Читать книгу Die Verwissenschaftlichung der ›Judenfrage‹ im Nationalsozialismus - Horst Junginger - Страница 8

2. Religion, Blut und Rasse aus religionswissenschaftlicher Sicht

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In den ersten Nachkriegsjahrzehnten wurde die Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich in starkem Maße von der polarisierenden Gegenüberstellung des nationalsozialistischen Rassenantisemitismus mit dem lediglich religiösen Vorurteil eines traditionellen Antijudaismus dominiert. Vor allem in der so genannten Kirchenkampfgeschichtsschreibung stand – und steht zum Teil bis heute – der Gedanke im Vordergrund, dass die Rassenideologie des Nationalsozialismus und der universale Heilsanspruch des Christentums prinzipiell inkompatibel gewesen seien. Bis weit in die säkulare Geschichtswissenschaft hinein hat sich der Topos eines unversöhnlichen Gegensatzes zwischen dem nationalsozialistischen Materialismus der Rasse und der auf alle Menschen gleichermaßen abzielenden christlichen Erlösungslehre Geltung verschaffen können. Der moderne Antisemitismus unterscheide sich fundamental von der christlichen Judenfeindschaft, weil diese den Juden immerhin die Möglichkeit zugestehe, der Verfolgung durch einen Glaubensübertritt zu entgehen. Dagegen ziele der Rassenantisemitismus mit Hilfe naturwissenschaftlicher Methoden auf ausnahmslos alle Juden ungeachtet ihrer Religionszugehörigkeit. An die Stelle religiöser, großenteils veralteter Formen der Judenfeindschaft tretend, sei das charakteristisch Neue des modernen Antisemitismus sein auf einem naturwissenschaftlichen Weltbild aufbauendes antiideelles Totalitätsdenken, dessen Biologismus sich zwangsläufig gegen jede echte Religion richten müsse. Eine solche Interpretation ist in mehrerlei Hinsicht irreführend.

Als erstes gilt es zu bedenken, dass es sich bei der den Juden offerierten Taufoption um einen innerchristlichen Beweisgrund handelt, dessen Gültigkeit sich auf den Bereich der christlichen Religion beschränkt. Nur von einer uneingestandenen oder expliziten Warte religiöser Überlegenheit aus kann der Heilsuniversalismus des Christentums als Lösungsansatz für das „Judenproblem“ erscheinen. Die meisten Juden haben es denn auch weit von sich gewiesen, in dem angebotenen Religionswechsel ihren Beitrag zur Lösung der „Judenfrage“ zu sehen. Das Missionsanliegen der Kirche als Schlüssel für die Überwindung des „Judenproblems“ ausgegeben zu wollen, hieße Ursache und Wirkung zu vertauschen. Von frühester Zeit an wurden die Juden gerade deswegen verfolgt, weil sie sich beharrlich und glaubensfest der ihnen, oft unter Anwendung äußeren Drucks, nahe gelegten Konversion verweigerten. Angesichts der langen Geschichte des kirchlichen Triumphalismus wäre es ahistorisch und ein gutes Stück auch unmoralisch, wollte man den Anspruch des Christentums, für das Seelenheil aller Menschen zuständig zu sein, als eine Art analytische Kategorie gegen den modernen Rassenantisemitismus ausspielen. Zum zweiten war auch der von den Nationalsozialisten propagierte Biologismus der Rasse eine durch und durch fiktive Konstruktion bar jeder Entsprechung in der Wirklichkeit. Die bloße Vorstellung einer Rassenmaterie lässt sich deshalb nicht einfach als materialistische Verneinung des religiösen Antijudaismus ausgeben. Wie im ersten Kapitel gezeigt wurde, beruhten die Rassengesetze des Dritten Reiches in elementarer Weise auf der Religion als Unterscheidungsmerkmal zwischen Juden und Deutschen. Ohne Rückgriff auf die kirchlichen Taufregister wäre jeder Rassengesetzgebung die Grundlage entzogen gewesen. Als einzig mögliches Distinktionskriterium zwischen der jüdischen und arischen „Rasse“ bildete die Taufe den archimedischen Punkt der nationalsozialistischen Lösung der „Judenfrage“. Drittens bereitete es theologisch gesehen wenig Schwierigkeiten, Rasse als einen natürlichen Bestandteil der göttlichen Schöpfungsordnung zu interpretieren. Wie die Annahme des christlichen Glaubens aus einem Armen keinen Reichen, aus einer Frau keinen Mann oder, um ein anderes vor 1945 gängiges Beispiel aufzugreifen, aus einem Neger keinen Weißen mache, so wenig könne das Taufsakrament einen Juden in einen Deutschen verwandeln. Nach kirchlicher Lehre bleibt der Bekehrte Glied seines natürlichen Lebenszusammenhangs, der durch die Taufe nicht aufgehoben sondern transzendiert wird. Die Gnade zerstört die Natur nicht, sondern ergänzt und vollendet sie: gratia non destruit, sed complet et perficit naturam.

In der Forschung besteht heute weitgehend Einigkeit darüber, dass zwischen den beiden Typen des vormodernen und modernen Antisemitismus ein enger symbiotischer Zusammenhang besteht und dass statt eines antagonistischen Verhältnisses eines der Beeinflussung und Durchdringung anzunehmen ist. Auch im Mittelalter ergänzten aus zeitgenössischer Perspektive jeweils moderne Gesichtspunkte einen davor schon lange bestehenden Antijudaismus der Tradition und des Herkommens. Warum sollte das lange eingewurzelte Zusammenspiel zwischen alten und neuen Formen der Judenfeindschaft gerade durch den Rassenantisemitismus aufgehoben werden? Ist es realistisch zu glauben, dass ein moderner Rassenantisemit auf die Verwendung herkömmlicher religiöser Vorurteile verzichten würde, nur weil er nicht mehr zur Kirche geht oder sich nicht mit allen Punkten der kirchlichen Dogmatik einverstanden erklären kann? Gleichermaßen unplausibel wäre es, rassischen Ideen jede Einflussmöglichkeit auf einen religiösen Antijudaismus per se abzusprechen. Als Mixtum compositum bezog nicht erst der nationalsozialistische Antisemitismus seine explosive Kraft daraus, unterschiedliche Elemente zusammenballen und ideologisch komprimieren zu können.

Die erforderliche Kritik an einem zu statischen, oft auf theologische Argumentationsmuster fixierten Religionsbegriff ändert freilich nichts an der Pflicht zur geschichtlichen Differenzierung. Hierzu gehört es, die spezifischen Eigenheiten des Antisemitismus im Wandel der Zeiten herauszuarbeiten und systematisch zu verorten. Sofern die Annahme eines religiösen Antijudaismus nicht überzogen und in exklusiver Weise gegen andere Formen der Judenfeindschaft in Stellung gebracht, das heißt zu apologetischen Zwecken instrumentalisiert wird, hat sie durchaus ihre Berechtigung. Es ist das große Verdienst der Religionswissenschaft, die enge Verwobenheit des Religiösen mit dem Nichtreligiösen erkannt und theoretisch verarbeitet zu haben. Ihre auf dem Gebiet der allgemeinen Religionsgeschichte gewonnenen Erkenntnisse sollten auch in der Antisemitismusforschung eine stärkere Beachtung finden. So wenig es eine reine Form von Religion gibt, so wenig ein rein religiöses Vorurteil. Alle klassischen Topoi der christlichen Judenfeindschaft konnten nur in dem Maße eine Wirksamkeit entfalten, wie sie in der Lage waren, in außerkirchliche Bereiche wie das Recht, die Politik oder die Ökonomie etc. einzudringen. Würden sie es nicht tun, hätten die Juden nichts von ihnen zu befürchten. Die Vorstellung eines rein religiösen Ressentiments setzt einen Religionsbegriff in abstracto voraus, der in der geschichtlichen Realität keine Entsprechung hat und der nicht einmal auf einen in völliger Abgeschiedenheit lebenden Eremiten zutrifft. Die aus religionswissenschaftlicher Sicht banale Erkenntnis, dass religiöse Ausdrucksweisen immer und ohne Ausnahme in einem ursächlichen Zusammenhang mit nichtreligiösen Faktoren stehen, sollte dazu führen, auch religiöse Vorurteile weniger unter innertheologischen Gesichtspunkten als im umfassenderen Kontext der politischen, geschichtlichen und kulturellen Entwicklung zu analysieren. Die Stärke der antisemitischen Mythenbildung beruhte auch in der Moderne auf ihrer ungenierten Verbindung von alten religiösen Motiven und neuen, sehr gegenwartsbezogenen Interessen. Deswegen sollte auch die Antisemitismusforschung deutlicher und methodisch genauer zwischen religiösen und nichtreligiösen Erklärungsansätzen unterscheiden.

Zweifelsohne entstand der politische Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts auf der Grundlage vormoderner Elemente, die er übernahm und an seine eigenen Bedürfnisse anpasste. So kann zum Beispiel das Stereotyp des Juden als Nutznießer fremder Arbeit, als Ausbeuter, Wucherer und Blutsauger kaum beanspruchen, eine genuine Erfindung des Nationalsozialismus zu sein. Es charakterisierte bereits in frühester Zeit den christlichen Blick auf das Judentum und hatte seinen festen Platz im Weltbild kirchlicher Judengegner. Dass solche jahrhundertelang internalisierten Ressentiments in einer ökonomischen Krisensituation wie nach dem Ersten Weltkrieg zu neuem Leben erwachen mussten, leuchtet unmittelbar ein. Der Gedanke einer Neu- oder Wiederbelebung alter antisemitischer Vorurteile ließe sich auch am Bild des entwurzelten, ohne Heimat und Boden rastlos umherziehenden „ewigen Juden“ und vielen anderen Beispielen aus dem Arsenal des religiösen Antijudaismus illustrieren. Das nationalsozialistische Klischee vom internationalen Weltjudentum wäre ohne die christliche Legende des Jerusalemer Schusters Ahasver, der Jesus auf seinem Kreuzweg die Rast verweigerte und deswegen verflucht und zur ewigen Wanderschaft bis zur Rückkehr des Messias gezwungen wurde, überhaupt nicht möglich gewesen. Auch rassischen Zuschreibungen ging eine lange und weit zurückreichende Vorgeschichte voraus. Die Vorstellung spezifisch jüdischer Körpereigenschaften findet sich viele Jahrhunderte vor dem Aufkommen moderner biologischer und anthropologischer Rassentheorien. Eine bestimmte jüdische Physiognomie, zu der insbesondere die Judennase und der Judenbart gehörten, wurde in der mittelalterlichen Kunst in dem Augenblick visuell dargestellt, in dem die technischen und handwerklichen Möglichkeiten dafür vorhanden waren.1 Bildhafte Ausdrücke wie der Judenbart, der Judendorn oder der Judenzopf gingen sogar in den allgemeinen Sprachgebrauch ein.2 Der berühmte odor oder foetor judaicus, der „natürliche“ Gestank des Juden, stellte ein besonders markantes und leicht einprägsames Kennzeichen der Zugehörigkeit zum Judentum dar. Dem Volksglauben nach verschwand der foetor judaicus unmittelbar nach der Taufe.

Obwohl der evangelische Theologe und Orientalist Johann Jacob Schudt (1644 – 1722) in seinen zwischen 1714 und 1717 erschienenen Jüdischen Merckwürdigkeiten solche Ansichten über die Juden zurückwies, die ihre körperlichen Eigenheiten auf religiöse Ursachen zurückführten oder gar wie Abraham a Sancta Clara (1644 – 1709) verbreiteten, dass die Juden auf physische Weise für die Kreuzigung Jesu bestraft würden, ging auch Schudt davon aus, dass es nicht schwierig sei, einen Juden an seiner Nase, den Lippen, den Augen, „auch der Farbe und der gantzen Leibes-Positur“ zu erkennen. Gott selbst habe die Juden mit äußerlichen Merkmalen „theils des Leibes“, „theils des Gemüths“ und „theils der Lebens-Art“ gezeichnet, „als an welchen Stücken ein Jud gar bald von einem Christen zu unterscheiden ist“.3 Allein wegen ihrer Ausdünstung und ihres schmutzigen Äußeren müsse man in den Juden eine empfindliche Störung der göttlichen Ordnung sehen. Von viele Juden gehe ein unangenehmer Geruch aus, den Schudt auf das Knoblauchessen und die unhygienischen Lebensverhältnisse zurückführte, die er im Frankfurter Judenviertel kennen gelernt und im dritten Band seiner Jüdischen Merckwürdigkeiten ausführlich beschrieben hatte. Als im „Großen Judenbrand“ des Jahres 1711 das Ghetto in Frankfurt fast vollständig zerstört wurde und etliche Juden daraufhin in den Häusern von Christen leben mussten, sei ihre schlechte Ausdünstung automatisch zurückgegangen. Schudt glaubte selbst nicht mehr an die Existenz eines foetor judaicus. Seine Vorurteile stützten sich auf ethnographische Beobachtungen, die er unreflektiert mit einem christlichen Konzept sozialer Normen verknüpfte. Nicht alles, was Schudt als typisch für das zeitgenössische Leben der Juden in Frankfurt beschrieb, war falsch. In manchen Dingen kann er durchaus als zuverlässiger Chronist und als ein Vorläufer des wissenschaftlichen Studiums jüdischen Lebens gelten. Doch die methodische Innovation seiner ethnographischen Beschreibung jüdischer Körper- und Charaktereigenschaften verband sich bei ihm sehr oft mit traditionellen antijüdischen Klischees. Weil wahre Zivilisation für Schudt nur im Christentum gefunden werden konnte, richteten sich seine zweifellos noch immer vorhandenen Ressentiments gegen die vermeintliche zivilisatorische Rückständigkeit der Juden und nicht primär gegen ihre Religion. Mit der Darstellung auffallender äußerer Merkmale erweckte er den Eindruck einer anthropologischen Konstanz des Judentums, die von Generation auf Generation an die Nachkommen weitergegeben wird.

Das bekannteste Beispiel für eine frühe Biologisierung des religiösen Verhältnisses zwischen Christen und Juden ist das Konzept der limpieza de sangre, der Reinheit des Blutes, auf der iberischen Halbinsel im ausgehenden Mittelalter. Als es 1391 in Sevilla und Cordoba zu schweren antijüdischen Ausschreitungen und pogromartigen Unruhen gekommen war, sahen sich die Juden vor die Alternative gestellt, entweder das Land zu verlassen oder zum Christentum zu konvertieren. Politische und ökonomische Krisen machten die übergetretenen Neuchristen in der Folgezeit zu idealen Sündenböcken für jedweden wirtschaftlichen Niedergang. Überdies sahen sich die cristianos nuevos dem Vorwurf des „Judaisierens“, des heimlichen Festhaltens an jüdischen Bräuchen und Sitten ausgesetzt. Je stärker sie öffentlich in Erscheinung und in Konkurrenz zu den Altchristen traten, desto größer wurde für diese das Problem, sich von den Neophyten distanzieren zu können, weil diese als Juden nicht mehr ohne weiteres erkennbar waren. Da die Religion nur noch sehr eingeschränkt als Ausgrenzungsmerkmal zur Verfügung stand, trat die Berufung auf die Reinheit bzw. Unreinheit des Blutes an ihre Stelle. Diese Konstellation führte 1449 in Toledo zum ersten Blutreinheitsstatut (Sentencia-Estatuto), das darauf abzielte, die religiös nicht mehr unterscheidbaren Kryptojuden als solche zu erkennen. Bis sich der Gedanke der limpieza de sangre auf der spanischen Halbinsel allgemein durchsetzen konnte, vergingen noch einige Jahre, in denen es zu hegemonialen Auseinandersetzungen zwischen weltlicher und kirchlicher Macht kam, die sich vor allem an der Frage der Hoheitsrechte über die Juden entzündeten.4

Das Ausweisungsedikt des Jahres 1492 zwang alle Juden unter Todesandrohung, das Land innerhalb von vier Monaten zu verlassen. Die Mehrheit der knapp 100.000 zu dieser Zeit noch in Kastilien und Aragon lebenden Juden leistete dem Folge. Die Verbliebenen scheinen dagegen überwiegend konvertiert zu sein. Ihre Zahl erhöhte sich durch conversos, die wegen der dann auch in Portugal einsetzenden Verfolgung wieder in ihre frühere Heimat zurückkehrten. Nach einer Lockerung der Gesetze erhielten die Konvertiten sogar die Möglichkeit, ihr früheres Eigentum zurückzukaufen, wenn auch zu einem meist wesentlich höheren Preis.5 Von den Altchristen wurden die sich durch soziale Mobilität und einen besonderen Aufstiegswillen auszeichnenden cristianos nuevos, das heißt aus nichtreligiösen Gründen, als eine zunehmende Bedrohung wahrgenommen, so dass der Gedanke der limpieza de sangre wieder an Bedeutung gewann. Neue Statuten zur Reinheit des Blutes wurden als erstes an den Universitäten erlassen, traten dann aber auch in den Militärorden, den religiösen Orden, den Domkapiteln, den Zünften und in Institutionen wie der Inquisition in Kraft. Ohne vorherige genealogische Überprüfung konnte weder ein Studium begonnen, noch ein Stipendienantrag gestellt werden.6 Die in Zweifel stehenden Kandidaten mussten einen vier Generationen zurückreichenden Stammbaum vorlegen, der von eigens dafür beauftragten Sippenforschern (informadores) kontrolliert wurde. Diese holten noch weitere infomaciones genealógicas ein, indem sie etwa Nachforschungen bei Nachbarn und Verwandten anstellten. Eine typische an sie gerichtete Frage lautete etwa, ob man etwas über Vater, Mutter, die Großeltern und weitere Vorfahren wisse, ob diese als Altchristen geboren seien „von reinem Blut, ohne Rasse und Makel“ und ob sie nicht etwa „von Juden oder Mauren oder Konvertiten oder einer anderen neuerlich konvertierten Sekte“ abstammten.7 Weil alle höheren Positionen in Staat und Gesellschaft einen Hochschulabschluss voraussetzten, übten die limpieza-Bestimmungen einen weit reichenden Einfluss aus.

Hatte die Kirche während des früheren Streits um die Sentencia-Estatuto noch eine Relativierung des Taufsakraments befürchtet, falls Konvertiten generell der Häresie verdächtig würden, arrangierte sie sich jetzt rasch mit dem Gedanken der limpieza de sangre und propagierte ihn auch innerhalb ihrer eigenen Institutionen. Die Bischöfe und Kirchenführer konnten sich dabei auf antijüdische kanonische Gesetze und insbesondere auf die Bestimmungen des 4. Laterankonzils berufen, das die Juden aus allen öffentlichen Ämtern ausschloss. Dem Argument, dass eine so gravierende Benachteiligung eigentlich nicht mit dem Gebot der christlichen Nächstenliebe zu vereinbaren sei, begegnete der von 1545 – 1557 amtierende Erzbischof von Toledo, Juan Fernández Silíceo, mit der Feststellung, dass es völlig falsch wäre, aus der Gleichheit der Menschen vor Gott auch eine Gleichheit der Menschen untereinander abzuleiten. So sehr der König sein Volk und der Papst die Gläubigen liebe, so wenig entstehe daraus ein allgemeines Recht, das jedermann erlaube, König oder Papst zu werden. Geradezu absurd wäre es, wenn das Gebot der Menschlichkeit zur Folge hätte, dass man Türken und Heiden genauso wie den eigenen König zu lieben habe.8 Mit diesem Konzept der natürlichen Ungleichheit harmonierte die limpieza de sangre auf das einträglichste.

Ein Jahrhundert später verknüpfte der spanische Padre Fray Francisco de Torrejoncillo die katholische Lehre von der Erbsünde mit dem Gedanken der jüdischen Abstammung. In seiner Schrift Centinela contra judíos (Schildwache gegen die Juden), die 1674 zum ersten Mal erschien und der noch zahlreiche weitere Auflagen folgten, sprach Torrejoncillo den Nachfahren Sems, des Urvaters der Juden nach der Völkertafel in Genesis 10, einen auch durch die Taufe nicht abwaschbaren Makel zu. Die kollektive Schuld der Juden am Tod Jesu sei dafür verantwortlich, dass ihre Rasse (raza) befleckt und unrein wurde. Ihre Ursünde mache die Juden zu den geborenen Feinden der Christen. Es sei nicht notwendig, dass alle oder auch nur eine überwiegende Zahl der Vorfahren eines Neuchristen Juden gewesen sein mussten. Nur ein kleiner Bruchteil genügte Torrejoncillo, um ihr jüdisches Wesen hervortreten zu lassen:

„Um also Feind eines Christen zu sein, was sich im Sinne einer Erbsünde über die Generationen tradiert, ist es nicht notwendig, beide Elternteile jüdischer Herkunft zu haben, ein Elternteil reicht aus: Es ist nicht wichtig, ob es der Vater ist, es genügt, wenn die Mutter eine Jüdin ist, und diese wiederum muss keine ganze Jüdin sein, es reicht die Hälfte, und nicht mal das, es reicht auch ein Viertel, ein Achtel, und die Heilige Inquisition hat heutzutage sogar Vorfälle des Judaisierens in der einundzwanzigsten Generation vorgefunden.“9

Die Lehre von der Erbsünde ermöglichte es, eine „rationale“ Begründung für die Rechtmäßigkeit der limpieza de sangre zu entwickeln und den Gedanken der Abstammung mit traditionellen Sündenvorstellungen zu verknüpfen. Weil die in der Taufe gewährte Gnade die angeborene, auf den Adamitischen Sündenfall zurückgehende Urschuld (peccatum originale) nur zum Teil aufhebt, bleibt die natürliche Schuldhaftigkeit des Menschen bestehen und setzt sich über die Nachkommen fort. Nur die Eucharistie ist imstande, die von der Erbsünde ausgehende Kette der Schuld zu unterbrechen und das Fehlverhalten des Menschen zu überwinden. Indem die Juden partout nicht einsehen wollen, dass der Übertritt zum Christentum, die Anerkennung des Messias und der Empfang der Sakramente die Voraussetzung auch ihrer Erlösung ist, lag es für die Christen wahrscheinlich nahe, dass sich die Schuld der Juden in ihr Wesen einprägte und von Kind auf Kindeskind weitervererbte.

Von ausgewiesenen Forschern wie dem Spezialisten für die Rechtsgeschichte der Juden im Mittelalter Guido Kisch (1889 – 1985) wurde jeder Versuch zurückgewiesen, in dem Konzept der limpieza de sangre eine Vorläufererscheinung der nationalsozialistischen Rassengesetze zu sehen.10 Kischs Polemik richtete sich vor allem gegen einen Aufsatz von Cecil Roth (1899 – 1970) aus dem Jahr 1940, der wenig differenzierend von einem Rassenantisemitismus im 15. Jahrhundert gesprochen und diesen als frühe Form der NS-Ariergesetze bezeichnet hatte.11 Wegen des im Mittelalter alles dominierenden religiösen Dogmas sei es nicht angängig, den modernen, durch das Dritte Reich geprägten Rassenbegriff in die Geschichte hineinzulesen. Im Hinblick auf das von Roth betonte Nachlassen des Taufkriteriums schrieb Kisch: „To draw from this conclusion that ‚the prejudice wich had previously been ostensibly religious became racial‘, means indeed reading modern racist conceptions into medieval sources where no justification can be found for such interpretation.“12 Die Warnung vor einer simplifizierenden Gleichsetzung des nationalsozialistischen Rassenstaates mit dem katholischen Spanien des ausgehenden Mittelalters ist sicherlich berechtigt. Doch wäre es ebenso falsch, das Christentum im Mittelalter nur über das kirchliche Dogma und die Totalität des kirchlichen Herrschaftsanspruchs definieren zu wollen. Die Statik in seinem Religionsbegriff ließ Kisch die strukturelle Offenheit auch der mittelalterlichen Religion für nichtreligiöse Entwicklungsfaktoren übersehen.

Hering Torres hat auf den wichtigen Sachverhalt hingewiesen, dass von dem spanischen Erzbischof Silíceo im Jahr 1547 wahrscheinlich zum ersten Mal das Wort Rasse (raza) mit Bezug auf die limpieza de sangre verwendet wurde. Rasse bedeutete bei Silíceo in erster Linie Herkunft, Geschlecht (linaje). Obwohl seine Vorstellung von der Reinheit des Blutes eine neue somatische Komponente enthält, können Ansätze einer biologischen Genetik bei ihm naturgemäß nicht erwartet werden. Silíceo wollte die Übernahme kirchlicher Ämter davon abhängig machen, dass ihre Inhaber nur Altchristen sein durften, „ohne Rasse eines Juden, Mauren oder Häretikers“.13 Die Anreicherung einer religiös motivierten Judenfeindschaft mit dem Gedanken der Abstammung und der blutlichen Herkunft wurde im darauffolgenden Jahrhundert schon etwas deutlicher von dem Priester Augustín Salucia zum Ausdruck gebracht, der 1599 feststellte, dass für eine rassische Verunreinigung ein jüdischer Ururgroßvater genüge, auch wenn die restlichen fünfzehn Ururgroßeltern „außerordentlich fromme und adlige Christen sein mögen“.14 Wie in der Arbeit von Hering Torres sehr schön herausgearbeitet wird, handelt es sich bei der theologischen Rechtfertigung der limpieza de sangre aber weniger um einen Biologismus der Rasse, als um eine an der galenischen Säftelehre orientierte Humoralpathologie, die den christlichen Reinheitsdiskurs mit einer antisemitischen Pathognostik verband. Für diese Zeit, lange vor dem Aufkommen der modernen Naturwissenschaft, ein naturwissenschaftliches Rassenkonzept zu erwarten, ginge völlig an der Realität vorbei. Ein anderer wichtiger Unterschied zwischen den Blutreinheitsbestimmungen des 16. und 20. Jahrhunderts ist in der Zentralisierung der Staatsgewalt zu sehen, die es den Nationalsozialisten erlaubte, so gut wie alle Juden und in allen Bereichen der Gesellschaft zu erfassen. Die Statuten der limpieza de sangre galten nur in ausgewählten Institutionen und auch in diesen blieb die für das Mittelalter charakteristische Kluft zwischen Rechtsanspruch und Rechtsdurchsetzung bestehen. Formell wurden die conversos von der Inquisition auch nicht wegen ihres falschen Blutes, sondern wegen ihrer Häresie, also wegen ihres falschen Glaubens, verfolgt.15 Das Argument der Abstammung ergänzte eine bereits bestehenden, zum Teil aber inkonsistent gewordenen religiösen Diskurs, um ihn auf diese Weise an die geschichtlichen Erfordernisse einer neuen Zeit anzupassen.

Trotz der genannten Unterschiede lässt sich mit Yosef Haim Yerushalmi bei der limpieza de sangre sehr wohl von einer frühen Form des Protorassismus sprechen: „If, admittedly, we have not quite arrived at the modern concept of race, I submit that we have come perilously close.“16 Dabei geht es weniger um äußerliche Parallelen als um funktionale Äquivalente. Entscheidend ist eine gleich gelagerte Problemstellung, die zu Lösungsstrategien führt, deren innere Strukturlogik – und manchmal auch äußere Form – einander sehr ähnlich sind. Auf die im 16. und 20. Jahrhundert gleiche Frage, wie sich „Kryptojuden“ noch erkennen lassen, nachdem das Kriterium der Taufe in seiner religiösen Überzeugungskraft nachgelassen hatte, wird eine Antwort über die Abstammung und ein neues Verständnis vom Blut des Menschen gesucht. Unter diesem Gesichtspunkt ist es irrelevant, ob die Nationalsozialisten das limpieza de sangre - Statut tatsächlich kannten und sich an ihm orientierten. Würde man Kischs Gegenargument einer generellen Nichtvergleichbarkeit gelten lassen, müsste man auch jeden Zusammenhang zwischen den antijüdischen Erlassen der frühen Kirche – man denke etwa an das Verbot geschlechtlicher Beziehungen zwischen Christen und Juden (Synode von Elvira 306), den Zwang zum Tragen spezieller Judenabzeichen (4. Laterankonzil 1215) oder an das Verbot für Juden, akademische Grade zu erwerben (Konzil von Basel 1434)17 – und der nationalsozialistischen Judenpolitik grundsätzlich in Abrede stellen. Die berechtigte Warnung vor einer hypertrophen Parallelisierung sollte deshalb nicht dazu führen, die Möglichkeit des geschichtlichen Vergleichs per se zu diskreditieren. Niemand käme auch auf die Idee, wegen der Gefahr einer retrospektiven Überinterpretation die Bedeutung des römischen Rechts für die Ausbildung moderner Rechtsstaatlichkeit in Frage zu stellen. Dass es eine Linie der historischen Kontinuität von den antijüdischen Erlassen der frühen Kirche zu den antisemitischen Gesetzen des Dritten Reiches gibt, lässt sich ebenso wenig bestreiten wie die Tatsache, dass sich führende Nationalsozialisten expressis verbis auf die Judenfeindschaft der Kirche bezogen und sie zum Teil sogar als Vorbild nahmen. Als Adolf Hitler im Frühjahr 1928 die nationalsozialistische Bewegung gegen den Vorwurf antikatholischer Tendenzen verteidigte, berief er sich auf den Antisemitismus der Kirche und betonte, dass der Nationalsozialismus ideologisch daran anschließen würde. Es sei alles andere als unkatholisch, Antisemit zu sein: „Der erste Vorläufer im Kampfe gegen das Judentum ist unser gnädigster Herr und Heiland selber. Der zweite war die heilige römisch-katholische Kirche selbst. In Rom hat das Judentum unter der Herrschaft der Kirche eine Stelle eingenommen, mit der wir völlig zufrieden wären.“18 Gerade im katholischen Bayern beruhte der Erfolg von Hitlers Argumentation darauf, überzeugend an die Einheit zwischen traditionellem und modernem Antisemitismus zu appellieren. Bei einem Treffen mit dem katholischen Bischof Wilhelm Berning wiederholte er die gleiche Aussage im April 1933, ohne dabei auf Ablehnung seitens seiner Gesprächspartner zu stoßen.19

Damit sich ein Feindbild über lange Zeiträume bei vielen Menschen am Leben erhalten kann, bedarf es der konkreten Ausgestaltung und einer den jeweiligen Verhältnissen gemäßen Form. Ein Feind, der nur abstrakt existiert, ist kein wirklicher Feind. Der Mythos von den Juden als Sinnbild des Bösen musste entsublimiert werden, um sich insbesondere unter den Ungebildeten und den in der theologischen Lehre nicht Bewanderten halten zu können. Die Verbindung von geistig religiösen und materiell körperlichen Attributen war deshalb eine wesentliche Voraussetzung für das Überleben antijüdischer Klischeevorstellungen. Ins Auge springende dingliche Merkmale machen den jüdischen Fremdkörper auf Anhieb erkennbar und dienen in besonderer Weise dem Zweck der Ab- und Ausgrenzung. Hat man mit Hilfe vertrauter religiöser Bilder das Typische des Judentums verinnerlicht, benötigt man keine ausgeklügelte theologische Sophistik mehr, um sein Wissen auf Schritt und Tritt bestätigt zu sehen. Die wahrgenommene Verdinglichung ist nicht der Ausgangspunkt des Vorurteils, sondern ein Zeichen für seine weite Verbreitung. Bei besonders auffallenden Charakteristika genügt schon der erste Eindruck, um das äußere und innere Bild, das man von einem Juden hat, als deckungsgleich zu empfinden. Sicherlich gibt es immer Fälle, bei denen der äußere Anschein nachweislich getrogen und das Schema zugegebenermaßen nicht funktioniert hat. Doch das Vorurteil selbst sorgt dafür, dass ein Jude ohne jüdische Merkmale als eine die Regel bestätigende Ausnahme wahrgenommen wird. Die Plausibilität des Augenscheinbeweises rührt daher, dass er einen bereits vorhandenen Resonanzkörper auf der gleichen Wellenlänge zum Schwingen bringen kann. Ist das Vorurteil weit genug verbreitet, hat jeder irgendwann einmal einen Juden mit bestimmten jüdischen Eigenschaften kennen gelernt oder zumindest andere über ihn erzählen gehört.

Von den Nationalsozialisten wurden die antisemitischen Ressentiments des Mittelalters und der Frühen Neuzeit als ein im Ansatz schon vorhandenes, allerdings noch unausgereiftes Rassenbewusstsein interpretiert, das dem vormodernen Menschen immerhin eine plastische Vorstellung und ein besseres Verständnis des jüdischen Volkes gestattete. Die Bewusstmachung dieses durch die Aufklärung gewaltsam unterdrückten Wissens über die Gefährlichkeit des Judentums war das zentrale Anliegen der nationalsozialistischen Judenforschung. Sie verschmähte es aber nicht, bei Bedarf zum Augenscheinbeweis und zu vorwissenschaftlichen Erklärungsansätzen zurückzukehren, wenn es ihr nicht gelang, für konkrete Behauptungen konkrete Nachweise zu erbringen. Rassenbiologische Gutachten argumentierten generell mit der jüdischen Physiognomie, auch wenn sie sich meistens hinter der Floskel des Gesamteindrucks verschanzten und es unterließen, das Jüdische en detail wissenschaftlich zu belegen. Im Ergebnis unterschieden sich diese Feststellungen kaum von Zuschreibungen, wie sie sich schon bei Johann Jacob Schudt finden. Das folgende Beispiel zeigt, dass bei der schwierigen Frage, bis zu welchem Grad der rassischen Kontamination ein „nichtvollarischer“ Studienbewerber noch zum Studium zugelassen werden sollte, das Fehlen eines wissenschaftlichen Maßstabs ebenfalls durch den Rückgriff auf das äußere Erscheinungsbild ausgeglichen wurde. Als im Sommer 1940 der „Judenmischling“ Joachim Hermann um eine Immatrikulation an der Eberhard Karls Universität Tübingen nachsuchte, unterrichtete der Rektor der Universität Otto Stickl den Direktor des Tübinger Kepler-Gymnasiums darüber, dass der Antragsteller auf das genaueste zu überprüfen sei: „Dabei ist zu erwähnen, ob und inwieweit Merkmale der jüdischen Rasse beim Gesuchsteller äußerlich erkennbar sind.“20 Die Inaugenscheinnahme des angehenden Studenten ergab, dass bei Hermann keine jüdischen Rassenmerkmale feststellbar waren, „jedenfalls nicht irgendwie auffallend“.21 Seiner Zulassung zum Studium stand damit nichts mehr im Wege. Dieses Beispiel ist von besonderer Bedeutung, weil es die Persistenz einer archaischen Vorurteilsstruktur in der Moderne zum Ausdruck bringt. Bereits etliche Jahre vor Erlass der NS-Rassengesetze konnte der jüdische Extraordinarius für Theoretische Physik Alfred Landé 1922 nur mit ministeriellem Oktroi und der hinzugefügten Beschwichtigung „sein Äußeres verrät kaum den Juden“ an die Universität Tübingen berufen werden.22 Hätte der Jude auch noch ausgesehen wie ein Jude, hätte sich der Widerstand der Senatsmehrheit sicherlich nicht überwinden lassen. In der Angelegenheit des Studienbewerbers Joachim Hermann verwies der Tübinger Rektor Otto Stickl achtzehn Jahre später auf einen Geheimerlass des Reichserziehungsministeriums, wonach bei Immatrikulationsgesuchen von Nichtvollariern generell deren jüdisches Erscheinungsbild zu berücksichtigen sei.23 Eine solche Institutionalisierung des Antisemitismus im deutschen Hochschulwesen erinnert in fataler Weise an das frühneuzeitliche Spanien, deren Universitäten wenigstens aufwändige genealogische Befragungen durchführten, um die jüdische oder nichtjüdische Abstammung ihrer Studenten zu eruieren.

Die Notwendigkeit, noch im 20. Jahrhundert seine Zuflucht zu einem durch und durch subjektiven und jeder Wissenschaft hohnsprechenden „Beweisverfahren“ via Augenschein nehmen zu müssen, belegt den phantasmagorischen Charakter der Rassenidee, den auch eine elaborierte universitäre Rassenforschung nicht überwinden konnte. Das wissenschaftliche Niveau musste allerdings schon sehr tief gesunken sein, dass man nicht davor zurückschreckte, eine solche Form der Rassendiagnostik anzuwenden. Entgegen der großsprecherischen Theatralik, mit der die nationalsozialistische Rassenkunde auftrat, handelte es sich bei den behaupteten Eigenschaften der Juden nicht im Ansatz um biologische oder anthropologische Konstanten, sondern um konventionelle Stereotypen, die so sehr in Fleisch und Blut übergegangen waren, dass sie den Anschein des Dinglichen angenommen hatten. Die allgemeine Verbreitung antisemitischer Vorurteile erzwang geradezu ihre Hypostasierung in Gestalt körperlicher und geistiger Merkmale. Man sollte nicht den Fehler machen, den vorgeblichen Beweisgrund der Rasse für die Wirklichkeit selbst zu nehmen und sich argumentativ darauf einzulassen. Das Neue des Rassenantisemitismus beruhte auf einer Reformulierung gängiger antijüdischer Klischees und nicht etwa auf der Neuentdeckung einer bislang verborgen gebliebenen Rassensubstanz. In der antagonistischen Entgegensetzung zwischen einem Antijudaismus traditionell religiöser Provenienz und dem politischen Antisemitismus des Dritten Reiches droht diese einfache Erkenntnis in den Hintergrund zu geraten. Vor allem in der Kirchenkampfgeschichtsschreibung wurde es üblich, das christliche Oppositionsmotiv am Gegensatz zum Biologismus der Rasse abzuhandeln, der bereits im Zentrum der kirchlichen Auseinandersetzungen mit dem nationalsozialistischen Neuheidentum gestanden hatte.

Einer solchen Sichtweise liegt sowohl ein falscher Rassenbegriff als auch eine falsche Vorstellung von Religion zu Grunde. Der behauptete Materialismus der Rasse, verstanden als eine die religiösen und geistigen Ausdrucksformen des menschlichen Lebens grundsätzlich verneinende Weltanschauung, hat in dieser Form nie existiert. Über das rein Biologische und Somatische hinaus wurde der Begriff der Rasse immer auch von ideellen und ideologischen Faktoren determiniert. Der aus der pflanzlichen und tierischen Zuchtwahl übernommene Vererbungsgedanke gehört zwar zum Kernbestand aller Rassentheorien, doch wäre es verfehlt „Rasse“ darauf reduzieren zu wollen. In der Verengung auf eine somatische Erblehre hätte die Idee der Rasse niemals einen größeren gesellschaftlichen Einfluss erlangen und derart weit in die Bereiche des Geistigen, Politischen und Sozialen eindringen können. Die extreme Position eines rassischen Fatalismus, wie man sie von deutscher Seite oft dem französischen Rassenforscher Gobineau vorgeworfen hat, war weithin fiktiver Natur. Auch der nationalsozialistische Rassendiskurs zeigte sich offen für nichtbiologische Argumente und hatte keinesfalls den ihm unterstellten eindimensionalen Charakter. Unter der Voraussetzung, dass die politische Herrschaft des Nationalsozialismus nicht in Frage gestellt wurde, konnte sich durchaus eine gewisse Variationsbreite an rassentheoretischen Entwürfen entfalten, deren Vertreter sich zum Teil auf das heftigste befehdeten. Auch die kirchliche Kritik an einer Übersteigerung des Rassenbegriffs richtete sich in aller Regel nicht gegen das rassische Prinzip an sich, sondern betraf dessen Gültigkeitsbereich und die Frage, wie weit der Einfluss rassischer Gesetzmäßigkeiten in der Sphäre des Religiösen, das heißt im Hoheitsbereich der Kirchen, gehen durfte. Das Recht, ja die moralische Pflicht des Staates, Abwehrmaßnahmen gegen das Judentum zu ergreifen, wurde selbst von solchen Kirchenvertretern nicht bestritten, die nicht zu den Parteigängern des Nationalsozialismus gehörten. Es gibt vermutlich keine einzige kirchenoffizielle Verlautbarung, welche die Nürnberger Gesetze als illegitim kritisiert oder als mit christlichen Geboten unvereinbar zurückgewiesen hätte. Indem man sich von einer Verabsolutierung der Rassenidee in der Form des Rassenmaterialismus distanzierte, konnte man umso leichter eine gesetzlich legitimierte Geltung akzeptieren, die umfassende politische Maßnahmen gegen die deutschen Juden beinhaltete.

Der falschen Annahme eines rassischen Determinismus entspricht auf der anderen Seite eine idealisierende Vorstellung von Religion, die dazu tendiert, religiösen Aussagen eine absolute Bedeutung beizumessen. Demzufolge sei das eigentliche Wesen des Christentums und eine Adaption rassischer Ideen prinzipiell, das heißt aus religiösen Gründen, nicht vereinbar. Hierbei werden meistens die christliche Nächstenliebe und die Gleichheit aller Menschen vor Gott als die der Rasse am stärksten widerstrebenden Prinzipien genannt. Der unbefangene Blick auf die „allgemeine“ Religionsgeschichte widerlegt freilich nicht nur die These von der Universalität religiöser Normen, sondern generell jede zeitlose, den historischen Kontext einebnende Religionsauffassung. Dessen ungeachtet werden religiöse Wertvorstellungen weithin als absolute oder quasi-absolute Größen aufgefasst, die einen Maßstab zur Verfügung stellen, anhand dessen sich geschichtliche Entwicklungen messen und interpretieren lassen. In der Retrospektive erscheint dann eine Annäherung zwischen religiösem und rassischem Denken prinzipiell ausgeschlossen, weil der Partikularismus jeder Rassendoktrin und der allgemeine, auf alle Menschen gleichermaßen zielende Anspruch des Christentums in einem antithetischen Gegensatz zueinander stehen. Der historische Befund mag noch so sehr gegen ein essentialistisches Religionsverständnis sprechen. Die innere Wahrheit der Religion und ihren unabhängig von der Geschichte bestehenden Wesensgehalt vermag er nicht zu tangieren. Mit einer solchen Religionsauffassung geht zwangsläufig eine Verdoppelung des Wahrheitsbegriffs in einen geschichtlichen und übergeschichtlichen Bereich einher, von der die Erforschung des religiösen Antijudaismus nachhaltig beeinträchtigt wurde. Besonders in der Debatte um das Verhältnis von Rasse und Religion pflegen sich religiöse und nichtreligiöse Argumentsmuster auf nahezu unentwirrbare Weise zu vermischen. Die Ausgangsfrage dieser Studie, wie es dem nationalsozialistischen Staat gelingen konnte, die Zugehörigkeit zur jüdischen Religion in eine Zugehörigkeit zur jüdischen Rasse zu transformieren, würde sich auf einer solchen erkenntnistheoretischen Grundlage nicht beantworten lassen. Jeder Eintrag in den Kirchenbüchern, der einen mosaischen Glauben der Vorfahren dokumentierte, gab die Nachfahren aufgrund ihrer „jüdischen Rasse“ und ihres „jüdischen Blutes“ der Verfolgung preis. Wie lässt sich das wundersame Mysterium der Verwandlung von Religion in Blut erklären und warum konnte das Kriterium der Taufe in einer angeblich glaubenslosen und entchristlichten Gesellschaft eine solche Wirkung entfalten?

Das Besondere der religionswissenschaftlichen Arbeitsweise kennzeichnet sich als erstes durch die Fähigkeit, von religiösen Inhalten abstrahieren zu können. Glaubenstatsachen haben in der Religionswissenschaft einen anderen erkenntnistheoretischen Stellenwert als in den Religionen selbst. Bei einem so wichtigen Thema wie der Kreuzigung Jesu und der an sein Blutopfer geknüpften Erlösung des Menschen, ja der ganzen Menschheit, kann es nicht ausbleiben, dass die Erforschung der damit unmittelbar in Verbindung stehenden „Judenfrage“ in hohem Maße durch religiöse Gefühle und Vorannahmen beeinflusst wird. Mit dem den Juden zugeschriebenen Gottesmord, dem schlimmsten überhaupt denkbaren Verbrechen, nahm die „Judenfrage“ ihren Ausgang. Sie begleitete die weitere Entwicklung des Christentums bis in die Gegenwart. In der Feier des Abendmahls bzw. der Eucharistie nehmen die Gläubigen den Leib und das Blut Christi zu sich und werden dadurch von ihren Sünden erlöst. Auch wenn viele Christen nur noch an die symbolische Realpräsenz des Auferstandenen glauben, ist es der tatsächliche Genuss seines Blutes und Leibes, der nach überwiegender kirchlicher Lehrauffassung den Vorgang der Entsühnung bewirkt.24 Im rituellen Zentrum des christlichen Heilsgeschehens steht die Einleibung (Inkarnation) des Göttlichen im Irdischen und der Glaube an einen wundersamen Zusammenhang zwischen dem Leib und Blut Jesu und den materiellen Substanzen von Brot und Wein. Das Blut des Gekreuzigten umschließt also eine doppelte irdische und himmlische Wirklichkeit und bildet so die Voraussetzung für die Teilhabe des Christen am ewigen Leben. Als Heilmittel gegen den Tod (farmakon athanasias) ist das Blut Jesu die Zentralkategorie des christlichen Glaubens schlechthin. Bis zum heutigen Tag konstituiert sich die Gemeinde als Leib Christi in der gottesdienstlichen Wiederholung des Blutwunders. In der katholischen Eucharistie wie im evangelischen Abendmahl wird der neue Bund mit Gott unter Auflösung des alten mit dem Blut Jesu besiegelt. Da die Juden den Messias ans Kreuz geschlagen haben, verlieren sie ihre religiöse Vorrangstellung und ihre Auserwähltheit geht auf die Christen über. Das Neue Testament substiutiert das Alte und hebt dessen Glaubensaussagen auf eine neue, höhere Form der Religiosität.

Von einem religionsgeschichtlichen Blickwinkel aus ersetzt das Sühneopfer Jesu den vorchristlichen Opferkult. Mit dem Anspruch auftretend, die magischen Opferriten der Heiden ebenso wie die Kasuistik des jüdischen Ritual- und Opferwesens zu überwinden, entwickelte das Christentum eine sublimere Heilslehre des Blutes, die über das reine Selbstopfer Jesu eine neue Verbindung des Menschen mit Gott ermöglichte. Doch auch die christliche Epiklese bezieht ihre imaginative Kraft bei der Anrufung Gottes aus der uralten Vorstellung vom Blut als dem Sitz des Lebens. Das von jeher am Verblutungstod zu beobachtende Phänomen, dass sich mit dem ausströmenden Blut die Lebenskraft von Mensch und Tier ergießt, gewinnt durch das von Jesus dargebrachte freiwillige Opfer seiner selbst eine neue Bedeutung. Erst sein Sterben macht neues Leben möglich. Indessen besitzt das Blut auch eine dunkle und gefährliche Seite. Es ist nicht nur Symbol alles Lebendigen, sondern zugleich ein machtvolles Sinnbild für den Tod und die Gefahren, die den Menschen in seiner Existenz bedrohen. Diese Ambivalenz des Blutes hat auch der christlichen Erlösungslehre ihren Stempel eingeprägt und den für die Tötung des Messias verantwortlichen Juden den negativen Part im christlichen Heilsgeschehen zugewiesen. Am Blut Jesu scheidet sich das Leben vom Tod, das Gute vom Bösen und auch das Christentum vom Judentum. Der gemeinschaftsstiftende Charakter des Blutes Jesu und die sich in der Eucharistie konstituierende virtuelle Blutsgemeinschaft der Christen werden in erheblichem Maße durch die Abgrenzung von den Juden bestimmt. Sie und ihre „Synagogen des Satans“ repräsentieren die dem Christentum entgegen gesetzte Unheilslehre. Weil die Juden das Lamm Gottes getötet und sein Blut vergossen haben, werden sie den frühen Christen zum Prinzip des Bösen schlechthin. Ihre Religion und ihr Bund mit Gott fällt der Verdammung anheim.

Analog zur spirituellen Dimension des jüdischen Blutfrevels entsteht zugleich die ganz konkrete Furcht vor den vom jüdischen Volk ausgehenden Gefahren in der Sphäre des Irdischen. Die sich über das reine Blut Jesu definierende Gemeinschaft der Christen wird nicht nur durch die falsche Lehre der Juden, sondern auch durch ihr daraus hervorgehendes Verhalten bedroht. Im Extremfall ist schon ihre Existenz der lebende Beweis für die Falschheit der christlichen Religion. Um eine Verunreinigung des eigenen Blutes abzuwehren, wird der sexuelle Kontakt mit Juden unter schwerste Strafen gestellt. Aus dem gleichen Schutzbedürfnis heraus wird jüdischen Ammen strikt untersagt, ihre Muttermilch christlichen Kindern zum Trinken zu geben.25 Jüdinnen werden in mehrfacher Hinsicht als eine Quelle der Gefahr gesehen. Zum einen versinnbildlichen sie den Reiz der Versuchung und die magische Anziehungskraft des Bösen, die schon den Sündenfall Adams verursachte. Zum andern verbindet sich in der von patriarchalischen Überlegenheitsphantasien geprägten Kirche die Angst vor dem bösen Blut menstruierender Frauen mit der Furcht vor der Blutschande und einem jüdischen Blutfrevel, der das Christentum von innen her zu zersetzen droht. Nicht umsonst wurde der Messias von einer reinen Jungfrau geboren. Das lautere und jungfräuliche Wesen Marias als virgo ante und post partum, als Jungfrau vor und nach der Geburt, ließ die Gottesmutter zum Symbol bedingungslosen Vertrauens und schließlich sogar zum Objekt der mystischen Verklärung werden.26

Wegen der auch dem Blut Jesu inhärenten Ambivalenz war es nicht verwunderlich, dass sich nach dem 4. Laterankonzil, auf dem 1215 die Lehre der Transsubstantiation dogmatisiert wurde, Vorstellungen vom Hostien- und Blutfrevel der Juden rasch ausbreiteten. Den Juden wurde nachgesagt, sie würden mit Messern oder anderen spitzen Gegenständen die heilige Hostie misshandeln und das dabei austretende Blut für ihre eigenen perversen Riten verwenden. Die hier zum Teil als Marterwerkzeug genannten Dornen stellen ein funktionales Äquivalent der Dornenkrone dar, mit der Jesus vor seinem Tod gepeinigt wurde. Außerdem wurde den Juden unterstellt, Christenkinder zu rauben, sie zu töten und ihr reines Blut zur Herstellung der ungesäuerten Brote für das Passahfest zu verwenden oder es dem Wein beizumischen, mit dem am Abend vorher unter antichristlichen Verwünschungen der Sedertisch besprengt wird. Im Gefolge von Ritualmordlegenden kam es häufig zu Pogromen und antisemitischen Gewalttaten. Kapellen und Wallfahrtsorte, die an den Stätten der vermeintlich jüdischen Bluttat entstanden, hielten das abscheuliche Verbrechen der Juden auch späteren Generationen noch im Gedächtnis. Eines der bekanntesten Beispiel ist wahrscheinlich der Tod Simon von Trients an Ostern 1475, für den jüdische Ritualmörder verantwortlich gemacht wurden. Die mit Hilfe der Folter ermittelten Schuldigen wurden verbrannt, wohingegen die vor ihrem Tod Konvertierten milderere Todesstrafen erhielten. 1588 wurde die Verehrung Simons durch Papst Sixtus V. in das Martyrologium Romanum aufgenommen. Papst Pius IX. erhob Simon von Trient zwei Jahrhunderte später am Ende der 1860er Jahre zum christlichen Heiligen, worauf im kirchlichen Umfeld eine Flut judenfeindlicher Schriften erschien. Vor allem die in großer Zahl verbreiteten Publikationen des Paderborner Bischofs Konrad Martin vermochten die Gefühle der katholischen Bevölkerung aufzureizen. Der katholische Gelehrte Henri Roger Gougenot des Mousseaux behauptete 1869 sogar, dass die Juden eine natürliche Charakteranlage zum Ritualmord besäßen. Für sein Buch über die Verjudung der christlichen Völker wurde er von Pius IX. gesegnet und mit einem hohen päpstlichen Orden ausgezeichnet.27 Ungeachtet seiner Feindschaft gegen die katholische Kirche übersetzte Alfred Rosenberg das antisemitische Pamphlet des französischen Autors fünf Jahrzehnte später ins Deutsche.28 Rosenberg wollte damit die Übereinstimmung der nationalsozialistischen mit der christlichen Judengegnerschaft betonen und zeigen, dass der NS-Antisemitismus nicht lediglich eine Wahnvorstellung völkischer Außenseiter war. Wie lange sich die Ausläufer der Ritualmordlegende halten konnten, sieht man daran, dass eine päpstliche Kommission erst 1965 die Seligsprechung des Heiligen Simon rückgängig machte.

Gavin I. Langmuir hat auf den religionspsychologisch außerordentlich bedeutsamen Sachverhalt hingewiesen, dass die Juden durch die Ritualmord- und Hostienfrevelbeschuldigung indirekt zu Zeugen für die Wahrheit des Christentums gemacht wurden. Denn wenn die Juden nicht an die Wunderkraft des Blutes Jesu geglaubt hätten, wäre es für sie völlig sinnlos gewesen, das Blut geschändeter Hostien oder getöteter Christenkinder rituell zu missbrauchen. Indem sie so handelten, bekräftigen sie, wenn auch nolens volens, das Dogma der Transsubstantiation.29 Eine Bestätigung ex negatvio durch die Juden war für die Kirche umso wichtiger, weil auch viele Christen Zweifel daran hatten, dass während der Feier der Eucharistie tatsächlich der Leib Jesu gegessen und sein Blut getrunken würde. Bis zum Vorwurf der Anthropophagie, der ja von manchen Muslimen auch erhoben wurde, war es von hier aus nur noch ein kleiner Schritt. Außerdem fand sich keine zufrieden stellende Antwort auf die Frage der Ubiquität, das heißt inwiefern Jesus an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten gleichzeitig im Abendmahl anwesend gedacht werden konnte. Aufgrund solcher Aporien das Problem auf die Juden zu projizieren, leuchtet psychologisch durchaus ein. Dem fügte David Biale das Argument hinzu, dass es gerade für die große Mehrheit der christlichen Illiterati darauf ankam, sich eine dingliche Konkretion und Profanierung des Blutwunders vorstellen zu können.30 Jede neue Legende eines Hostienfrevels oder Ritualmords musste die Anschauung verstärken, dass sich die Perfidie der Juden mit der Kreuzigung Jesu nicht erschöpft hatte, sondern zu ihrem ureigensten Wesen gehörte. Der den Juden angedichteten Blutdurst war in Wirklichkeit „das Echo der christlichen Sehnsucht nach dem Blut des Heiles“.31 Nicht aus Zufall gehörte das Osterfest im Mittelalter zu den gefährlichsten Tagen des Jahres für die Juden. Sich an Karfreitag in der Öffentlichkeit zu zeigen, konnte für einen Juden unter Umständen lebensgefährlich sein. Die enge Verbindung zwischen dem christlichen Glauben an das Blutopfer Jesu und der Verfolgung der Juden wegen ihres auf Golgatha begangenen und später vielfach wiederholten Blutfrevels lässt erkennen, in welch starkem Maße sich das Christentum über die Negation des Judentums definierte. Die kluge Beobachtung des deutschen Ethnologen Wilhelm Emil Mühlmann (1904 – 1988), dass die Perhorreszierung blutiger Riten zum Arsenal aller Feindbildkonstruktionen gehört,32 findet in den christlichen Ritualmord- und Hostienfrevellegenden eine reiche Bestätigung.

Eine der methodischen Grundannahmen der Religionswissenschaft geht von der Notwendigkeit zur Distanzierung vom religiösen Gehalt ihrer Gegenstände aus. Wie bei allen Erscheinungen der Religionsgeschichte sucht die Religionswissenschaft auch im Fall der „Judenfrage“ nach nichtreligiösen Erklärungen für bestimmte religiöse Verhaltensweisen. Interpretationen, die selbst auf religiösen Vorannahmen beruhen und normative Glaubensaussagen zum Ausgangspunkt haben, sind mit ihren Methoden und Prinzipien nur schwer vereinbar. Gerade am Beispiel der „Judenfrage“ wird ersichtlich, worin sich eine theologische und eine religionswissenschaftliche Herangehensweise voneinander unterscheiden. Für die christliche Theologie besteht der alles entscheidende Punkt darin, ob das Heilsgeschehen auf Golgatha für wahr gehalten wird oder nicht. Ohne das Norm setzende und alles Nachfolgende präjudizierende Glaubenspostulat des auferstandenen Christus hätte sie keine Existenzberechtigung. Man kann nicht Christ oder christlicher Theologe sein, ohne an die Wirklichkeit der Auferstehung Jesu drei Tage nach seinem Tod zu glauben. Die Kreuzigung Jesu bildet zugleich aber auch den Nervus rerum der „Judenfrage“. So wie sie für die Christen der Wendepunkt zum Heil ist, so für die Juden zum Unheil. Dass überhaupt eine „Judenfrage“ entstehen und zwei Jahrtausende lang nicht gelöst werden konnte, liegt an der Schuld der Juden und an ihrer halsstarrigen Verweigerung, sie anzunehmen. Würden sich die Juden zum christlichen Heiland bekehren und die Autorität des Christentums anerkennen, hätte sich das Problem auf einen Schlag erledigt. Das Dilemma des Christentums ist darin zu sehen, dass es sich von der zu überwindenden jüdischen Vorgängerreligion so schroff als möglich abgrenzen und die Tötung Jesu als die denkbar schwerste Freveltat bezeichnen musste. Gleichzeitig war das Christentum aber in existenzieller Weise auf den jüdischen Deizid angewiesen. Ohne jüdisches Verbrechen kein christliches Heil. Die theologische Schwierigkeit der „Judenfrage“ resultiert aus diesem doppelten Verhältnis gleichzeitiger Anziehung und Abstoßung. In jeder Feier der Eucharistie wird die jüdische Bluttat durch die Erinnerung an das Opfer Jesu in Erinnerung gerufen. Mit der ständigen Enttäuschung konfrontiert, dass gerade die Juden die Wahrheit des Christentums erkennen müssten, statt dessen aber durch ihre trotzige Haltung das Gegenteil bezeugen, lag es religionspsychologisch vermutlich nahe, die Schuld auf die Juden zu projizieren und sie selbst für das „Judenproblem“ verantwortlich zu machen.

Das, was für die christliche Theologie das Wichtigste ist, ist für die Religionswissenschaft irrelevant. Ob der mit der Kreuzigung Jesus in Verbindung gebrachte Wahrheitsanspruch des Christentums – oder der irgendeiner anderen Religion – gerechtfertigt ist, fällt nicht in ihren Zuständigkeitsbereich. Sie kann nur in einem wissenschaftlichen und nicht in einem religiösen Verhältnis zu den von ihr behandelten Gegenständen stehen. Bei der Vielzahl der Religionen, mit denen sie es zu tun hat, ist es eine Selbstverständlichkeit, dass sie sich religiös wertender Urteile enthält und keiner Glaubensweise den Vorzug gibt. Die einfache Erkenntnis, dass nur der religiöse Glaube und nicht der Glaubensinhalt selbst eine religionsgeschichtliche Tatsache ist und dass sich die Religionswissenschaft deshalb im Gegensatz zur Theologie nicht mit Gott und den göttlichen Dingen, sondern nur mit der empirisch fassbaren Religion beschäftigt, bringt einen grundlegenden Wechsel der Perspektive mit sich, der im allgemeinen zwar nicht bestritten, doch in seinen Konsequenzen oft nicht genügend reflektiert wird. Vor allem die damit verbundenen erkenntnistheoretischen Implikationen sind längst nicht ausreichend durchdacht. Wenn der Mensch als Homo faber der Religionsgeschichte anerkannt ist, heißt das auch, ihn zum Schöpfer Gottes zu machen? Wo ist die Religionswissenschaft zwischen Metaphysik und Positivismus, zwischen religiöser Spekulation und Materialismus zu verorten? Was wären die Folgen, würde man in einer religionswissenschaftlichen Erkenntnistheorie Hybridbildungen zulassen oder ausschließen? Obgleich derart grundsätzliche Überlegungen nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind, wird sie, so meine Hoffnung, die Spezifik der religionswissenschaftlichen Objektivierung etwas deutlicher machen können. Ob eine religionswissenschaftliche Untersuchung die Erkenntnis zu befördern vermag, lässt sich letztendlich nur am konkreten Objekt erweisen.

Viele Publikationen zur „Judenfrage“ begehen den Fehler, nicht genügend zwischen der Ebene des subjektiven Glaubens und der des religionsgeschichtlichen Sachverhalts zu unterscheiden. Selbst bei rein historischen Darstellungen stößt man auf ein uneingestandenes Oszillieren zwischen einer religiösen und einer geschichtlichen Argumentationsebene. Biblische Wundererzählungen wie die vom Leben und Sterben Jesu erlangen unter der Hand oftmals den Status historischer Begebenheiten und nicht selten werden sogar Bibelzitate verwendet, um historische Sachverhalte zu erklären. Der in der Philosophie als metabasis eis allo genos bekannte Gattungswechsel hat gerade im Hinblick auf die „Judenfrage“ und die Unterscheidung zwischen religiösen und nichtreligiösen Formen der Judenfeindschaft außerordentlich nachteilige Folgen gehabt. Mit einer erstaunlichen Unbekümmertheit zeigen sich selbst Profanhistoriker geneigt, theologische Erklärungsansätze zu übernehmen und in die eigene Darlegung einfließen zu lassen. Viel zu wenig wird bedacht, dass es sich bei der Bibel nicht um ein Geschichts-, sondern um ein Geschichtenbuch handelt, das auch in der theologischen Vermittlung noch das Produkt der religiösen Fantasie ist und, wenn überhaupt, nur rudimentär mit wirklichen Ereignissen in Zusammenhang steht. Wenn man aber zwischen Heils- und Realgeschichte nicht genau unterscheidet und religiöse Deutungsmuster unzulässig verallgemeinert, muss es zwangsläufig zu Verzerrungen und Fehlurteilen kommen.

Anstatt der Dynamik der Religionsentwicklung in der Moderne Rechnung zu tragen, wird dem Konzept des religiösen Antijudaismus sehr oft ein vormoderner Begriff von Religion zu Grunde gelegt. Dadurch scheint der politische Antisemitismus der Neuzeit in einem schroffen Gegensatz zum Christentum zu stehen. Doch in gleicher Weise, wie das Überleben einer Religion von ihrer Fähigkeit abhängt, sich auf neue Entwicklungen einzustellen, muss auch das religiöse Vorurteil mit der Zeit gehen, um überleben zu können. Wie die Religion selbst, so unterliegt auch das religiöse Ressentiment dem allgemeinen gesellschaftlichen Wandel und hat sich diesem anzupassen, will es bestehen bleiben. Nachdem sich die Theorie vom Absterben der Religion in der Moderne als falsch herausstellte, steht auch nicht zu erwarten, dass sich religiöse Vorurteile unter dem Einfluss der Wissenschaft und des Säkularismus einfach in Luft auflösen. Vielmehr eröffnen vertraute und allgemein verbreitete religiöse Klischees der Kirche in einer Säkularisierungstendenzen ausgesetzten Gesellschaft die Möglichkeit, sich mit ihrer Hilfe zu behaupten und dem drohenden Einflussverlust entgegenzuwirken. Der Antijudaismus kann unter solchen Umständen selbst zu einem mächtigen Faktor der religiösen Erneuerung werden. Er verfügt einerseits über ein breites und tief eingewachsenes Wurzelwerk und wird andererseits auch von solchen Menschen akzeptiert, die der Kirche und einen mehr oder weniger großen Teil ihrer Dogmatik den Rücken gekehrt haben. Wenn man den Entwicklungsgedanken und das Modernisierungstheorem in der Allgemeinen Religionsgeschichte als selbstverständlich erachtet, sollten auch religiöse Stereotypen nicht davon ausgenommen werden. Ein Rassenantisemitismus ohne Verbindung zu anderen Formen der Judenfeindschaft ist schlechterdings undenkbar.

Mit der Feststellung, dass die Idee der Rasse keinen neuen Typ des Antisemitismus generiert, sondern zu einem bestehenden ergänzend hinzutritt, soll aber nicht bestritten werden, dass es durchaus zu Spannungen zwischen rassischen und religiösen Vorstellungen kommen kann, ja kommen muss. Es wäre geradezu verwunderlich, wenn die aus beiden Bereichen abgeleiteten Ansprüche so ohne weiteres in Einklang zu bringen wären. Ein solches Spannungsverhältnis lässt sich aber generell für das Aufeinandertreffen von neuen Faktoren des gesellschaftlichen Wandels auf ein traditionelles Religionsverständnis konstatieren und stellt insofern keinen Sonderfall dar. Man denke etwa an den kirchlichen Widerstand gegen die Darwinsche Evolutionslehre oder andere Auseinandersetzungen um neue wissenschaftliche oder politische Theorien. Die Überbetonung der nur für einen kleinen Teil der rassenantisemitischen Bewegung charakteristischen Christentumsfeindschaft übersieht, sofern sie nicht überhaupt apologetisch motiviert ist, die Dynamik der Veränderung, die das Christentum im 19. und 20. Jahrhundert auszeichnete. Überdies sind viele Studien zum Verhältnis von Rasse und Religion auf einen Kirchenbegriff fixiert, der das Gros der Laienchristen und ein sich der Kirche entfremdendes und nach neuen weltanschaulichen Orientierungen suchendes Bürgertum außer Acht lässt. Man kann auch beim nationalsozialistischen Antisemitismus der Rasse kaum von einem grundsätzlichen Paradigmenwechsel und einem Quantensprung in der langen Geschichte des abendländischen Judenhasses sprechen. Das Entscheidende am Rassenantisemitismus ist nicht die Rasse und die fiktive Ausdeutung der auf sie zurückgeführten Rassensubstanz. Es handelt sich hierbei nicht um eine autonome, aus sich selbst heraus existierende Größe, sondern um einen neuen Versuch, alten Vorurteilen mit Hilfe einer vorgeblich wissenschaftlich objektiven Methode neues Leben einzuhauchen. Rasse wird deshalb in dieser Untersuchung als eine Chiffre gesehen, die für Wissenschaftlichkeit oder zumindest für das Bemühen um eine wissenschaftliche Vorgehensweise steht und die das Verlangen zum Ausdruck bringt, einen unplausibel gewordenen Antisemitismus des Herkommens und der Tradition auf eine solidere Grundlage zu stellen. Man sollte es sich nicht zu einfach machen und die zunächst mit der Idee der Rasse verbundene Hoffnung auf eine bessere Klassifikation des Menschen als im Grundsatz verfehlt abzulehnen. Im Nachhinein hat man gut reden und kann frühere Erkenntnisse auf der Grundlage späterer Erfahrungen leicht als falsch unbegründet zurückweisen. Auch die Idee der Rasse muss aus ihren eigenen Entstehungsbedingungen heraus verstanden und analysiert werden. Die wissenschaftlichen Entwicklungen auf dem Gebiet der Medizin, der Genetik, des Blutkreislaufs, der Zelltheorie und einer neuen biologischen Anthropologie schufen die Voraussetzungen dafür, dass sich der uralte Mythos von der Lebenskraft des Blutes regenerieren und neu formieren konnte. Wie hätten sich diese neuen Erkenntnisse nicht mit dem alten Blutmythos verbinden können? Wenn man das kaum ansatzweise gelöste Problem der Immunschwäche AIDS bedenkt, sollte man vorsichtig sein, frühere Vorstellungen vom Zusammenhang zwischen bösem Blut und bösem Verhalten als mit einer modernen Denkungsart grundsätzlich unvereinbar zu erklären.

Die Suche nach einer wissenschaftlichen Welterklärung blieb nicht auf den Bereich der Natur und Körperlichkeit beschränkt. Es beflügelte auch die Herausbildung der so genannten Geisteswissenschaften und bestimmte ebenso die Entwicklung der Universitätstheologie. Die historischkritische Bibelwissenschaft legt ein eindrucksvolles Zeugnis für diese Bemühungen ab. Die Religion musste sich insgesamt der Wissenschaft öffnen und rationalen Erklärungen ein stärkeres Gewicht beimessen, wollte sie nicht Gefahr laufen, als fortschrittsfeindlich wahrgenommen zu werden und als Folge davon ihren Rückhalt in der Gesellschaft zu verlieren. Zwischen den beiden Polen von zu viel und zu wenig Rationalität bewegte sich auch die Entwicklung des religiösen Vorurteils gegen das Judentum. Es musste gleichzeitig religiös und wissenschaftlich sein, wobei die genauen Parameter des Verhältnisses von religiöser Tradition und wissenschaftlichem Fortschritt auszuhandeln und nicht von vornherein festgelegt waren. Wenn man den religiösen Antijudaismus als genuinen Bestandteil der Modernisierung von Religion versteht und im Gesamtkontext der Moderne verortet, erfährt die Erforschung des Antisemitismus eine wichtige Akzentverschiebung. Dann wird nicht die Religion als solche inkompatibel mit dem Antisemitismus der Moderne, sondern nur eine veraltete, unzeitgemäße Form von Religion. In der Tat empfanden viele Menschen die Amtskirche als rückständig und im Widerspruch zu einer modernen Lebensauffassung stehend. Einfach zu sagen, die Juden würden an den falschen Gott glauben und das Mysterium der Taufe als Antwort auf die Probleme der Gegenwart auszugeben, konnte schwerlich eine Erfolg versprechende Strategie sein. Das heißt, die konventionelle Berufung auf die Wahrheit des christlichen Glaubens war für eine Lösung der „Judenfrage“ dysfunktional geworden. Im Gefolge der Aufklärung und der allmählichen Aufhebung der rechtlichen Diskriminierung der Juden in Deutschland wurde eine in herkömmlicher Weise religiös argumentierende Judenfeindschaft mehr und mehr als Anachronismus empfunden und mit dem Adjektiv „mittelalterlich“ belegt. Mit den Emanzipationsgesetzen und spätestens seit Erlass der Weimarer Reichsverfassung war es nicht mehr möglich, den Juden bestimmte Tätigkeiten und Bereiche der deutschen Gesellschaft auf dieser Grundlage vorzuenthalten. Den Juden stand unter den Bedingungen der formalen Gleichberechtigung aller Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften im Deutschen Reich eine Karriere im Staat, der Politik, der Armee, der Universität etc., zumindest theoretisch, offen. Wollte man ihnen umgekehrt den Zugang zu den Zentren der staatlichen Macht verweigern, oder sie, sofern sie sich dort bereits „festgesetzt“ hatten, daraus vertreiben, half die Berufung auf den christlichen Glauben allein nicht weiter. Es war genau diese Dysfunktionalität einer alten Religionsauffassung, die zur Suche nach geeigneteren Segregationskriterien führte. Um eine allgemeine Wirksamkeit zu erlangen, musste der Antisemitismus deshalb nach der religiösen wie nach der wissenschaftlichen Seite hin fundiert sein.

Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme eröffnete die Kombination von rassischen und religiösen Diskurselementen die Möglichkeit, das Judentum auf der Basis einer „objektiven“ Beweisführung eliminieren zu können. An den religiösen Antijudaismus früherer Zeit anschließend, konnte man sich mit Hilfe der Rassentheorie zugleich von der Unwissenschaftlichkeit eines vormodernen Typs der Judenfeindschaft absetzen. Das ermöglichte es ein weiteres Mal, die Vorzüge des alten mit denen eines neuen Antisemitismus zu synthetisieren. Beide Formen der Judenfeindschaft organisch miteinander zu verbinden, war das Hauptanliegen der sich nach 1933 herausbildenden NS-Judenforschung. Aufgrund besonders geeigneter Voraussetzungen gelang es der Universität Tübingen, sich auf diesem neuen Wissenschaftsgebiet besonders zu exponieren und eine führende Rolle einzunehmen. Nicht von ungefähr wurde an der Eberhard Karls Universität im Jahr 1936 ein erster Lehrauftrag für das Studium des Judentums mit einem unzweideutig antisemitischen Charakter verliehen und nicht umsonst wurde sein Inhaber, Karl Georg Kuhn, im September 1942 der erste Professor des Dritten Reiches, der das Lehrgebiet einer antisemitischen Erforschung der „Judenfrage“ in Vorlesungen und Übungen vertrat. Wie es dazu kam und wie sich die Tübinger Entwicklung in den Gesamtkontext der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik einordnet, ist Gegenstand der vorliegenden Untersuchung.

Die Verwissenschaftlichung der ›Judenfrage‹ im Nationalsozialismus

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