp kam über Hauer in Kontakt mit der SS und wurde im Juli 1934 Mitglied und im Februar 1936 hauptamtlicher Mitarbeiter des SD. Sein Weg führte ihn vom Reichssicherheitshauptamt in Berlin zum Einsatzkommando 11a der Einsatzgruppe D. In dem Memorandum von Zapp heißt es, dass Buber ein herausragender Führer des jüdischen Volkes sei, der dessen Fehlentwicklungen erkannt und kritisiert hätte. Hauer schwebe ein Vertrag zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und den führenden Repräsentanten des deutschen Judentums vor, um auf diese Weise zu einer gütlichen Lösung der „Judenfrage“ zu kommen. Eine solche Regelung

„würde der Greuelpropaganda im Ausland, die in der Hauptsache von den Juden ausgeht, die Spitze abbrechen und wäre ein wichtiger Faktor im Kampf gegen den wirtschaftlichen Boykott, der von Emigranten inszeniert, dann von vielen anderen aufgenommen wurde, die die Situation für sich ausnutzen wollen“.72

Vier Jahrzehnte später verfasste Zapp, nun bereits im Gefängnis sitzend, am 1. Juni 1975 eine Niederschrift, in der er erneut Hauers Beziehung zu Buber thematisierte. Zapp charakterisierte Hauer hier als jemand, der in der „Judenfrage“ nur das Beste gewollt habe. Bei „höchsten Staatsstellen“ sei er vorstellig geworden, um eine Entschärfung des Verhältnisses zwischen Juden und Deutschen zu erreichen. „Insbesondere weiß ich aus unmittelbarer Erfahrung, daß er bemüht war, in der Judenfrage eine menschlich tragbare Lösung zu entwerfen und führende Stellen der nationalsozialistischen Partei dafür zu gewinnen.“ Der für die Tötung von mehr als 13.000 Juden verurteilte Massenmörder Zapp fügte seiner Stellungnahme über Hauer den zynischen Satz hinzu: „Auch er mußte erkennen, daß es nicht in seiner Macht lag, das Unheil abzuwenden.“73

Die doppelbödige Haltung Hauers, der nach außen religiöse Toleranz predigte, aber hinter den Kulissen als gewöhnlicher Antisemit in Erscheinung trat, zeigte sich schon fünf Jahre vorher, als er 1927 nach einer zweijährigen Lehrtätigkeit in Marburg wieder nach Tübingen zurückkehrte. In einem Schreiben an das preußische Kultusministerium plädierte Hauer dafür, nicht den Juden Otto Strauß (1881 – 1940) zu seinem Nachfolger zu ernennen, weil die Marburger Philosophische Fakultät „schon ein reichliches Element semitischen Blutes“ habe. Im gleichen Atemzug bezeichnete er sich selbst aber als einen „scharfen Gegner des landläufigen Antisemitismus“.74 Acht Jahre später richtete Hauer im März 1935 eine offizielle Eingabe an den Reichserziehungsminister Bernhard Rust (1883 – 1945), in der er verlangte, den Gleichschaltungsprozess in der deutschen Indologie fortzusetzen und die noch verbliebenen jüdischen Wissenschaftler ihrer Ämter zu entheben. Der jüdische Geist sei prinzipiell unfähig, das indoarische Denken zu verstehen. Juden hätten deshalb in der Indologie nichts verloren.75 An der Universität Tübingen suchte Hauer bereits vor dem nationalsozialistischen Machtwechsel die Anstellung jüdischer Dozenten zu verhindern. Ihm sei schon damals klar gewesen, dass eine „Reinigung des deutschen Volks vom jüdischen Element“ gerade an den Universitäten durchgeführt werden musste. Wie er im März 1934 Werner Best mitteilte, hätte er sich aus diesem Grund energisch dagegen gewandt, dass mit Richard Laqueur (1881 – 1959) „ein Professor, der zwar christlich getauft war, aber jüdischer Abstammung ist“, einen Ruf nach Tübingen erhalten konnte.76 Mit einigen anderen sei er in einem Sondervotum für die „Berufung eines deutschblütigen Professors“ eingetreten. Doch der Kampf sei den damaligen politischen Umständen entsprechend vergeblich gewesen. Vielmehr seien sie von dem Mediävisten Johannes Haller (1865 – 1947) wegen ihres Antisemitismus wild bekämpft worden.77

Bei Laqueur handelte es sich nicht nur um einen ausgewiesenen Althistoriker, sondern auch um ein aktives Mitglied der politischen Rechten, dessen deutschnationale Einstellung der Hallers kaum nachstand.78 Im Ersten Weltkrieg hatte Laqueur als Hauptmann ein Feldartellerieregiment angeführt und dafür hohe militärische Auszeichnungen erhalten. 1923 nahm er am Ruhrkampf teil. Mit dem Argument der nationalen Unzuverlässigkeit ließ sich seine Berufung schwerlich verhindern. Gleichwohl zog Laqueur den Unmut der nationalsozialistischen Studenten auf sich. Für die am 13. März 1932 stattfindende Reichspräsidentenwahl hatte er eine vaterländische Wahlkampfveranstaltung für Paul von Hindenburg (1847– 1934) mitorganisiert, zu der in einer großen Zeitungsannonce aufgerufen wurde. Aufgrund dieser Anzeige veröffentlichte Alfons Gerometta für die Tübinger Hochschulgruppe des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes am 11. März einen Gegenartikel, der in markigen Worten gegen den jüdischen und zugleich deutschnational sein wollenden Professor agitierte. Laqueur, dem Gerometta das Recht absprach, für Hindenburg einzutreten, solle „sehr, sehr vorsichtig mit dem Wort vaterländisch“ umgehen. In nicht ganz korrektem Deutsch endete der Beitrag mit einer desto unverhüllteren Drohung: „Die hiesige Studentenschaft und das wissen Sie doch, daß sie in Adolf Hitler ihren Führer sieht, wird sich Ihrer mit großer Vorliebe einmal annehmen“.79 Angesichts einer derart aggressiven Hetze konnte man es Laqueur kaum verdenken, dass er 1932 einen Ruf an die Universität Halle annahm. Dort konnte er dank seines Frontkämpferbonus noch vier Jahre unterrichten, bevor er 1936 zwangsweise in den Ruhestand versetzt wurde. Nicht wegen seines Antisemitismus, sondern weil er mit seinem Artikel „gegen die Ordnung und die guten Sitten des akademischen Lebens“ verstoßen habe, wurde Gerometta vom Disziplinarausschuss der Universität für ein halbes Jahr der Hochschule verwiesen.80 Die Universität konnte das ungebührliche Verhalten des Jurastudenten Gerometta umso weniger tolerieren, als sie in ihrer Mehrheit die nationalkonservativen Ansichten Laqueurs teilte. Doch im Juli des darauf folgenden Jahres wurde Gerometta wieder amnestiert, nachdem er im Februar 1933 wegen seiner politischen Aktivitäten bereits zum Landesführer des NSDStB aufgestiegen war.81 Der politische Zwist zwischen den Studierenden und Lehrenden betraf keineswegs den auf beiden Seiten weit verbreiteten Antisemitismus, als vielmehr die revolutionäre Militanz der Studenten, die auch vor der konservativen Professorenschaft und den Hierarchien der Ordinarienuniversität keinen Halt machte. Schon in der Anfangsphase der Weimarer Republik waren die Studierenden und ihre Organisationen deutlich nach rechts gerückt, wobei ihre politische Radikalisierung durch einen starken antisemitischen Impuls vorangetrieben wurde.82 Besonders in den annähernd 50 studentischen Verbindungen, denen 70 – 80 Prozent der Studierenden angehörten, gewann der Antisemitismus an Boden.83 Der im April 1919 in Tübingen gegründete Nationale Studentenbund führte im Dezember 1920 den Arierparagraphen ein. Er ging im Februar 1921 in den Tübinger Zweig des Hochschulrings Deutscher Art über, der vor allem von den Burschenschaften und den schlagenden Verbindungen getragen wurde und in dem der Antisemitismus einen festen Programmpunkt bildete.84

Bis zur Mitte der zwanziger Jahre erließen fast alle Tübinger Studentenverbindungen Bestimmungen, die eine Mitgliedschaft von Juden untersagten.85 Nicht selten kam es zu Zwischenfällen und zu Übergriffen mit einem antisemitischen Hintergrund in der Stadt. In einem besonders gravierenden Fall hatte eine Meute von etwa 50 Studenten den Tübinger Holzhändler Ludwig Marx am 18. Januar 1923 nach einer Rheinlandkundgebung in aufgereizter Stimmung überfallen und mit Zurufen wie „Schlagt den Juden tot“ schwer misshandelt.86 Bis die von Ludwig Marx erstattete Anzeige vor Gericht verhandelt wurde, verging ein ganzes Jahr. Der Prozess führte durchweg zu Freisprüchen und in einigen wenigen Fällen zu Geldstrafen. Wiederum ein Jahr später kam es am 10. März 1924 vor dem Disziplinarausschuss der Universität zu einer Verhandlung gegen die beiden Rädelsführer Emil Fauth und Julius Hergarden, über die ein umfängliches Protokoll in den Universitätsakten überliefert ist. Die Urteilsbegründung erfolgte ganz im Sinne der Studenten und warf dem Juden Marx ein „aufreizendes Verhalten“ und verächtliche Blicke auf die Kriegsabzeichen Fauths vor.87 Und wie einige Jahre später bei Alfons Gerometta beschied der Disziplinarausschuss lediglich, dass Fauth „gegen die Anforderungen der Ordnung und guten Sitte des akademischen Lebens“ verstoßen und die Grenze des Erlaubten überschritten habe. Die schwere Körperverletzung endete schließlich mit einem Verweis und der ‚Verurteilung‘ zur Übernahme der Prozesskosten. Wie Gerometta wurden auch Fauth und Hergarden am 27. Juli 1933 amnestiert und galten nun als tapfere Vorkämpfer für die Sache des Nationalsozialismus.

Der 1926 gegründete Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund gehörte zu den wichtigsten Organisationen, in denen sich lange vor dem Dritten Reich ein militanter Antisemitismus konsolidierte. Der NSDStB bildete nicht nur die Speerspitze der studentischen, sondern der universitären Judenfeindschaft insgesamt. Entgegen der Meinung Martin Biastochs lässt sich der Befund Norbert Kampes über die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus im Kaiserreich auch auf Tübingen übertragen.88 Die Entwicklung eines studentischen Antisemitismus verlief in Tübingen nicht grundsätzlich anders als an anderen Hochschulorten. Biastochs Einwand, dass einzelne Juden trotz gegenteiliger Beschlüsse in die eine oder andere Studentenverbindung aufgenommen wurden, erweist sich bei näherer Betrachtung als wenig stichhaltig, da solche Ausnahmen von der Regel auf persönlichen Motiven und nicht etwa auf der Idee beruhten, den Antisemitismus unterlaufen zu wollen. Dass der antisemitische Verein deutscher Studenten in Tübingen möglicherweise weniger einflussreich war als anderswo, kann ebenso wenig als Gegenargument gelten, weil es voraussetzt, dass dieser über eine Art antisemitisches Monopol unter den Studierenden verfügt hätte, und weil es nicht berücksichtigt, dass es an der Universität Tübingen so gut wie keine jüdischen Studenten gab, an denen sich judenfeindliche Aktionen entzünden konnten. Das gilt auch für das Fehlen spektakulärer Manifestationen des studentischen Antisemitismus, Biastochs dritter Einspruch.89 Vielmehr muss die niedrige Zahl jüdischer Studenten gerade umgekehrt als Beleg für einen vorhandenen Antisemitismus oder, etwas weiter formuliert, für ein politisches Klima genommen werden, das Juden keine Entwicklungsmöglichkeit ließ. Für die Zeit der Weimarer Republik lässt sich definitiv sagen, dass die Universität Tübingen nicht nur nicht attraktiv für jüdische Studierende, sondern über die Maßen abweisend war. Als sich beispielsweise die Universität München 1922 in Tübingen nach den Zulassungskriterien für Ausländer erkundigte, erteilte die Universitätsleitung folgende Antwort:

„Das akademische Rektoramt nimmt insofern Einfluß auf die Zusammensetzung der Studentenschaft, als es, wenn irgend möglich, rassefremde Ausländer (namentlich Ostjuden) nicht zuläßt und deren Deutschstämmigkeit, wenn sie behauptet wird, verneint.“90

Ein solches Votum verdeutlicht in aller Klarheit, wie es um die Bereitschaft stand, Juden in Tübingen zum Studium zuzulassen. Noch bemerkenswerter ist an dieser Stellungnahme, dass sie über zehn Jahre vor der nationalsozialistischen Machtübernahme den Gedanken der Rasse als Ausschließungskriterium und darüber hinaus als interne Handlungsdirektive benutzte, um „namentlich Ostjuden“ den Zugang zur Universität zu verwehren. Dass die Quote jüdischer Studenten in Tübingen deutlich unter einem Prozent und somit weit unter dem Reichsdurchschnitt lag, kann gar nicht anders als Konsequenz einer bewusst selektierenden Zulassungspolitik interpretiert werden.91 Es wäre absurd, aus der niedrigen Zahl jüdischer Studenten auf einen geringen Antisemitismus zu schließen. Auch die Studenten selbst drangen darauf, die Studiengesuche von Ausländern abzulehnen, sofern es sich dabei um Juden und nicht um Angehörige der „germanischen Rasse“ handelte. Dem Auslandsamt des AStA hatte der akademische Senat das Recht zugestanden, solche Zulassungsanträge zu begutachten und zu kommentieren. Vor allem bei den so genannten „Ostjuden“ fiel das studentische Votum eindeutig aus.92

Die wenigen jüdischen Studenten in Tübingen hatten es entsprechend schwer, sofern sie ihre Zugehörigkeit zum Judentum nicht verheimlichten. Um sich gegen die antisemitische Hetze zur Wehr zu setzen, gründete ein Teil von ihnen im November 1919 den „Abwehrbund jüdischer Frontsoldaten an der Universität Tübingen“.93 Die jüdischen Studenten wollten es nicht tatenlos hinnehmen, dass sie im Ersten Weltkrieg ihr Leben für Deutschland eingesetzt hatten, nun aber als vaterlandslose Gesellen beschimpft wurden. Eine andere Möglichkeit, sich zusammenzuschließen und gemeinsame Problem zu bereden, bot die von Joseph Wochenmark (1880 – 1943) und seiner Frau Bella (1887 – 1944) betriebene koschere Pension in der Wöhrdstraße 23. Sie wurde auch für Studenten, die nicht dort wohnten, zu einem Ort der Begegnung und des politischen und geselligen Austauschs. Joseph Wochenmark war seit 1925 als Lehrer und Vorsänger der jüdischen Gemeinde angestellt. Noch 1933 promovierte er mit einer Arbeit über die jüdische Schicksalsidee bei Jakob Wilhelm Hauer.94 Als er und seine Frau zehn Jahre später von Stuttgart aus in den Osten verfrachtet werden sollten, unternahm das Ehepaar am 8. März 1943 einen gemeinsamen Selbstmordversuch, den Joseph Wochenmark nicht überlebte. Bella Wochenmark wurde wenige Wochen später im April 1943 nach Theresienstadt und im Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert, wo sie unter nicht geklärten Umständen umkam bzw. ermordet wurde.95

Lag das Quorum jüdischer Studenten an der Eberhard Karls Universität bereits außerordentlich niedrig, tendierte es bei den Professoren auch in der Weimarer Republik gegen Null. Der erste jüdische Professor im 20. Jahrhundert wurde Alfred Landé (1888 – 1976), der sich selbst freilich als konfessionslos empfand und, wie so oft, erst durch den Antisemitismus dazu gebracht wurde, über seine Abstammung nachzudenken. Bereits im Vorfeld seiner Berufung auf das Extraordinariat für Theoretische Physik kam es 1922 zu Protesten und zu großenteils unsachlichen Auseinandersetzungen. Gegen das Argument der Befürworter, nur wissenschaftliche Gesichtspunkte gelten zu lassen, wandte Johannes Haller ein, dass ein Hochschullehrer nun einmal eine Vorbildfunktion für die Jugend habe, und dass man deswegen nicht von den dunklen Flecken in Landés Vita absehen könne.96 Ohne auch nur die Spur eines Beweises beizubringen, wurde Landé unterstellt, dass er Kommunist sei und durch falsche Angaben über die Art und Dauer seines Einsatzes im Ersten Weltkrieg versucht habe, sich ein nationales Image zu erschleichen.97

Der seit 1901 in Tübingen lehrende Physiker Friedrich Paschen (1865 – 1947) hatte erhebliche Mühe, seinen Kandidaten durchzubringen. Paschen wusste, dass die jüdischen Vorfahren Landés den eigentlichen Hinderungsgrund darstellten und sprach von „unwissenschaftlicher Hetze“. Er werde sich auf keinen Fall der Ablehnung Landés beugen.98 Erst als er massiv damit drohte, sich bei der Berufung eines anderen Kandidaten jeglicher Zusammenarbeit zu verweigern, setzte sich das Ministerium über die Entscheidung des Senats hinweg und folgte dem Sondervotum Paschens und einiger Kollegen.99 Bevor Landé im September 1922 berufen werden konnte, traf ihn aber vorher noch ein Vertreter des Stuttgarter Kultusministeriums, Ministerialrat Dr. Buhl, zu einem persönlichen Gespräch, um ihn nicht zuletzt nach jüdischen Eigenschaften hin in Augenschein zu nehmen. Dabei habe Landé einen nichtjüdisch sympathischen Eindruck erweckt. „Sein Aeusseres verrät kaum den Juden“, meldete Buhl am 19. September 1922 über sein Treffen an das Ministerium weiter.100 Hätte Landé Buhls Klischeevorstellungen entsprochen, wäre er mit ziemlicher Sicherheit nicht berufen worden. 1929 erhielt Landé die Einladung zu einem Forschungsaufenthalt in die USA. Die sich daraus ergebenden Kontakte erlaubten es ihm, Deutschland zu verlassen und 1931 an der Ohio State University eine Professur anzunehmen. Ein Jahr vor seinem Tod sagte Landé in einem Interview, dass ihn die Tübinger Ereignisse und der antisemitisch motivierte Streit um seine Berufung schwer mitgenommen hätten. Dadurch sei er sich seiner jüdischen Abkunft überhaupt erst bewusst geworden.101

Paschen war für die damaligen Verhältnisse ein außerordentlich liberaler Hochschullehrer, der keine Probleme damit hatte, Juden bei sich anzustellen oder, ebenso ungewöhnlich, eine Frau als Promovendin anzunehmen. Durch seinen Einsatz für Landé hatte er sich allerdings an der Universität ins Abseits manövriert und nahm es dankbar an, als er 1924 die ehrenvolle Berufung zum Direktor der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt in Berlin erhielt.102 Für Paschen waren die Auseinandersetzungen um Landé nicht die erste Erfahrung mit dem universitären Antisemitismus in Tübingen. Zwei Jahrzehnte vorher hatte er die Habilitation seines jüdischen Assistenten Richard Gans (1880 – 1954) nur mit großer Mühe und gegen erbitterte Widerstände durchsetzen können. Auch damals verwahrte sich Paschen dagegen, dass die Karriere eines jungen und begabten Physikers aufgrund politischer Borniertheit verhindert werden sollte. Wie er im Juli 1903 an seinen akademischen Lehrer in Bonn Heinrich Kayser (1853 – 1940) schrieb, sei die Habilitation von Gans fast unmöglich gewesen. In Tübingen werde „einer alten Tradition gemäß“ kein Jude in den Lehrkörper hineingelassen, so unmoralisch und unzeitgemäß das auch sei. Die Argumentation Paschens verdient es, ausführlich zitiert zu werden:

„Da kommt noch ein anderer Punkt. Hr. Dr. Gans ist jedenfalls israelischer Abstammung, wenn er auch jetzt wahrscheinlich keinen Gebrauch mehr von seiner Religion macht. Es hat mich große Kämpfe gekostet seine Habilitation hier durchzusetzen, da hier einer alten Tradition gemäß kein Jude im Lehrkörper sein soll. So unzeitgemäß und unmoralisch dies auch ist, so ist es doch einmal eine Thatsache, mit der ich rechnen muß.“

Wenn jetzt, wie Kayser vorgeschlagen hatte, ein weiterer jüdischer Habilitand nach Tübingen käme, würde ein Sturm der Entrüstung gegen ihn losbrausen. „Ob ich ein zweites Mal dagegen aufkäme, scheint mir zweifelhaft“. Wäre der Kandidat „mit Sicherheit Israelit, so wäre es besser für ihn, sich hier nicht zu melden. Ich würde ja gerne bereit sein, auch für ihn eine Lanze zu brechen, falls er ein tüchtiger und aussichtsreicher junger Physiker ist. Aber ich fürchte, daß es vergeblich wäre, wenn meine Vermuthung betr. der Religion zutrifft.“103

Die erfolgreiche Lehr- und Forschungstätigkeit von Gans veranlasste Paschen fünf Jahre später, eine außerordentliche Professur für seinen Schüler zu beantragen. Dass nun sowohl die Naturwissenschaftliche Fakultät als auch der Senat Paschens Vorstoß befürwortete und dass seine Königliche Majestät am 30. Dezember 1908 „allergnädigst geruhte, dem Privatdozenten Dr. Richard Gans, Assistent am physikalischen Institut der Universität Tübingen, den Titel und Rang eines außerordentlichen Professors zu verleihen“,104 lag auch an seinen wissenschaftlichen Verdiensten, die dazu beitrugen, das Ansehen der Universität zu erhöhen. Noch wichtiger war es aber, dass sich Gans bereits während des Studiums vom Judentum abgewandt und in einen durch und durch nationalistischen Deutschen verwandelt hatte. Während des Ersten Weltkriegs verlor er einen großen Teil seines Vermögens durch die Zeichnung von Kriegsanleihen, und auch die Aussage eines Zeitgenossen, dass Gans Nationalsozialist geworden wäre, wenn ihn nicht seine jüdische Abstammung daran gehindert hätte, mag nicht ganz aus der Luft gegriffen sein.105 Als sich Gans 1911 an die Universität Straßburg umhabilitierte, verlor er mit dem Verlassen des Königreichs Württemberg zunächst auch seinen Titel als außerordentlicher Professor. Auf Initiative des Straßburger Rektors beim Kaiserlichen Statthalter in Elsaß-Lothringen wurde Gans am 3. Januar 1912 jedoch erneut der Professorentitel verliehen.106 Im gleichen Jahr wechselte Gans auf eine ordentliche Professur an die Universität La Plata in Argentinien. 1925 erhielt er einen Ruf an die Universität Königsberg, den er mit Freuden annahm, um nach Deutschland zurückzukehren zu können. Für eine Lehrtätigkeit in seinem Heimatland blieb ihm noch ein Jahrzehnt, da er 1935 wegen seiner jüdischen Vorfahren in Königsberg im Alter von 55 Jahren zwangsweise in den Ruhestand versetzt wurde.107

Der spätere Nobelpreisträger Hans Albrecht Bethe (1906 – 2005) wurde an der Universität Tübingen im Wintersemester 1932 / 33 mit der Vertretung des Extraordinariats für Theoretische Physik betraut. Sein Werdegang ähnelt in gewisser Weise dem Landés. Bethe gehörte ebenfalls der Sommerfeldschule der Theoretischen Physik an und war 1928, vierzehn Jahre nach Landé, bei Arnold Sommerfeld (1868 – 1951) in München promoviert worden. Und auch unter Bethes Vorfahren befanden sich etliche Juden, da seine Mutter Anna geb. Kuhn (1876 – 1966) aus einer jüdischen Familie stammte. Bethes jüdischer Großvater hatte es sogar geschafft, an der Universität Straßburg Professor für Medizin zu werden.108 Als Bethe geboren wurde, lehrte auch sein Vater als Privatdozent in Straßburg. Dieser erhielt 1915 einen Ruf an die neu gegründete Universität Frankfurt, wo sein Sohn deshalb 1924 ein Studium der Physik, Mathematik und Chemie aufnahm. Hans Bethe wurde christlich erzogen und wuchs in einem betont liberalen und demokratischen Elternhaus auf. Sein Vater, der bekannte Physiologe Albrecht Bethe (1872 – 1954), ließ sich als Kandidat für die Demokratische Partei bei den Wahlen zum Stadtparlament aufstellen und pflegte enge Beziehungen zur sozialistischen Stadtregierung, nachdem er 1917 zum Rektor der Universität gewählt worden war.109 Bereits in jungen Jahren sei er für politische Fragen sensibilisiert worden, schrieb Hans Bethe später.110 Dass er die allgemeine Atmosphäre in Tübingen als bedrückend empfand, wird auf dem Hintergrund seiner familiären Situation leicht verständlich. In einem Brief an Uwe Dietrich Adam schrieb er Ende 1975, dass er sich „wegen der allgemeinen Einstellung des Lehrkörpers“ von Beginn an unwohl gefühlt habe.111 Selbst in seinen Vorlesungen hätten viele Studenten das Braunhemd und die Embleme der nationalsozialistischen Organisationen getragen.112

Bethe rechnete nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten bereits damit, dass er wegen seines „Geburtsfehlers“ unter das Beamtengesetz fallen würde. Er bat deshalb in einem langen Brief an Arnold Sommerfeld am 11. April 1933 um Rat, wie er sich verhalten solle und inwieweit für ihn eine Chance im Ausland bestünde. Es sei nicht anzunehmen, „daß der Antisemitismus sich in absehbarer Zeit abschwächen wird, und auch nicht, daß man die Definition des Ariers abändern wird.“113 Neun Tage später wurde Bethe dann tatsächlich die Lehrbefugnis entzogen. Er erfuhr als erstes von einem Doktoranden davon, der brieflich bei ihm anfragte, was er denn nun tun und wen er sich jetzt zum Doktorvater nehmen solle.114 Bethe emigrierte im Oktober 1933 nach England, um von dort aus 1935 in die USA überzusiedeln. Unter dem Eindruck des Dritten Reiches und seiner Kriege wirkte er bei der Entwicklung der amerikanischen Atom- und Wasserstoffbombe mit. Später distanzierte er sich jedoch davon. 1995 rief er in einem offenen Brief an seine Kollegen dazu auf, die Arbeit an den Nuklearwaffen einzustellen. Unter der großen Zahl seiner wissenschaftlichen Ehrungen ragt zweifellos der Nobelpreis für Physik heraus, den Bethe 1967 erhielt.

Wie sehr sich die Universität gegen die Aufnahme jüdischer Professoren zur Wehr zu setzen wusste, wird auch am Beispiel Victor Ehrenbergs (1891 – 1976) ersichtlich, der sich wie Richard Laqueur auf die Nachfolge für den nach dem Weggang Joseph Vogts (1895 – 1986) freigewordenen Lehrstuhl für Alte Geschichte beworben hatte. Im Gegensatz zu Laqueur war der 1920 in Tübingen promovierte und mit Franz Rosenzweig befreundete Ehrenberg aber kein nationalistischer Reaktionär, sondern ein liberaler Großbürger. In einem Schreiben des Kanzleramts an das Kultusministerium heißt es über ihn, dass ein „ausgesprochen semitischer Typus“ wie Ehrenberg nicht in das „Tübinger Milieu“ passen würde. Und auch mit der darauf folgenden Bemerkung hatte das Kanzleramt nicht ganz Unrecht, dass es nämlich viele Kollegen als Erleichterung empfinden würden, „wenn dieser Kelch an ihnen vorüberginge“. Lange vor der nationalsozialistischen Machtübernahme fasste das Kanzleramt, das heißt eine der zentralen Instanzen der Universität, seinen Standpunkt in dem Satz zusammen: „Ehrenberg ist überzeugter Jude und trägt ausgeprägt semitische Züge, wozu auch die Neigung zum Geistreichseinwollen gehört.“115 Der ebenfalls zur Debatte stehende Fritz Taeger (1894–1960) solle indes nicht offiziell vor Ehrenberg platziert werden, weil die „geistige Potenz“ bei Ehrenberg zugegebenermaßen größer sei und weil ansonsten die Gefahr bestehe, dass eine solche Maßnahme „auf politische Gesichtspunkte zurückgeführt werden“ könnte.116 Der Althistoriker Ehrenberg mochte ein noch so guter Wissenschaftler sein, als Jude, zudem mit ‚typisch jüdischen Eigenschaften‘, war er für das Tübinger Milieu untragbar. Berufen wurde 1932 stattdessen der bis dahin fachlich kaum hervorgetretene Woldemar Uxkull-Gyllenband (1898 – 1939), der auch danach so gut wie nichts publizierte. Uxkull-Gyllenband starb am 24. Mai 1939 nach einem Autounfall zwischen Tübingen und Reutlingen.117 Das antisemitische Votum des Kanzleramts aus dem Jahr 1930 verstieß zwar gegen geltendes Recht, entsprach aber der tatsächlichen Lage und charakterisierte die Chancen, die ein Jude trotz herausragender Fähigkeiten bei einer Berufung auf eine geisteswissenschaftliche Professur in Tübingen hatte. Ob hierfür ein „Vertrauensmann zur Verhütung der weiteren Verjudung der Professorenschaft in Tübingen“ benötigt wurde, ein Amt, das der Ordinarius für Indogermanische und Slawische Philologie Ernst Sittig (1887 – 1955) seit 1931 ausgeübt zu haben behauptete, erscheint wenig plausibel und muss wohl eher als eine nachträgliche Übertreibung früherer NS-Meriten gesehen werden.118

Angesichts einer gezielt selektierenden Berufungspolitik kann es nicht verwundern, dass an der Universität Tübingen kaum jemand dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums zum Opfer fiel. Mit Ausnahme des „Halbjuden“ Bethe gab es schlichtweg niemand, der wegen seiner jüdischen Vorfahren entlassen zu werden brauchte. Streng genommen handelte es sich bei Bethe auch nicht um eine Entlassung, sondern um die Rücknahme der am 9. November 1932 ausgesprochenen Beauftragung zur Wahrnehmung einer Vertretungsprofessur.119 Die einzige politische Maßnahme sensu stricto betraf den religionswissenschaftlichen Privatdozenten und Assistenten Jakob Wilhelm Hauers, Hans Alexander Winkler (1900 – 1945). Wegen seiner früheren Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei sah er sich gezwungen, „freiwillig“ seinen Lehrauftrag niederzulegen, nachdem man ihm suggeriert hatte, dass er sich auf diese Weise die Möglichkeit einer späteren Wiederverwendung bewahren könnte. Zusammen mit seiner Frau Hayastan (1901 – 1937), die am Indogermanisch-slawischen Seminar eine Lektorenstelle für Russisch innehatte, bat Winkler am 22. September 1933 schriftlich darum, auf die Lehrberechtigung „verzichten zu dürfen“.120 Obwohl der außerordentliche Professor für Philosophie Traugott Konstantin Oesterreich (1880 – 1947) am 23. September 1933 formal aus politischen Gründen nach Paragraph vier seines Amtes enthoben wurde, bestand der eigentliche Anlass dafür in seiner Ehe mit einer Jüdin.121 Auch der Mathematiker Erich Kamke (1890 - 1961) wurde im November 1937 wegen seiner „jüdischen Versippung“ in den vorzeitigen Ruhestand versetzt, wobei es keine Rolle spielte, dass seine Frau längst den evangelischen Glauben angenommen hatte. Zudem musste seine Tochter 1942 als Halbjüdin ihr Studium aufgeben.122 Der Mathematiker und Dozentenschaftsleiter Erich Schönhardt (1891 – 1979) wollte seinen Kollegen dadurch entlasten, dass er für die weiterhin ablehnende Einstellung Kamkes dem Nationalsozialismus gegenüber seine nichtarische Ehefrau verantwortlich zu machen suchte.123

In der Medizinischen Fakultät verlor zumindest ein Privatdozent aufgrund der nationalsozialistischen Rassengesetze seine Lehrberechtigung. Weil er als Mischling 1. Grades galt, wurde dem Psychiater Otto Kant (1899 – 1960) 1938 die Venia legendi entzogen.124 Bei dem 1926 habilitierten Privatdozenten und Oberarzt Siegfried Adolf Heidenhain (1894 – 1937) sprechen Grüttner und Kinas dagegen von einem freiwilligen Rücktritt mit politischem Hintergrund. Heidenhain, ein entschiedener Gegner des Nationalsozialismus, ließ sich wegen seiner jüdischen Herkunft reaktivieren und zog 1935 nach Berlin, wo er als Stabsarzt tätig wurde. 1934 war ihm der Titel eines außerordentlichen Professors verweigert worden.125 Mit Hans Stamm (geb. 1905, Todesdatum unbekannt) quittierte an der Tübinger Nervenklinik noch ein dritter Arzt jüdischer Abstammung den Dienst.126 Der Privatdozent und Oberarzt an der Hautklinik Karl Hermann Vohwinkel (1900 – 1949) schied 1937 auf eigenen Antrag aus der Universität aus, da ihm aus politischen Gründen die Umhabilitierung nach Würzburg verwehrt wurde. Der Pharmakologe Paul Pulewka (1896 – 1989) kam seiner Entlassung wegen „jüdischer Versippung“ durch die Emigration in die Türkei zuvor.127

An der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät liefen Ende März 1933 die Verträge der beiden jüdischen Assistenten Helmut Erlanger (1908 – 1982) und Ludwig Weinheber (geb. 1904, Todesdatum unbekannt) aus und wurden nicht verlängert.128 Der durch den Nationalsozialistischen Studentenbund dominierte AStA hatte schon am 7. Februar 1933 die Entlassung Weinhebers sowie seine schnellstmögliche Ersetzung „durch einen deutschen Volksgenossen“ verlangt.129 Über sein weiteres Schicksal ist wenig bekannt. 1943 taucht sein Name als Mitglied des deutschen Judenrats im Durchgangsghetto Izbica in Ostpolen auf.130 Weinheber starb vermutlich in einem der beiden Konzentrationslager Belzec oder Sobibór, für die Izbica hauptsächlich als Durchgangslager diente. Am 8. Mai 1945 wurde er für tot erklärt. Wegen seiner Betätigung in linksgerichteten Jugendorganisationen galt Helmut Erlanger dem württembergischen Innenministerium als gefährlicher Agitator und „geistiger Kopf“ der SPD. Als Leiter der sozialistischen Jugendorganisation der Roten Falken hielt Erlanger antifaschistische Reden in den Dörfern der Tübinger Umgebung. Am 30. März 1933 wurde er verhaftet und bis zum 7. August im Konzentrationslager Heuberg gefangen gehalten. Währenddessen wurde er am 7. April 1933 infolge des Berufsbeamtengesetzes als Referendar beim Landgericht Tübingen aus dem Justizdienst entlassen. Erlanger floh noch im gleichen Jahr in die Schweiz und 1934 über Frankreich in die USA.131

Dass die Universität Tübingen die niedrigste Entlassungsquote unter allen deutschen Universitäten aufweist, kann kaum verwundern, da sie den unter das Berufsbeamtengesetz fallenden Personenkreis bereits lange vorher von sich ferngehalten hatte. Die beiden von Grüttner und Kinas wiedergegebenen Tabellen über die Entlassungen an den deutschen Universitäten zwischen 1933 und 1936 bzw. zwischen 1933 und 1945 zeigen Tübingen jeweils weit abgeschlagen auf dem letzten Platz.132 Hatte die Universität Berlin in den ersten vier Jahren des Dritten Reiches eine Einbuße von 32,4 Prozent ihres Lehrkörpers hinzunehmen, betrug die Zahl der in Tübingen Entlassenen lediglich 1,6 Prozent. Der Abstand zu der an vorletzter Stelle rangierenden Universität Rostock (4,2 Prozent) liegt dagegen bei 2,6 Prozent, der zum reichsweiten Durchschnitt (16,3 Prozent) bei 14,7 Prozent.133 Bei einer Auflistung der Ordinarien würde das Ergebnis für Tübingen noch ernüchternder ausfallen und entspräche den null Prozent entlassener Dozentinnen. Auch beim Anteil des weiblichen Lehrpersonals hält Tübingen zusammen mit drei anderen Universitäten die rote Laterne, obgleich Frauen überproportional stark von der nationalsozialistischen Entlassungswelle betroffen waren. Da in Tübingen (wie in Erlangen, Königsberg und Münster) im Wintersemester 1932 / 33 keine einzige Frau dem Lehrkörper angehörte, konnte auch keine Dozentin unter das Berufsbeamtengesetz fallen.134 Mit Landé hatte der einzige jüdische Professor die Universität Tübingen im Jahr 1931 verlassen. Die Rücknahme der Lehrbefugnis des mit einer Vertretungsprofessur beauftragten Privatdozenten Hans Bethe lässt sich dagegen schwerlich als Entlassung eines Juden bezeichnen. Über seine Mutter, die sich schon bei ihrer Heirat taufen ließ, hatte Bethe zwar jüdische Vorfahren. Aber er selbst verstand sich keinesfalls als Jude und war der Religion nach ein getaufter Christ.135 Nur in der Perspektive der nationalsozialistischen Rassengesetze handelte es sich bei Bethe um die Entfernung eines jüdischen Hochschullehrers. Man sollte hier sehr vorsichtig sein und die Terminologie des Dritten Reiches nicht gedankenlos übernehmen. De facto wurde an der Universität Tübingen kein einziger Jude, das heißt ein Hochschullehrer mosaischen Glaubens oder ein Hochschullehrer, der sich aus anderen Gründen als Jude verstand, entlassen, weil sie im Jahr 1933 längst die Kriterien des Berufsbeamtengesetzes erfüllte.

Die Ausgangsfrage dieses Kapitels nach dem Grad der Institutionalisierung einer jüdischen Theologie, Judaistik oder der Wissenschaft des Judentums in der Weimarer Republik erübrigt sich, wenn die Zugehörigkeit zum Judentum bereits auf der Ebene der privaten Religiosität als Verbotskriterium für den Eintritt in einen akademischen Beruf galt. In ihrer Einstellung den Juden gegenüber befand sich die Universität Tübingen noch ganz in der voremanzipatorischen Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts, die durch den politischen Umbruch des Jahres 1919 so gut wie unbeeinflusst blieb. Sucht man nach einer Antwort auf die Frage, warum sich der universitäre Antisemitismus in der Weimarer Republik im offenen Widerspruch zur neuen Gesetzeslage nahezu unverändert halten, ja sogar noch verschärfen konnte, muss neben der langen judenfeindlichen Tradition der Universität sicherlich die Niederlage im Ersten Weltkrieg als entscheidender Faktor berücksichtigt werden. Das Anwachsen des Antisemitismus beruhte zu einem guten Teil darauf, dass man den Juden die Schuld für den Krieg und seine verheerenden Folgen in die Schuhe schieben und gleichzeitig von der eigenen Verantwortung ablenken konnte. Denn auch die Universität Tübingen gehörte zu den Institutionen des Staates, die alles in ihrer Macht stehende getan hatten, um die Kriegsbegeisterung der Deutschen wach zu halten und sie von der Notwendigkeit des Krieges gegen die Feinde des Reiches zu überzeugen. Möglicherweise argumentierten die Professoren der Eberhard Karls Universität nicht ganz so extrem wie andere Hochschullehrer, die sich für noch weiter gehende Kriegsziele einsetzten. Dass sie aber in nicht geringem Maße zur Aufhetzung des deutschen Volkes beitrugen und dafür die Verantwortung zu übernehmen gehabt hätten, steht außer Zweifel.136 Etwa 60 Prozent des Tübinger Lehrkörpers (reichsweit durchschnittlich 70 Prozent) unterschrieben die „Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches“ vom 23. Oktober 1914, in der es heißt, dass zwischen dem Geist der deutschen Wissenschaft und dem preußischen Militarismus kein Gegensatz bestehe. „In dem deutschen Heere ist kein anderer Geist als in dem deutschen Volke, denn beide sind eins, und wir gehören auch dazu.“137 Je offensiver die Juden als die Verursacher und zugleich Nutznießer des Kriegs hingestellt wurden, desto weniger brauchte man das eigene Verhalten zu hinterfragen. In einem antisemitischen Weltbild erschien es nicht nur legitim, sondern ideologisch geboten, den alten Kampf gegen die politischen Strömungen des Liberalismus, Sozialismus, Feminismus usw. wieder aufzunehmen, den man bereits vor dem Krieg geführt hatte. Auch die Ablehnung der Demokratie und ihrer politischen Gleichheitsidee gingen Hand in Hand mit dem akademischen Antisemitismus.

In einer Sitzung des Großen Senats am 25. Februar 1933 sagte der Jurist und Universitätskanzler August Hegler (1871 – 1937), dass in Tübingen die „Judenfrage“ dadurch gelöst worden sei, dass man nicht von ihr gesprochen habe.138 Er wollte damit das Verdienst der Universität zum Ausdruck bringen, dass sie keine Juden und somit auch kein „Judenproblem“ hatte. Auch der Biologe Ernst Lehmann (1880 – 1957) hieb mit seiner Aussage, dass es in Tübingen nicht notwendig gewesen sei, offen über die „Judenfrage“ zu sprechen, in die gleiche Kerbe. Denn „jüdische Professoren hat Tübingen ja ohne viel Worte zu machen stets von sich fernzuhalten gewusst“.139 Wenn es gar nicht mehr anders ging, konnte man auch schon einmal einen jüdischen Dozenten oder einen nicht etatmäßigen außerplanmäßigen Professor zulassen. Aber der innere Burgring des Lehrkörpers blieb für Juden unüberwindbar. Wie es schon Friedrich Paschen formuliert hatte, hielt die Universität Tübingen auch in der Weimarer Republik an ihrer Maxime fest, Juden hier den Zutritt unter allen Umständen zu verwehren. Diese tief sitzende Abneigung überdauerte alle Emanzipationsanstrengungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Weder im Kaiserreich noch in der Weimarer Republik kümmerte es die Universität, dass sie durch ihre Verhalten in eklatanter Weise gegen geltendes Recht verstieß. Welchen Wert hatte die Verfassung, wenn das Gebot einer Nichtbenachteiligung aufgrund des religiösen Glaubensbekenntnisses in der Praxis auf diese Weise unterlaufen wurde? Immerhin handelte sich bei der Universität um eine der maßgeblichen Instanzen des Staates und nicht um irgendeinen politischen Verein oder eine antisemitische Studentenverbindung. Das einzige, was sich im Laufe der Zeit geändert zu haben scheint, war die Strategie. Im Weimarer Verfassungsstaat suchte man sich intern und informell zu verständigen und mied öffentliche Äußerungen, um keine Handhabe für eine politische Kritik oder juristische Intervention zu geben.

Der tiefere Grund für die ablehnende Haltung allem Jüdischen gegenüber bestand an der Eberhard Karls Universität in ihrem nationalprotestantischen Grundkonsensus, der sich über viele Jahrhunderte hinweg aufgebaut und verfestigt hatte. Es herrschte ein „mehr oder weniger unverhohlener ‚christlicher Antisemitismus‘“ vor, der es auch auf dem Höhepunkt der Judenemanzipation ausschloss, dass ein Jude auf eine ordentliche Professur berufen worden wäre.140 In geringerem Umfang richtete sich die konfessionelle Ausrichtung der Universität auch gegen Katholiken und andere protestantische Denominationen. Von Sylvia Paletschek wird die Berufungspolitik der Universität treffend als „keinesfalls jüdisch, möglichst nicht katholisch“ beschrieben.141 Doch worauf gründete die geradezu panische Angst vor jüdischen Universitätsangehörigen? Welche tatsächlichen Gefahren drohten der deutschen Jugend von einem Hochschulprofessor, der unter seinen Vorfahren irgendwann einmal einen Juden gehabt hatte? Im Nachhinein erscheint es absurd, in welchem Ausmaß die Universität und ihre Angehörigen von uralten Mythen über das Wesen des Judentums beeinflusst waren und wie sehr sie sich in ihrem Handeln davon leiten ließen. An der bereits zitierten Aussage der Universitätsleitung aus dem Jahr 1922, dass sie die gezielte Politik verfolge, Ausländer fremder Rasse, namentlich Ostjuden, nicht zum Studium zuzulassen, wird deutlich, dass alteingesessene und über lange Zeiträume hinweg tradierte Ressentiments eine zeitgemäßere und den politischen Umständen besser angepasste Begründung benötigten.

Die Verwissenschaftlichung der ›Judenfrage‹ im Nationalsozialismus

Подняться наверх