Читать книгу Die Verwissenschaftlichung der ›Judenfrage‹ im Nationalsozialismus - Horst Junginger - Страница 9

3. Die Universität Tübingen und die Juden: von der Universitätsgründung im Jahr 1477 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts

Оглавление

Die Frage eines gelehrten, akademischen oder universitären Antisemitismus rührt an die innere Substanz der Universitätsverfassung. Sieht man in der Überwindung von Unwissen und im Kampf gegen oberflächliche Vorurteile und eine sich lediglich den Anschein der Wissenschaftlichkeit gebende Halbbildung die vornehmste Aufgabe der Universität, wäre die mit den Methoden der Wissenschaft unternommene Verarbeitung antisemitischer Ressentiments das schlechthinige Gegenteil davon. Doch genau dieser Fall trat nach 1933 ein, als sich mit der nationalsozialistischen Judenforschung eine neue Form des Antisemitismus herausbildete, die darauf abzielte, der Judenpolitik des Dritten Reiches eine theoretische Legitimation zu verschaffen. Ein solcher, sich selbst als wissenschaftlich verstehender Antisemitismus bedeutete zwar ein geschichtliches Novum. Er entstand aber nicht im luftleeren Raum ex nihilo. Ihm gingen herkömmliche Formen der Judenfeindschaft voraus, an die er inhaltlich anschloss und auf deren Fundament er aufbaute.

Bereits bei der Gründung der Universität Tübingen spielte die Ablehnung des Judentums eine wichtige Rolle. Als Graf Eberhard im Bart (1445 – 1496) es 1477 mit „bäpstlicher“ Erlaubnis des „hailigen stuls zu Rom“ unternahm, „ain hoch gemainschul und universitet in unsrer stat Tüwingen zu stifften und ufftzurichten“,1 verwies er gleichzeitig alle in Tübingen lebenden Juden der Stadt. Die Tatsache der Judenaustreibung wurde in der offiziellen Universitätsgeschichtsschreibung nach 1945 gerne verschwiegen. Man konzentrierte sich statt dessen auf die positiven Aspekte der Universitätsentwicklung und stellte das von Eberhard im Stiftungsbrief am 9. Oktober 1477 gebrauchte Bild vom Brunnen des Lebens in den Vordergrund, aus dem tröstliches und heilsames Wissen geschöpft werde, mit welchem sich die menschliche Blindheit und Unvernunft überwinden lasse. In der Zeit vor 1945 hatte man die antijüdische Einstellung des Universitätsgründers allerdings noch ganz anders beurteilt. Die von ihm befohlene Vertreibung der Juden galt während des Nationalsozialismus als sein wichtigstes Vermächtnis, dem sich die Universität von Anfang an verpflichtet gefühlt habe. Schon im 19. Jahrhundert gehörte der Gedanke, dass Eberhard im Bart den Juden, „deren sich einige wieder eingenistet hatten“, den Aufenthalt in Tübingen „ein für allemal verbot“, zum festen Bestandteil der universitären Erinnerungskultur.2 Erst seit wenigen Jahren wird diese dunkle Seite der Universitätsgeschichte kritisch in den Blick genommen. Hier ist besonders die mit dem „Dr. Leopold-Lucas-Nachwuchswissenschaftler-Preis“ ausgezeichnete Dissertation von Stefan Lang zu erwähnen, in der die Eberhard Karls Universität mit großer Kenntnis der zeitgenössischen Quellen im Kontext der württembergischen Judenpolitik behandelt wird.3 Seither wird die Frage nach Eberhards Haltung dem Judentum gegenüber fundiert und offen diskutiert.4

Als Hauptgrund für die Vertreibung der Juden nannte der Stiftungsbrief der Universität Tübingen den Schutz der Studenten vor jüdischen Wucherern. Es heißt dort: „Wir wöllent ouch und gebieten Ernstlichen denen von Tüwingen, das sie kein J u d e n och sust keinen offen w u c herer by in, in der stat oder in iren zwingen und bennen laussen wonhafft beliben.“5 Auch wenn Eberhard für seinen Entschluss einen ökonomischen Grund anführte, muss die von ihm befohlene Ausweisung der Juden aus Tübingen auf dem Hintergrund einer allgemeinen Judenfeindschaft der Zeit gesehen werden, für die zwischen religiösen und wirtschaftlichen Argumenten kein Gegensatz bestand. Der Kampf gegen „jüdischen Wucher“ findet sich bereits in den Bestimmungen des 4. Laterankonzils, deren 67. Konstitution anordnete, dass den Juden die Gemeinschaft zu entziehen sei, falls sie von den Christen unangemessene Zinsen nehmen würden.6 Biete man den Juden keinen Einhalt, werde das Vermögen der Christen bald erschöpft sein. Die Kirchenführer sollten die Christen deshalb ermahnen, sich des Handelsverkehrs mit den Juden zu enthalten. Aufgabe der weltlichen Macht sei es, für die Durchsetzung der Anordnung zu sorgen und sicherzustellen, dass der Kirche für den von den Juden verursachten Schaden Genugtuung gewährt würde.7 Schon 1456, das heißt zwei Jahrzehnte vor der Universitätsgründung, erging auf dieser Grundlage ein Vertreibungsbefehl durch Graf Ulrich von Württemberg-Stuttgart (1430 – 1480), der auch für den Uracher Landesteil Gültigkeit hatte. In Tübingen scheint er jedoch nicht umgesetzt worden zu sein. Eberhard habe sich in seiner Judenpolitik aber daran orientiert.8

Zum Zeitpunkt der Ausweisung der Tübinger Juden durch Eberhard im Bart lebten in der ungefähr 3500 Einwohner zählenden Stadt etwa fünf jüdische Familien. Ihre Schutzherren waren die Grafen von Württemberg, denen Kaiser Karl IV. (1316 – 1378) 1360 das Judenregal verliehen hatte.9 Dabei handelte es sich um ein königliches Hoheitsrecht, das es Juden ermöglichte, sich gegen Bezahlung unter den Schutz des Kaisers zu stellen. Die persönliche Bindung des Regals an den Kaiser wurde im Laufe der Zeit aber mehr und mehr aufgeweicht. Karl IV. selbst verpfändete es des Öfteren zur Tilgung seiner Schulden. Die Aufnahme von Juden beruhte deshalb weniger auf dem Gedanken, eine fremde Religion zu tolerieren, als auf dem Wunsch nach einer weiteren steuerlichen Einnahmequelle. Das aufwändige Leben bei Hof musste ebenso finanziert werden, wie die zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen. In einer an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen eingereichten antisemitischen Dissertation aus dem Jahr 1852 heißt es, dass die Juden früher für die Kasse des Kaisers, später aber für die der württembergischen Grafen im Land „gehalten“ worden seien.10 Eberhard im Bart sei der erste gewesen, der mit der Judenvertreibung das Gemeinwohl über seine Privatinteressen gestellt und zum Maßstab seiner Politik gemacht habe.11

Eberhard kam 1459 mit 14 Jahren noch als Minderjähriger im Uracher Landesteil Württembergs an die Regierung. 1474 heiratete er die oberitalienische Adlige Barbara Gonzaga von Mantua, wobei allein bei der Nachfeier in Urach 13.000 Gäste mit 150.000 Liter Wein und 165.000 Broten verköstigt wurden.12 Unter der Devise „Attempto“ (Ich wag es) gründete Eberhard drei Jahre später die Universität Tübingen. Nachdem ihm 1482 die Wiedervereinigung der beiden Landesteile Stuttgart und Urach gelungen war, wurde er von Kaiser Maximilian I. (1459 – 1519) auf dem Wormser Reichstag 1495 zum Herzog von Württemberg erhoben. Eberhard galt nach Aussage seines Erziehers und späteren Freundes Johannes Naukler (1425 – 1510) als außerordentlich frommer Mann, der sich streng an die Gebote der Kirche hielt.13 Dass seine Judenfeindschaft auf religiösen Motiven beruhte, steht außer Zweifel. Eberhard sah in der Universität eine Institution, die in Übereinstimmung mit der christlichen Religion stehen und deshalb vor den Juden und ihrem erpresserischen Wucher geschützt werden musste. Aus seiner Sicht wäre es verhängnisvoll gewesen, Juden in einer Stadt zu tolerieren, die zum geistigen Zentrum Württembergs werden sollte. Eine judenfeindliche Einstellung scheint sich bei Eberhard besonders während seiner 1468 unternommenen Pilgerfahrt ins Heilige Land verfestigt zu haben. Dabei hatte er die Stationen des Lebens und Sterbens Jesu besucht, darunter gerade solche Stätten, an denen nach der Überlieferung dem Messias durch die Juden Leid zugefügt worden war. Mit Sicherheit übte dieser unmittelbare Eindruck eine prägende emotionale Wirkung aus.14

Die Tatsache, dass sich in Eberhards Besitz eine wertvolle Handschrift des Trienter Ritualmordprozesses befand, verweist ebenfalls auf seine antijüdischen Neigungen. Wahrscheinlich entstand diese für den persönlichen Gebrauch überarbeitete Ausgabe der Prozessakten, die über die Hintergründe des von den Juden angeblich begangenen Verbrechens informierte, auf Veranlassung des Trienter Bischofs Johannes Hinderbach, der ein großes Interesse an der Verbreitung der Ritualmordlegende hatte.15 Thomas Miller behauptete 1939 sogar, dass von einem Juden namens Jakob im 14. Jahrhundert in Tübingen ein Ritualmord verübt worden sei. Dieser habe am Ende des Pestjahres 1348 in der Universitätsstadt einen „Christenknaben geschächtet“.16 Die über 600 Seiten umfassende Handschrift des Trienter Prozesses kam vermutlich über Eberhards Schwager, Kardinal Francesco Gonzaga, in seinen Besitz. Mitglieder der Gonzaga-Familie pilgerten des Öfteren zum Grab des vermeintlichen Märtyrers Simon von Trient.17 Als Verfasser der Handschrift konnte ein Dominikanermönch namens Erhard („frater Erhardus“), vermutlich ein Schüler des berüchtigten dominikanischen Hetzpredigers Petrus Schwarz (Nigri), ausgemacht werden.18 Nigri (1434–1483), der während des Studiums in Salamanca und Montpellier mit Juden in Kontakt gekommen war und von ihnen Hebräisch gelernt hatte, nahm 1475 / 76 als Sachverständiger am Trienter Ritualmordprozess teil. Seine 1474 in Regensburg gehaltenen antijüdischen Hasspredigten wurden im Jahr darauf als Tractatus contra perfidos Judeos bei Konrad Fyner in Esslingen gedruckt. Drei Jahre später ließ dieser unter dem Titel Stella Meschiah (Der Stern des Messias) eine erweiterte Fassung des Tractatus folgen. Auf Veranlassung Eberhards siedelte Fyner 1478 nach Urach über und wurde zu einer Art Hofbuchdrucker des württembergischen Grafen.19 Auch wenn sich nicht mit letzter Gewissheit aufklären lässt, unter welchen Umständen die Handschrift der Trienter Prozessakten in den Besitz Graf Eberhards gelangte, kann man doch in jedem Fall von einem besonderen Interesse an dem den Juden zugeschriebenen Ritualmord ausgehen. Möglicherweise wurde die Handschrift gerade im Hinblick auf Eberhards antijüdische Neigungen angefertigt.20 Auch in der 1516 publizierten Weltchronik Johannes Nauklers findet der Trienter Ritualmordprozess Erwähnung. Naukler behauptete hier, dass für die Pestpogrome des 15. Jahrhunderts jüdische Brunnenvergifter verantwortlich zu machen seien.21

Als weiteres Beispiel für den antisemitischen Kontext der Zeit werden von Stefan Lang die judenfeindliche Motive in der Sakralkunst des 15. Jahrhunderts angeführt, die sich mit den Ansichten Eberhards gedeckt hätten. So zeigen die zwischen 1476 und 1479 geschaffenen Kirchenfenster im Chor der Tübinger Stiftskirche Juden in negativer Weise. Die Passionsdarstellung des Hochaltars im Kloster Blaubeuren, insbesondere die Geißelung und Verspottung Jesu, lasse ebenfalls eine bildpolemische Judenfeindschaft erkennen.22 Eine noch stärker judenfeindliche Bildaussage habe die Darstellung der Kreuzestragung Jesu in der Stuttgarter Stiftskirche, die um 1445 entstand. Sie zeigt einen durch seinen Hut gekennzeichneten Juden, der Jesus an einem Strick zur Hinrichtung zerrt. Einige grinsende Juden über dem Kreuz weisen sich dabei „als zufriedene Urheber und Hintermänner der Passion des Gottessohnes aus“.23 Noch deutlicher konnten die Juden als Gottesmörder kaum abgebildet werden. Dass sich eine vergleichbare Stigmatisierung von Juden in vielen anderen religiösen Bildwerken der Zeit in und außerhalb Württembergs nachweisen lässt, kann aber schwerlich dazu dienen, die antijüdische Haltung Eberhards zu relativieren. Im Gegensatz zur Eindeutigkeit der von ihm selbst angeführten Belege spricht Lang indes von einer ambivalenten Haltung, die Eberhard den Juden gegenüber eingenommen habe.24 Der Ausdruck Ambivalenz würde aber bedeuten, dass es auch Quellen gibt, die ein judenfreundlicheres Verhalten Eberhards dokumentieren. Davon kann nicht die Rede sein. Auch Roland Deigendesch vermag im Verhalten des Tübinger Universitätsstifters keine außergewöhnliche Judenfeindschaft zu erkennen.25 Doch weder der Verweis auf einen allgemein verbreiteten, lediglich „zeittypischen“ Antisemitismus, noch der Schluss in absentia über das Nichtvorhandensein judenfeindlicher Maßnahmen können Eberhard vom Vorwurf freisprechen, ein prononcierter Judengegner gewesen zu sein. Neben dem mentalen Vorbehalt, den Universitätsgründer in keinem allzu schlechten Licht erscheinen zu lassen, spielte hierbei offenbar auch die Intention eine Rolle, die grob überzeichnende Interpretation Eberhards als Vorkämpfer des Antisemitismus, wie sie während des Nationalsozialismus florierte, zurückzuweisen. Die Art und Weise, wie der Württembergartikel in der Germania Judaica den Antisemitismus Graf Eberhards zu verharmlosen sucht, kommt dagegen fast schon einer Geschichtsklitterung gleich. Seinem Autor zufolge muss die Vertreibung der Juden aus Württemberg als ein durchaus normales Element christlicher Herrschaft im Mittelalter angesehen werden. Eine besondere Judenfeindschaft vermag er darin nicht zu erkennen.26 Die jüngst von Sönke Lorenz getroffene Feststellung, dass Eberhard, wie etliche seiner Standesgenossen, ein „überzeugter Judenfeind“ gewesen sei, trifft die Realität weitaus besser.27

Die weite Verbreitung antijüdischer Vorurteile während des Mittelalters lässt sich kaum als Gegenargument anführen, um die Judenvertreibung durch Eberhard im Bart zu entschuldigen. Gerade umgekehrt war die allgemeine antijüdische Stimmung die Vorbedingung dafür, dass es in bestimmten Situationen zu konkreten judenfeindlichen Aktionen kam. Der Blick auf einige andere Universitätsgründungen dieser Zeit kann genaueren Aufschluss darüber geben, inwieweit sich der antijüdische Impuls, der in Tübingen zur Vertreibung der Juden führte, auch andernorts auswirkte. Generell ist hier die Feststellung angebracht, dass die spätmittelalterlichen Universitäten nicht direkt der kirchlichen Jurisdiktion unterstanden, dass sie aber ohne Erlaubnis der Kirche und ohne Übereinstimmung mit der christlichen Religion weder gegründet noch aufrechterhalten werden konnten. Für die Juden war an den Universitäten deshalb nicht nur kein Platz, sie standen ihrem weltanschaulichen Anliegen diametral entgegen. Guido Kisch hat den christlichen Kontext der 1348 erfolgten Gründung der Universität Prag eingehend untersucht und kam zu dem Schluss, dass diese, wiewohl keine kirchliche Einrichtung im engeren Sinn, gleichwohl einen streng konfessionellen Charakter trug.28 Die Erlangung aller akademischer Würden setzte selbstverständlich die Zugehörigkeit zur Kirche voraus, wie auch von den Universitätslehrern und ihren Studenten zahlreiche Glaubensbekenntnisse abverlangt wurden. So musste beispielsweise bei der Promotion ein Eid auf die Jungfräulichkeit Marias geschworen werden. Kisch wies darauf hin, dass es für die mittelalterlichen Universitäten nicht unüblich war, die Häuser von Juden für die eigenen Belange zu verwenden. Auf diese Weise sei bei den Universitätsgründungen in Wien (1365), Heidelberg (1386) und Frankfurt/Oder (1506) verfahren worden.29

Kischs Beobachtungen lassen sich besonders an der Universität Heidelberg verifizieren, die 1386 von Kurfürst Ruprecht I. (1309 – 1390) mit dem Ziel errichtet wurde, seinem Territorium einen geistigen Mittelpunkt und einen Ort zur Ausbildung der Kirchen- und Staatsdiener zu geben. Zwar verhinderte es Ruprechts judenfreundliche Haltung zunächst, dass antisemitische Maßnahmen in der direkten Gründungsphase zum Tragen kamen. Doch schon ein Jahr nach seinem Tod vertrieb Kurfürst Ruprecht II. (1325 – 1398), sein Neffe und Nachfolger, alle Juden aus der Pfalz und vermachte ihre Besitztümer der Universität Heidelberg.30 Hatte die Universität zunächst ein eher bescheidenes Dasein gefristet, erfuhr sie durch den ihr inkorporierten jüdischen Besitz einen beträchtlichen Aufschwung. Sie konnte nicht nur einen Teil ihrer Einrichtungen auf Kosten der vertriebenen Juden unterbringen. Auch das Synagogeninventar und die zurückgelassenen Bücher wurden zugunsten der Universität veräußert. Schließlich wurde sogar der jüdische Friedhof gewinnbringend verpachtet. In Anwesenheit Ruprechts II., Ruprechts III. (1352 – 1410) und der vier Magister der Universität, das heißt der Vertreter der Fakultäten, verwandelte der Wormser Bischof in einem Gottesdienst am 2. Weihnachtsfeiertag des Jahres 1390 das Gebäude der ehemaligen Synagoge „zu Ehren des allmächtigen Gottes“ in eine Marienkapelle.31 Wenige Wochen zuvor hatten im Oktober 1390 dreizehn jüdische Familien die Stadt verlassen müssen. Ihre Synagoge fand daraufhin als Hörsaal und Tagungsort der Congregatio universitatis Verwendung.32 In der sog. Rupertinischen Konstitution stellte Kurfürst Ruprecht II. 1395 eine direkte Verbindung zwischen der Vertreibung der Juden und der Sorge um das Seelenheil seiner Landeskinder her.33

Der Stiftungsbrief der Universität Tübingen vom 9. Oktober 1477 ging auf das Freiburger Vorbild zurück, bei dem die antijüdische Komponente allerdings noch deutlicher zum Ausdruck gekommen sei.34 Die Universität Freiburg wurde 1457 durch den österreichischen Erzherzog Albrecht VI. (1418 – 1463) gegründet. Seine Gattin, Mechthild von der Pfalz (1419 – 1482), regte zwei Jahrzehnte später die Gründung der Universität Tübingen durch ihren aus erster Ehe stammenden Sohn Eberhard an. Dadurch, dass der Freiburger Stiftungsbrief noch weiter gehende Bestimmungen enthielt, wollte Miller aber das Verdienst Eberhards nicht geschmälert sehen. Die praktische Bedeutung sei in Tübingen viel größer gewesen, weil in Freiburg bereits seit 1401 keine Juden mehr geduldet wurden und somit auch nicht vertrieben werden mussten. Miller zufolge hielt es Eberhard „mit dem hohen Ziel und idealen Sinn seiner Gründung“ für unvereinbar, dass in den Mauern der Universitätsstadt „noch länger Juden wohnten, die nicht bloß die geistige Atmosphäre der Musenstadt mit ihrem fremdartigen Wesen und Leben zu verseuchen, sondern auch den Frieden unter den akademischen und städtischen Bürgern durch wucherische Ausbeutung zu stören drohten“.35 Das der Medizinischen Fakultät durch Eberhard schon 1477 verliehene Privileg, dass ohne ihre Erlaubnis in Tübingen und Umgebung die Arzneimittelkunst nicht ausgeübt werden durfte, habe nicht nur den Kurpfuschern, sondern vor allem den Juden gegolten. Zwar war den Christen im Mittelalter die Verwendung jüdischer Ärzte generell verboten, doch stellte Kaiser Friedrich III. (1415 – 1493) mehreren jüdischen Ärzten Schutzbriefe aus und hielt selbst einen jüdischen Leibarzt. Ausgerechnet von diesem habe Eberhards Ratgeber Johannes Reuchlin (1455 – 1522) die hebräische Sprache erlernt.36 Als Eberhard 1482 die Alleinregierung über ganz Württemberg übernahm, sei es ihm möglich geworden, seinen judengegnerischen Zielen noch größere Wirksamkeit verleihen. Um das Land in aller Zukunft von den Juden rein zu halten, bestimmte er in seinem Testament vom 26. Dezember 1492 mehrere Jahre vor seinem Tod, dass Juden in seiner Herrschaft weder siedeln noch Handel treiben dürften:

„Es ist och unser ordnung und letster will, das fürohin unser Erben in unser Herschaft keinen Juden seßhaft wonen noch dehain (kein) Gewerb tryben lassen.“37

Eberhard habe die völlige Entfernung der Juden aus dem Land für die beste Lösung der Judenfrage gehalten. Der Ausschluss der Juden sei auf diese Weise zu einer Art Grundgesetz in Württemberg und die Landesuniversität Tübingen zum ideologischen Zentrum der Judenpolitik Eberhards geworden. Tatsächlich erlangte Eberhards letzter Wille in der zweiten Regimentsverordnung vom 14. Juni 1498 den Rang eines Landesgesetzes, so dass die Vertreibung der Juden, die sich 1477 auf die Stadt Tübingen beschränkte, nun auf das ganze Land ausgedehnt wurde.38 Es heißt dort, dass die Juden nicht nur Wucher nehmen würden und „Gott dem allmechtigen, der Natur und cristenlicher Ordnung hessig, verschmecht und widerwertig“ seien, auch der gemeine Mann und Untertan würde sie als „verderplich und unlydenlich“ empfinden. Dann folgt der vielfach zitierte Satz von den Juden als ‚nagendem Gewürm‘:

„So wöllen wir zu voderst Gott dem allmechtigen zu eeren, ouch handhabung vorberürts Testaments und letsten Willens und von gemains nutzs wegen, das dise nagenden würm die juden in disem fürstenthumb nit gehalten werden.“39

In fast allen späteren Landesordnungen und auch noch im Erbvergleich von 1777 sei dieser Grundsatz wiederholt worden.40

Die Arbeiten des Tübinger Universitätsbibliothekars Thomas Miller zielten generell darauf ab, die Universität und ihren Gründer möglichst positiv, das heißt nach damaligem Verständnis möglichst antisemitisch erscheinen zu lassen. Das gemeinschädliche Wesen der Juden beruhe nicht so sehr auf ihrer Religion, als auf ihrer Rasse. Graf Eberhard im Bart habe dies vielleicht noch nicht rational erkannt, aber zumindest instinktsicher gespürt: „Er konnte den Juden nicht nur nicht leiden, weil er ein Feind Jesu und Mariä war, weil er wucherte und betrog, sondern weil er eben ‚Jude‘ war.“41 Millers auf den Nationalsozialismus hin ausgerichtete Beschreibung der Universität Tübingen ist in vielem überzogen, sein Antisemitismus geradezu militant. Die Pestpogrome des 14. Jahrhunderts nannte er wegen der Bedrückung des Volkes durch die Juden nur den äußeren Anlass einer ebenso gerechtfertigten wie konsequenten Judengegnerschaft. Es sei kein Wunder gewesen, dass die Juden der Brunnenvergiftung bezichtigt und deswegen in fast allen größeren Städten verfolgt und verbrannt wurden: „Aber die Aktion traf nur einen Teil der Judenniederlassungen und war nicht nachhaltig genug.“42 Das hätte es den Juden erlaubt, rasch an ihre früheren Wohnorte zurückzukehren. Auch in Tübingen siedelten sie sich wieder an, so dass Eberhard hundert Jahre später wieder vor dem gleichen Problem stand.

Trotz der Maßlosigkeit, mit der Miller der Universität Tübingen eine antisemitische Tendenz unterstellte, kann man ihm weder eine intensive Beschäftigung mit ihrer Geschichte, noch eine außerordentliche Kenntnis der einschlägigen Quellen absprechen. Man würde es sich zu einfach machen, wollte man seine Ansichten prinzipiell für falsch halten. Hinzu kommt, dass diese von seinen Zeitgenossen sehr positiv aufgenommen wurden und dass sein Antisemitismus, der uns Heutigen so missfällt, damals in und außerhalb der Universität auf einhellige Zustimmung stieß. Miller (1909 – 1945) stammte aus einer katholischen Familie in Oberschwaben und wurde 1932 an der Universität Tübingen mit einer Arbeit über Das katholische Kirchengut in Württemberg promoviert. Danach arbeitete er als Bibliothekar, bis er 1941 eingezogen wurde und mit der Wehrmacht am Russlandfeldzug teilnahm. 1944 in Kriegsgefangenschaft geraten, starb er im Januar 1945 in Nowosibirsk an der Ruhr. Seit 1936 trat er mit einer Vielzahl antisemitischer Publikationen in Erscheinung, die vor allem das Leben der Juden in Württemberg und Tübingen thematisierten. Dabei hob er besonders auf die judengegnerische Einstellung der Eberhard Karls Universität ab. Sie sei von Beginn an ein geistiges Widerstandszentrum gegen das Judentum gewesen sei und habe dessen zerstörerischen Einfluss über die Jahrhunderte hinweg erfolgreich bekämpft. Es sei das Verdienst Graf Eberhards, dass sich die Vorstellung von den Juden als Würmer, die den christlichen Staat an seinen Wurzeln zernagen, im allgemeinen Bewusstsein der württembergischen Bevölkerung verfestigen konnte. Auch sein älterer Bruder Max war nicht frei von antisemitischen Ressentiments, denen er in einem Artikel über den ersten getauften Juden, der an der Universität Tübingen eine Professur erhielt, freien Lauf ließ. Max Miller (1901 – 1973) arbeitete seit 1929 als Archivar am Staatsarchiv Stuttgart und wurde nach dem Krieg von 1951 – 1967 Leiter des Hauptstaatsarchivs Stuttgart und der Archivdirektion Stuttgart.

Die Veröffentlichungen der Gebrüder Miller müssen auf dem Hintergrund eines in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre aufkommenden archivarischen Interesses an den Juden gesehen werden, das sich im Umfeld der Württembergischen Kommission für Landesgeschichte herauskristallisierte. Dabei wurde die Erforschung der „Judenfrage“ auf landesgeschichtlicher Ebene, und hier insbesondere die Durchforstung der württembergischen Archive nach Judaica, zu einem der Arbeitsschwerpunkte. Am 6. März 1937 erläuterte der württembergische Ministerpräsident und Kultusminister Christian Mergenthaler (1884 – 1980) in Stuttgart, worin die Aufgabe der Kommission nach ihrer Neugründung bestehen sollte und an welchen politischen Zielvorgaben sie sich zu orientieren habe. In den Mittelpunkt seiner Ansprache rückte Mergenthaler den Gedanken der Rasse, der, recht verstanden, mit dem Begriff der Wissenschaftsfreiheit nicht kollidieren müsse. Erst der Nationalsozialismus habe die Voraussetzung für eine wirkliche, an den Interessen des eigenen Volkes ausgerichtete Entfaltung der Wissenschaft geschaffen.43 Vorsitzender der mit einem Jahresetat von 20.000 Reichsmark ausgestatteten Kommission wurde der Leiter des Stuttgarter Hauptstaatsarchivs Hermann Haering (1886 – 1967).44 Etwa ein Drittel der dreißig Kommissionsmitglieder hatte eine Professur an der Universität Tübingen inne, unter ihnen Gustav Bebermeyer, Karl Bihlmeyer, Hans Erich Feine, Wilhelm Gieseler, Hanns Rückert und Adalbert Wahl.45 Auch Max Miller gehörte der Kommission an.

Im zweiten Jahrgang der Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte spezifizierte der am Ludwigsburger Staatsarchiv tätige Archivar Walter Grube (1907 – 1992) die Aufgabenstellung der Kommission dahingehend, dass die Judenfrage als Rassenfrage anzupacken sei, die in eine Landesgeschichte auf rassischer Grundlage einmünden müsse. Für diesen Zweck sei es von entscheidender Bedeutung, der Wissenschaft die Archivquellen zum Judenproblem zu erschließen. Man habe deswegen begonnen, die entsprechenden Aktenbestände zu sichten. Doch die beabsichtigte „Veröffentlichung eines Gesamtverzeichnisses aller Judenakten nach Faszikeln und in Regestenform“ sei sehr aufwändig und wohl nicht so schnell zu erwarten. Abgesehen vom Umfang bestehe die Schwierigkeit vor allem darin, relevante Archivalien in anderen Beständen außerhalb der eigentlichen Judenakten aufzufinden.46 Grube nahm in seinem Artikel auch auf Wilhelm Grau (1910 – 2000), den Leiter der Forschungsabteilung Judenfrage des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands Bezug, den er vermutlich im September 1936 auf der Jahrestagung des Gesamtvereins der deutschen Geschichtsvereine in Karlsruhe kennen gelernt hatte.47 Graus Forderung nach einer Erfassung aller Judenakten gelte es in Württemberg umzusetzen. Die Geschichte der Judenfrage dürfe nicht länger von Juden oder jüdischen Werken her geschrieben, sondern müsse aus den Quellen neu geschaffen werden.48 Die Forderung nach einer archivarischen „Sicherstellung der Geschichtsquellen zur Judenfrage“ wurde vom Reichsinnenministerium aufgegriffen und Anfang 1937 in eine Weisung zur „Inventarisierung aller Judaica in den Staatsarchiven“ übergeleitet.49 Von 1940–1942 beim „Archivschutz“ im besetzten Frankreich in Besançon und in Montbéliard tätig, wurde Grube 1967 Nachfolger Max Millers als Leiter der Archivdirektion Stuttgart und des Stuttgarter Hauptstaatsarchivs.50

Die von Mergenthaler bei seiner Ansprache im März 1937 als erstes Arbeitsziel ausgegebene schwäbische Rassen- und Siedlungsgeschichte führte wenige Jahre später zu einer vierbändigen Schwäbischen Rassenkunde, die 1940 / 41 „in Verbindung mit der Kommission für Württembergische Landeskunde“ im Stuttgarter Kohlhammer Verlag erschien. Es handelte sich dabei um rassenkundliche Studien an der schwäbischen Bevölkerung, die mit Hilfe neuer anthropometrischer Messverfahren genaueren Aufschluss über die rassische Zusammensetzug des Schwabentums erbringen sollten. Unter anderem fand man heraus, dass sich der Schwabe durch Rundköpfigkeit auszeichne und besonders durch seine große Kopf- und Gesichtsbreite von anderen deutschen Bevölkerungsgruppen unterscheide.51 Wilhelm Gieseler (1900–1976), auch im Vorstand der Württembergischen Kommission für Landesgeschichte, wollte außerdem das Vorurteil widerlegen, wonach viele Bewohner Württembergs äußerlich einen „ostischen“ Eindruck machen würden.52 Einen noch größeren Unsinn erbrachte die rassenkundliche Untersuchung einer Tübinger Schulklasse, mit der sich Hans Endres (1911 – 2005) im März 1943 für „Religionswissenschaft mit besonderer Berücksichtigung von Religion und Rasse“ an der Universität Tübingen habilitierte. Durch die Befragung der Schüler fand Endres auf experimentellem Wege heraus, dass die „katholische Frömmigkeit mehr gemütsbedingte Naturen, die evangelische Frömmigkeit des deutschen Menschen mehr verstandesbedingte Naturen“ anspreche.53 Thomas Millers Arbeiten zur Geschichte der Juden in Württemberg gehörten ebenfalls in den Zusammenhang einer Rassenkunde des Schwabentums, wobei er seinem Gegenstand entsprechend sehr stark auf Archivquellen zurückgriff. Besonders erwähnenswert ist hier Millers 1939 bei Kohlhammer erschienenes Buch Schwabentum gegen Judentum. Der Kampf um die Judenemanzipation in Württemberg im Spiegel der öffentlichen Meinung, in dem er die Universität Tübingen als antijüdisches Bollwerk beschrieb. Und auch die an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen eingereichte antisemitische Dissertation von Ottmar Weber über die Entwicklung der Judenemanzipation in Württemberg scheint eine direkte Folge der von der Kommission für Württembergischen Landesgeschichte initiierten Erforschung der württembergischen Judenakten gewesen zu sein.54

Entgegen der zum Teil peinlichen Bemühungen Millers und anderer, Graf Eberhard im Bart als eine Art Vorläufer des Nationalsozialismus und frühen Verfechter protorassischer Ideen erscheinen zu lassen, beruhte Eberhards Judenfeindschaft zweifellos auf religiösen Motiven. Wie sein sonstiges Leben wurde auch die Tübinger Universitätsgründung durch seine religiösen Interessen bestimmt und von ihm als besonderer Ausdruck christlicher Frömmigkeit verstanden. Neben Eberhards landesherrlichem Wunsch nach einer eigenen Universität muss das religiöse Anliegen als die eigentliche Triebkraft seines Tuns angesehen werden.55 Auch von Volker Schäfer wird betont, dass die Universitätsgründung Eberhards als ein Akt der Dankbarkeit Gott gegenüber zu verstehen sei. Die vorreformatorische Universität sei insgesamt ein unter der Ämtergewalt des Papstes stehender „corpus ecclesiasticum“ gewesen.56 Sowohl im Hinblick auf die Ebene der privaten Religiosität wie auch hinsichtlich der strukturellen Einbindung in einen größeren kirchenpolitischen Zusammenhang war die von Eberhard befohlene Vertreibung der Juden aus Tübingen die politische Konsequenz seines christlichen Antijudaismus. Von daher klingt es wenig überzeugend, wenn Stefan Lang einerseits konstatiert, dass „judenfeindliche Inhalte stets zum zeittypischen Allgemeingut sowohl der altgläubigen als auch der protestantischen Theologie gehörten“, dass andererseits aber die theologische Judenfeindschaft im 15. Jahrhundert zurückgegangen sei und sich eher auf wirtschaftliche Problemfelder verlagert hätte.57 Lang selbst führt das Beispiel des ersten Universitätsrektors Jakob Andreä (1528 – 1590) an, der eine ausgesprochen judenfeindliche Einstellung an den Tag legte, die sich auf traditionell kirchlichen Argumentationslinien bewegte. Andreä, der von 1562 bis zu seinem Tod als Rektor der Universität Tübingen amtierte, war einer der einflussreichsten Theologen der Zeit und wurde von seinem Herzog sogar als Berater zu den Reichstagen mitgenommen. Die Konkordienformel des Jahres 1577, das heißt ein einheitliches lutherisches Lehrbekenntnis, kam ebenso wie das Konkordienbuch, das drei Jahre später die lutherischen Bekenntnisschriften zusammenfasste, unter seiner maßgeblichen Beteiligung zustande. Andreä kämpfte für die Durchsetzung der Reformation und trug nicht unwesentlich dazu bei, dass sich die lutherische Abendmahls- und Ubiquitätslehre durchsetzen konnte.

Auch Andreäs Missionseifer den Juden gegenüber war berühmt. So gelang es ihm bereits in jungen Jahren als Superintendent von Göppingen, einen zum Tod verurteilten Juden in der benachbarten katholischen Herrschaft Rechberg-Weißenstein zur Annahme der christlichen Taufe zu bewegen. Die Altgläubigen hatten sich zuvor vergeblich darum bemüht, diesen Juden mit Namen Ansteet von Weißenstein zu bekehren. Seine vor mehreren hundert Zuschauern erfolgte Sinnesänderung wurde auf das theologische Geschick Andreäs und seine großen Kenntnisse der alttestamentlichen Religionsgeschichte zurückgeführt. Vor allem durch die Darlegung des Alten Testaments in seiner ihm „wolbekannten sprach“ sei dem Juden ein Licht in seinem finsteren Herzen aufgegangen.58 Der Tatsache, dass man Ansteet von Weißenstein bei dem Bekehrungsschauspiel im Juli 1553 mit dem Kopf nach unten zwischen zwei bissigen Hunden aufgehängt hatte, maß Andreä dagegen kein besonderes Gewicht bei.59 Sieben Jahre später ließ er die Wahrhafftige Geschichte von einem Juden so zu Weissenstein in Schwaben gericht und zum christlichen Glauben ist bekert worden sogar drucken. Auch Andreäs zahlreiche Predigten bezeugen seine feindselige Einstellung den Juden gegenüber, die sich vor allem gegen den ihnen unterstellten Hass auf die Christen richtete. Die Juden würden Gott, Jesus und Maria lästern, die Christen bestehlen, Wucher treiben und die Ziele des Teufels verfolgen. Dass die Juden bei der Kreuzigung Jesu vor Pilatus schrien „sein blut sey uber uns und unsere kinder“, werde auch in der Gegenwart vielfach bestätigt. Falls die Schutzherrn der Juden sie weiterhin auf ihren Territorien duldeten, würden sie sich der Gotteslästerung schuldig machen.60

Der Philosoph und Humanist Johannes Reuchlin galt dem Universitätshistoriker Miller hingegen als judenfreundliche Ausnahme von der allgemeinen antisemitischen Regel. Reuchlin stand seit 1482 in den Diensten Graf Eberhards im Bart. Er begleitete ihn auch auf seinen Italienreisen, wo er mit Papst Sixtus IV. (1414 – 1484) über die Organisationsstruktur der Universität Tübingen debattierte und wo er auch Marsilio Ficino (1433 – 1499) und Pico della Mirandola (1463 – 1494) kennen lernte. Dieser weite philosophische Horizont verhinderte es, dass Reuchlin zu einem Anhänger Luthers und der Reformation wurde. Vor allem sei aber seine Judenfreundschaft der Grund gewesen, warum er später bei Ulrich von Württemberg (1487 – 1550), Eberhards Großcousin und seit 1498 Herzog von Württemberg, in Ungnade fiel.61 Sein illusorisches Humanitätsideal habe Reuchlin die grundsätzliche Problematik mit den Juden nicht sehen lassen. Wegen des von Reuchlin ausgehenden judenfreundlichen Einflusses sei es dem zuvor in Rom lebenden getauften Juden Wilhelmus Raymundi möglich gewesen, 1480 nach Tübingen zu kommen. Als Raymundi nicht Professor werden konnte, sei er allerdings im gleichen Jahr wieder abgezogen.62 Dieses Ziel habe indes ein anderer Jude, Matthäus Adriani (geb. 1475, gest. nach 1521), erreicht, „der für sich die Ehre in Anspruch nehmen kann, der erste und lange Zeit auch der letzte jüdische Lehrer der Universität Tübingen gewesen zu sein“. Der aus Spanien stammende und von dort vertriebene Arzt Adriani unterrichtete an der württembergischen Landesuniversität hebräisch und verfasste eine hebräische Sprachlehre, die 1503 bei Thomas Amshelm in Tübingen gedruckt wurde. Weil die Tübinger Atmosphäre dem Juden aber nicht günstig gewesen sei, habe er 1513 die Stadt aber wieder verlassen.63 Spätere Anfragen von jüdischen Gelehrten auf eine Lehrtätigkeit seien stets abschlägig beschieden worden, so im Falle von Paul Nicolsen im Jahr 1591.64

Weil die universitäre Beschäftigung mit der hebräischen Sprache vor allem dazu gedient habe, die Juden besser von der Wahrheit des Christentums zu überzeugen, sah Miller im christlichen Bekehrungseifer die Gefahr der Aufweichung einer konsequenten Judengegnerschaft. Herzog Ludwig (1554 – 1593) habe die Universität Tübingen zwar angewiesen, den Buchbindern der Stadt das Binden „pappistischer“ und jüdischer Bücher zu verbieten, doch die „Hebreische Bibel“ davon ausgenommen.65 Im 18. Jahrhundert sei schließlich sogar ein getaufter Jude, Christof David Bernard (1682 – 1751), als Hebräischlektor angestellt worden, der von 1718 – 1751 in Tübingen wirkte. Wie so oft bei Konvertiten sei auch Bernard in besonderer Weise für das Christentum und gegen seine alte Religion aufgetreten, wobei er nach Miller „eine geradezu fieberhafte Tätigkeit für die Bekehrung seiner Rassegenossen“ entfaltete.66 Bernard verfasste zahlreiche Schriften und Eingaben zur Judenbekehrung und fungierte auch als Übersetzer bzw. Gutachter im Prozess gegen Joseph Süß Oppenheimer. Später habe er allerdings Bücher zur Ehrenrettung der Juden geschrieben.67

Millers Kritik an der christlichen Judenmission muss auf der Folie des nationalsozialistischen Rassendiskurses gesehen werden. Sein Argument, dass die Kirche den betrügerischen Charakter der Juden unterschätzt hätte, zielte auf ein durch die Taufe nicht veränderbares rassisches Wesen des Judentums ab. Die von den Juden ausgehenden Gefahren seien von der Kirche nicht wirklich erkannt worden, auch wenn Einzelne wie der Hofprediger Lukas Osiander (1534 – 1604) nach üblen Erfahrungen einen „heftigen Abwehrkampf gegen alles Judentum“ führte.68 Auch ein anderer berühmter lutherischer Theologe mit dem Familiennamen Osiander, Johann Adam Osiander (1622 – 1697), wollte Juden allenfalls zum Zweck der Missionierung tolerieren. Am besten wäre es aber, „wenn in einem christlichen Staat überhaupt keine Juden lebten“.69 So wenig die von Miller den Juden unterstellten Rasseeigenschaften etwas mit der Realität zu tun hatten, so wenig kann auf der anderen Seite bestritten werden, dass es die Judenfeindschaft, an die Millers Interpretation anknüpfte, tatsächlich gegeben hatte.

Mit den Gebietserweiterungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts erhielt das protestantische Württemberg einen deutlichen Zuwachs an katholischen Einwohnern, der die Religionsstruktur des Landes einschneidend veränderte. Der neuen Situation Rechnung tragend, errichtete König Friedrich I. (1754 – 1816) 1812 in Ellwangen eine katholische Landesuniversität, die indes nur fünf Jahre existierte. Bereits ein Jahr nach seinem Tod wurde sie von seinem Sohn, König Wilhelm I. (1781 – 1864), als Katholischtheologische Fakultät der Universität Tübingen angegliedert. Dass der König die Interessen des katholischen Bevölkerungsteils stärker berücksichtigen musste, führte in der Konsequenz dazu, dass auch der Drang der Juden nach Gleichberechtigung eine größere Dynamik erhielt. Mit welchem Recht ließ sich den Juden das verwehren, was man den Katholiken zugestand? Hatte die französische Nationalversammlung schon 1791 die Gleichberechtigung der Juden beschlossen, konnte sich dieser Grundsatz in der Vielzahl der deutschen Territorien nur allmählich und mit unterschiedlicher Geschwindigkeit Geltung verschaffen. Württemberg gehörte hier nicht zu den Vorreitern. Außerdem wurde die Judenemanzipation in Deutschland in erster Linie unter dem Aspekt der Erziehung und weniger als Konsequenz eines für alle Menschen gleichen Rechts gesehen. Selbst bei den Liberalen dominierte die Vorstellung einer zivilisatorischen Rückständigkeit der Juden, die von ihnen nun aber nicht mehr nur auf ihre falsche Religion zurückgeführt, sondern als Folge einer politischen und wirtschaftlichen Benachteiligung aufgefasst wurde. Sogar diejenigen, die für die Gleichstellung der Juden eintraten, erklärten ihre vorherige Erziehung und Assimilation zur Vorbedingung für rechtliche Zugeständnisse. Wollten die Juden gleichberechtigte Mitglieder der deutschen Gesellschaft werden, hatten sie vorher ihre negativen Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften abzulegen. Wie es eine Kommission der württembergischen Abgeordnetenkammer 1828 formulierte, mussten die Juden zuvor „entjudet“ werden, damit ihr Anspruch auf Teilhabe an den bürgerlichen Rechten akzeptiert werden konnte. Wenn schon die Minderheit der liberalen Emanzipationsbefürworter die Bereitschaft der Juden voraussetzte, ihr Judentum und ihre jüdische Identität aufzugeben, so war von der großen Mehrheit der Deutschen in dieser Hinsicht wenig Positives zu erhoffen.70 Viele, wahrscheinlich sogar die meisten Deutschen, vermochten der liberalen Hoffnung wenig abzugewinnen, dass die Juden von selbst die Überlegenheit der christlichen Zivilisation anerkennen und freiwillig auf ihre religiösen Gebräuche und unguten Verhaltensweisen verzichten würden.

Dass der Gedanke der Judenemanzipation in einem so prononciert christlichen Staat wie dem Königreich Württemberg auf einen fruchtbaren Boden fallen würde, stand von vornherein nicht zu erwarten. Der unter französischem Einfluss stehende Friedrich I. hatte zwar 1808 versucht, den Juden etwas mehr Rechte einzuräumen, doch das Königliche Obertribunal in Tübingen, damals die oberste Gerichtsbehörde des Landes, hatte ihn daran gehindert.71 Nach einer langen und kontrovers geführten Debatte wurde im württembergischen Landtag schließlich am 25. April 1828 das „Gesetz in Betreff der öffentlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubensgenossen“ erlassen, das die Benachteiligung der Juden zumindest teilweise aufhob. Der württembergische Innenminister Christoph Friedrich Schmidlin (1780 – 1830) ließ aber keinen Zweifel daran, dass man keinesfalls eine völlige Gleichstellung des Judentums im Sinn habe. Durch die neuwürttembergischen Gebiete seien in 80 Orten zu den vorhandenen 500 nun einmal 7000 weitere Juden hinzugekommen. Diese würden sich nicht so leicht „ausschaffen“ oder für rechtlos erklären lassen, wie das früher noch unter Berufung auf die Landesordnungen des 16. Jahrhunderts möglich war.72 Andererseits lebte mittlerweile eine größere Zahl von Katholiken in Württemberg, so dass sich eine Situation ergeben hatte, die es erzwang, den Juden politische Zugeständnisse zu machen.

Der seit 1822 als Kanzler der Universität Tübingen amtierende bekannte Mediziner und Leibarzt des Königs Johann Heinrich Ferdinand Autenrieth (1772 – 1835) hatte in der Abstimmung für die Annahme des Gesetzes votiert und dabei die rhetorische Frage aufgeworfen, warum 1,5 Millionen Christen vor gerade einmal 8000 Juden Angst haben sollten.73 Autenrieths Votum wertete Thomas Miller als Verrat an den Prinzipien der Universität und der Eberhardschen Ausschließungspraxis. Die Befürworter des Gesetzes hätten sich von der jüdischen Propaganda und deren Schlagworten überrumpeln lassen.74 Zu den einflussreichen Gegenstimmen gehörte die Eingabe des Tübinger Handels- und Gewerbeverbands vom 31. Januar 1825, die behauptete, dass von einer politischen Gleichstellung der Juden der Niedergang des Tübinger Handels und Gewerbes, aber auch der Ruin der studierenden Jugend ausgehen werde.75 Ein wortstarker Protest gegen das neue Judengesetz kam auch von dem schwäbischen Nationalisten Rudolph Moser, der in seinem 1828 erschienenen Buch über Die Juden und ihre Wünsche in deutlichen Wendungen gegen die liberale Gedanken- und Gefühlserweichung seiner Zeit Stellung bezog. Die Grundsätze der jüdischmosaischen Religion seien total verdorben und von einer christlichen Staatsordnung nicht hinnehmbar. Würde der König den Juden die gleichen politischen Rechte einräumen, müsste das unweigerlich zum Ruin seiner christlichen Untertanen führen. Die Juden seien Fremdlinge und sollten es auch bleiben.76 So sie sich aber bereits wieder in Württemberg angesiedelt hätten, erzwinge der gerechte und geheiligte Selbsterhaltungstrieb der alteingesessenen Bevölkerung ihre Ausweisung.77 Erst die französische Revolution und ihr Einfluss auf einen Teil des deutschen Volkes habe es möglich gemacht, dass die Juden, dies „zehrende und nagende Gewürm“, die Möglichkeit erhielten, die Grundlagen des christlichen Staates zu untergraben. Vor allem die christenfeindliche Haltung der Juden mache ihre Entfernung zu einem unabweisbaren Erfordernis.78 Ungeachtet der heftigen antisemitischen Polemik Mosers verlieh ihm die Philosophische Fakultät der Universität Tübingen die Doktorwürde für seine Schrift.

Das Gesetz des Jahres 1828 beinhaltete für die Juden eine deutliche Verbesserung gegenüber der Verfassung von 1819, die den vollen Genuss der staatsbürgerlichen Rechte noch an das christliche Glaubensbekenntnis gekoppelt hatte und in der es hieß, dass „nichtchristliche Glaubensgenossen“ zur Teilnahme an den bürgerlichen Rechten „nur in dem Verhältnis zugelassen werden, als sie durch die Grundsätze ihrer Religion an der Erfüllung der bürgerlichen Pflichten nicht gehindert sind“.79 Ein knappes Jahrzehnt später wurden die Juden zu anerkannten Untertanen des Königs von Württemberg, denen im Prinzip die gleichen Rechte gewährt werden sollten. Dazu gehörte auch die Berechtigung, sich den Künsten und der Wissenschaft zu widmen. Der Zugang zu den Staatsämtern sowie das aktive und passive Wahlrecht blieb den Juden jedoch weiterhin verschlossen. Eine weitergehende rechtliche Gleichstellung erfolgte erst 1864, als König Karl (1823 – 1891) mit Ausnahme des Mischehenverbots alle Beschränkungen aufhob, die dem Gesetz von 1828 noch anhafteten.80 Weil Recht haben und Recht bekommen bekanntlich aber zwei verschiedene Dinge sind und weil sich Institutionen wie die Universität vehement dagegen sperrten, Juden die ihnen nun gesetzlich zustehenden Rechte auch tatsächlich zu gewähren, gelang es nur partiell, das Programm der Judenemanzipation in die Realität zu überführen. Je stärker ideologisch relevante Bereiche und Berufe tangiert wurden, desto schwieriger war es für die Juden, Fuß zu fassen. Besonders die sich als dezidiert protestantisch und national verstehende Landesuniversität tat sich schwer, in der Religion der Juden keinen Angriff auf die weltanschauliche Identität des christlichen Staates zu sehen. Die folgenden Beispiele machen deutlich, dass Juden zwar mittlerweile ohne Probleme studieren konnten. Doch eine Anstellung als Universitätslehrer erwies sich weiterhin als völlig undenkbar. Wollte ein Jude Professor und Staatsbeamter werden, hatte er sich vorher taufen zu lassen und das christliche Glaubensbekenntnis anzunehmen. Und natürlich durfte er keine Ansichten vertreten, die im Königreich Württemberg als politisch anstößig galten oder die vielleicht sogar die Monarchie in Frage stellten. Das führte zu einem erheblichen Konversions- und Anpassungsdruck, deren Mechanismus auf liberaler und demokratischer Seite nicht durchschaut und deshalb mit zum Teil antisemitischen Untertönen als jüdischer Opportunismus kritisiert wurde.

Bei dem ersten getauften Juden, der 1811 in Tübingen eine Professur erhielt, Salomo Michaelis (1769 – 1844), spielte außer der Tatsache, dass er den christlichen Glauben annahm, die Unterstützung durch den König die entscheidende Rolle. Aufgrund seiner Stuttgarter Verbindungen hatte Michaelis im Wintersemester 1810 / 11 an der Universität Tübingen einen besoldeten Lehrauftrag für französische Sprache und Literatur erhalten. Michaelis war 1809 in Heidelberg zum Christentum übergetreten, weil ihm die dortige Universität mit dem ausdrücklichen Hinweis auf seine jüdische Herkunft eine Anstellung verwehrt hatte. Kurz nach seinem Glaubenswechsel promovierte er als Externer an der Universität Jena, bevor er im Herbst 1810 nach Tübingen kam. Im Zuge der vom württembergischen König und seinem Kurator Wangenheim unternommenen Umstrukturierung der Universität erhielt Michaelis dann ein Jahr später den neu geschaffenen Lehrstuhl für deutsche Sprache und Literatur, der die Germanistik in Tübingen begründete.81 Als Dank für die ihm aus Stuttgart gewährte Unterstützung verteidigte Michaelis im Verfassungskonflikt zwischen den Ständen und dem König die Position des Monarchen. Da er außerdem als Zensor für die Regierung arbeitete, hielt sich seine Beliebtheit an der Universität Tübingen in engen Grenzen. So war es nicht verwunderlich, dass Michaelis bereits 1817 wieder aus dem Amt ausschied, um die Redaktion des Staats- und Regierungsblattes in Stuttgart zu übernehmen. Seine Tübinger Professorenzeit beschränkte sich deshalb auf einen Zeitraum von nur fünf Jahren. Bekannt wurde Michaelis auch weniger aufgrund seiner wissenschaftlichen Leistungen, sondern vor allem wegen seiner verlegerischen Beziehung zu Friedrich Schiller.82 In der Wahrnehmung der NS-Historiographie hatte Michaelis die Funktion eines Türöffners für eine weitere jüdische Unterwanderung.83 Wie lange sich dieses Negativbild noch über das Ende des Dritten Reiches hinaus halten konnte, zeigt die 1975 erschienene Geschichte der katholischen Theologie an der Universität Tübingen. Ihr Verfasser, der von 1960 bis 1994 an der Universität Mainz lehrende Ordinarius für Kanonisches Recht Georg May, schrieb über Michaelis ganz im Duktus der früheren Zeit: „Ein instruktives Beispiel, wie man in Tübingen Professor werden konnte, liefert die Karriere des wissenschaftlich bedeutungslosen jüdischen Literaten Salomo Michaelis.“84

Der Neffe von Salomo Michaelis, Adolph Michaelis (1797 – 1863), gehörte zu den ersten jüdischen Studenten an der Universität Tübingen überhaupt. Nachdem er 1811 in Tübingen Philosophie zu studieren begonnen hatte, wechselte er 1814 nach Göttingen zur Jurisprudenz, um dort auch sein Doktorexamen abzulegen. 1817 bewarb er sich auf Initiative seines Onkels auf eine juristische Privatdozentenstelle in Tübingen. Die äußeren Umstände nahmen zwischenzeitlich aber eine ungünstige Wendung für Salomo und Adolph Michaelis, weil ihr Protegé Karl August von Wangenheim (1773 – 1850) im November 1817 von seinem Amt als Kultusminister zurücktrat und als württembergischer Gesandter zum Bundestag nach Frankfurt ging. Schließlich setzte sich das Kultusministerium auch ohne Wangenheims Unterstützung über den Einspruch der Juristischen Fakultät hinweg, so dass Adolph Michaelis im November 1819 in Tübingen zum Privatlehrer der Rechte ernannt wurde – vier Tage nachdem sein Taufschein in Stuttgart eingetroffen war.85 Noch im gleichen Jahr folgte die Festanstellung und 1820 die Ernennung zum außerordentlichen Professor. Weitere zwei Jahre später machte ihn ein königliches Dekret am 14. Juni 1822 zum Inhaber des vierten juristischen Lehrstuhls an der Universität Tübingen.86 Die Parallelen zwischen Adolph Michaelis und Heinrich Heine (1797 – 1856), der 1825 in Göttingen zum Doktor der Rechte promoviert wurde und der dann, wiederum wenige Jahre nach Michaelis, mit der Taufe das „Entre Billet“ in die europäische Kultur erlangte, sind frappierend. Sie treffen allerdings auch auf Heines Erfahrung zu, dass eine Konversion nicht unbedingt zur gesellschaftlichen Anerkennung führen musste, da auch ein getaufter Juden nicht als Christ, sondern als Jude wahrgenommen wurde. Auf dieser Linie liegt auch die Aussage des bekannten Staatswissenschaftlers Robert Mohl (1799 – 1875), der seinen zeitweiligen Kollegen an der Universität Tübingen einen getauften Juden „der schlimmsten Art“ nannte.87

Thomas Miller sah in Adolph Michaelis ebenfalls einen typischen Juden, der, nachdem ihm sein Onkel ein Nest an der Landesuniversität bereitet hatte, dafür sorgte, dass ein weiterer „Rassegenosse“, Marum Samuel Mayer (1797 – 1862), von der Regierung gegen den Willen der Fakultät nach Tübingen berufen wurde.88 Die Eltern Mayers hatten ihren Sohn im Alter von vierzehn Jahren auf die Hechinger Talmudschule südlich von Tübingen geschickt, um ihn dort zum Rabbiner ausbilden zu lassen. Dank der finanziellen Unterstützung durch den König konnte Mayer in Stuttgart das Gymnasium absolvieren und in Tübingen ein Jurastudium aufnehmen. Nach Ablegung des ersten juristischen Staatsexamens bot ihm der württembergische Justizminister Eugen von Maucler (1783 – 1859) die Verwendung im Staatsdienst an, falls er sich taufen lassen würde.89 Mayer verzichtete und wurde einer der Wortführer im Kampf um die Judenemanzipation in Württemberg. Er verfasste zwei Denkschriften an den König und die Stände, in denen er für die Gleichberechtigung der Juden eintrat. Als er sich 1828 in Tübingen auf eine frei gewordene Professur in der Juristischen Fakultät bewarb, verwundert es nicht, dass sich diese gegen seine Anstellung aussprach. Obwohl sie ihn für einen sehr talentierten und gründlichen Forscher hielt, glaubte sie „sich aufs bestimmteste gegen die Berufung des Dr. Mayer zu irgendeinem akademischen Amt erklären zu müssen, weil sich Dr. Mayer zur jüdischen Religion bekennt“.90 Die Fakultät berief sich dabei auf den von der Regierung während der Beratungen über das Emanzipationsgesetz geäußerten Grundsatz, in der nächsten Zukunft keine Juden in den württembergischen Staatsdienst aufnehmen zu wollen. Umso mehr gelte das für einen akademischen Lehrer. Der einzige, der sich dem Fakultätsvotum verweigerte, war Samuel Michaelis. Wiederum ohne Rücksicht auf die Wünsche der Fakultät zu nehmen, ernannte das Ministerium Mayer 1829 zum Privatdozenten und 1831 zum außerordentlichen Professor für Römisches Recht. Nachdem er drei Jahre später auch noch zum Christentum übertrat, stand seiner Berufung zum ordentlichen Professor 1837 nichts mehr im Wege.91 Neben politischen, religiösen und beruflichen Motiven spielte bei Mayers Religionswechsel vermutlich auch der Umstand hinein, dass er sich in die Tochter des Pfarrers, der ihn einige Wochen nach der Hochzeit dann auch taufte, verliebte. Seine früheren Aktivitäten vergessen lassend, legte er in der Folgezeit eine zunehmend nationalistische Haltung an den Tag. Als Mitglied des Vaterländischen Vereins verteidigte er die Prinzipien der Monarchie gegen die an der Universität aufkommenden demokratischen Tendenzen, wofür er im Revolutionsjahr 1849 / 50 sogar zum Rektor ernannt wurde. 1856 verlieh ihm die Regierung den Friedrichsorden und 1862 den Orden der Württembergischen Krone.92 Mayers königstreue Gesinnung und die Vorteile, die ihm daraus erwuchsen, brachten ihm an der Universität keine Sympathien ein. Wie Robert Mohl in seinen Erinnerungen schreibt, habe es sich Mayer im Senat zur Aufgabe gemacht, die Evangelischtheologische Fakultät vor Freisinnigen und die Philosophische vor ungläubigen Lehrern zu bewahren und sei deswegen von ihm und seinen politischen Freunden bekämpft worden.93

Samuel Marum Mayer ist ein gutes Beispiel für den Anpassungsdruck, dem sich Juden ausgesetzt sahen, wollten sie beruflich vorankommen. Ohne seine religiöse und politische Assimilation wäre er es ihm mit Sicherheit nicht möglich gewesen, an der Universität eine akademische Karriere einzuschlagen. Aber genau diese Anpassungsleistung wurde ihm von konservativer wie liberaler Seite zum Vorwurf gemacht und als typisch jüdisches Verhalten ausgelegt. Ob sich ein Jude nun zur Monarchie oder zur Demokratie bekannte, ob er seiner Religion treu blieb oder sich von ihr abwandte, das eine wie das andere galt als Kennzeichen eines besonderen jüdischen Wesens und wurde als Bedrohung für die sich konstituierende deutsche Nation wahrgenommen.94 Die Unterstellung, dass die Juden es bei ihrem Übertritt zum Christentum nicht ernst meinen würden, mochte in etlichen Fällen sogar einen wahren Kern gehabt haben. Die Ursache dafür lag aber weder am schlechten Charakter noch in dem betrügerischen Wesen der Juden begründet, sondern in ihrem Status minderen Rechts, das ein Verhalten evozierte, wie es sich bei allen unterdrückten Minderheiten findet. Wie die moderne Konversionsforschung belegt, spielen bei Glaubensübertritten nichtreligiöse Faktoren immer eine wichtige Rolle. Das Argument einer von den Juden nur vorgetäuschten Bekehrung offenbart aber auch einen nachlassenden Glauben an die Macht der Taufe und impliziert das Bedürfnis nach einem zuverlässigen Maßstab, mit dessen Hilfe ein Jude auch noch nach seinem Religionswechsel als Jude erkennbar blieb. Eine Lösung des Problems über die Behauptung eines allgemeinen jüdischen Wesens, das sich auch durch das Taufwasser nicht abwaschen lassen würde, konnte zwar als polemisches Schlagwort immer angeführt werden. Sie entsprach aber weder der geänderten Rechtslage, noch dem Wunsch nach einer objektiven und verallgemeinerbaren Erklärung jüdischer Charaktereigenschaften. Je mehr die Taufe an Bedeutung einbüsste, desto wichtiger wurde die Suche nach alternativen Distinktionskriterien, um sich von den Juden abzugrenzen.

Die den Prozess der Judenemanzipation begleitenden diskursiven Veränderungen spiegeln sich auch im Fall des jüdischen Rechtsgelehrten Leopold Pfeiffer (1821 – 1888) wider. Pfeiffer hatte von 1842 bis 1844 an der Universität Tübingen Rechtswissenschaft studiert und war 1847, ein Jahr nach der Promotion, relativ problemlos zum Privatdozenten ernannt worden. Kurz nach der Revolution erlangte er 1852 sogar eine außerordentliche Professur. Da er sich nicht taufen lassen wollte, konnte er selbstverständlich auch kein ordentlicher Professor und Staatsbeamter werden. Das Interessante ist nun, dass seine zahlreichen Anträge für eine Festanstellung nicht mehr mit dem religiösen Argument der Zugehörigkeit zum Judentum abgelehnt wurden. Dem hätte nicht nur das allgemeine politische Fortschrittsdenken, sondern auch die neue Gesetzeslage widersprochen, bei der die allgemeine Religionsfreiheit ein zentrales Element bildete. So hatte die Paulskirchenverfassung 1848 die unmissverständliche Formulierung in den Kanon der Grundrechte aufgenommen, dass der Genuss der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte durch das religiöse Bekenntnis weder bedingt noch beschränkt werden durfte. Wollte man dagegen nicht verstoßen, konnte man die Ablehnung Pfeiffers nicht mehr religiös begründen. Um ihm den Weg zur Professur zu versperren, musste statt dessen auf andere, „sachliche“ Argumente ausgewichen werden.95 Das heißt, die Religionszugehörigkeit des Juden Pfeiffer spielte zwar immer noch die entscheidende Rolle, den neuen Verhältnissen entsprechend nun aber nicht mehr explizit, sondern implizit. Auf diese Weise ließ sich dem Recht Genüge tun, ohne ihm tatsächlich entsprechen zu müssen.

Sofern nichts an die Öffentlichkeit drang, konnte man aber durchaus auch ein Verhalten an den Tag legen, das dem Geist und Wortlaut des Gesetzes diametral zuwiderlief wie im Fall Max Büdingers (1828 – 1902). Als die Philosophische Fakultät 1872 das Ordinariat für Geschichte neu besetzen wollte, brachte sie den renommierten Historiker Büdinger ins Gespräch, der an der Universität Zürich immerhin vier Jahre lang Rektor gewesen war und den man wegen seiner umfassenden Kenntnisse nicht zu unrecht als einen der letzten Universalhistoriker bezeichnet hat. Büdinger, Sohn eines Pädagogen und Landesrabbiners, hatte sich 1851 in Marburg habilitiert und war dann nach Wien gegangen, um beruflich voranzukommen. Von dort wurde er 1861 auf eine außerordentliche Professur nach Zürich berufen, wo er bis 1872 blieb. In Zürich erhielt er einen Ruf auf den Lehrstuhl für allgemeine Geschichte an der Universität Wien, den er nach dem vollzogenen Übertritt zum Katholizismus auch annehmen konnte. Für Tübingen wäre Büdinger ein großer Gewinn gewesen. Obwohl die Fakultät sowohl Büdingers wissenschaftliche Fähigkeiten als auch seine Lehrbegabung außerordentlich hoch einschätzte, konnte sie sich dem Ministerium gegenüber nicht durchsetzen. Wie der württembergische Kultusminister Theodor Geßler (1821 – 1886) im August 1872 in seinem Bericht an den König schrieb, sähe er keine Probleme darin, für eine naturwissenschaftliche oder eine mathematische Professur „einen Israeliten zur Anstellung zu bringen“. Bei der Geschichte sei das aber unmöglich, denn:

„Professor Büdinger ist nämlich ein Jude (der Sohn eines Rabbiners aus Kassel), und so wenig ich Bedenken tragen würde, für eine mathematische oder naturwissenschaftliche oder sprachliche etc. Professur an der Universität einen Israeliten zur Anstellung vorzuschlagen, so sehr scheint mir hingegen ein Anstand vorzuliegen bei einem ethischen Fache, wie die Geschichte, wo das Christenthum und die auf demselben beruhende Cultur-Entwicklung eine so bedeutungsvolle Rolle spielt.“

Auch die ausdrückliche Feststellung der Fakultät, dass Büdingers religiöse Ansichten „auf die Objektivität seiner Geschichtsschreibung keinen störenden Einfluß ausübe“, konnte den Kultusminister in seiner Meinung über die von einem Juden angeblich drohende Gefahr für den sittlichen Gehalt des Geschichtsstudiums nicht umstimmen.96 Die Dreistigkeit, mit der sich die Regierung hier über die von ihr selbst erlassenen Gesetze hinwegsetzte, erstaunt doch einigermaßen, auch wenn der angesehene Jurist Geßler davon ausgehen konnte, dass seine der Verfassung Hohn sprechende Äußerung eine interne Angelegenheit bleiben würde.97

Im Vergleich zu anderen deutschen Ländern und Universitäten, wie etwa Baden und Heidelberg, erfolgte die Einführung der Judenemanzipation in Württemberg nur sehr schleppend und mit einiger zeitlicher Verzögerung. Doch allmählich begannen sich auch im Königreich Württemberg die Verhältnisse zu ändern. Zwar war die Tübinger Landesuniversität noch immer weit davon entfernt, einen ordentlichen Professor jüdischen Glaubens zu akzeptieren. Aber immerhin nahm im Gefolge der Rechtsangleichung die Zahl jüdischer Studenten zu, ebenso die Bereitschaft, jüdische Promovenden zuzulassen. Als unmittelbare Konsequenz der Emanzipationsgesetze wurde 1832 die Israelitische Oberkirchenbehörde eingerichtet, die bis 1848 dem Ministerium des Innern und dann dem Ministerium des Kirchen- und Schulwesens unterstand. Seither mussten angehende Rabbiner ein wissenschaftliches Studium absolvieren, so dass eine Zunahme jüdischer Doktoranden die logische Folge war. Die Mehrzahl der dreizehn Bezirksrabbinate in Württemberg wurde mit Absolventen der Universität Tübingen besetzt. Im ersten Staatsexamen prüften Rabbiner die Kandidaten in jüdischer Dogmatik, im Talmud und den jüdischen Ritualgesetzen. In den Fächern Bibelkunde und Exegese mussten sie ihre Prüfung jedoch bei Professoren der Theologie oder Philosophie ablegen.98 Die württembergischen Juden hatten sich also nicht nur in ein ihnen fremdes Kirchenmodell einzufügen. Künftige Rabbiner mussten ihr Studium zum Teil auch in theologischen Fächern und bei Prüfern absolvieren, die selbst dann noch auf dem Boden des Christentums standen, wenn sie nicht der Evangelisch-theologischen Fakultät angehörten. Die Rabbinerausbildung hatte also eine eindeutig christliche Schieflage.99 Man stelle sich den umgekehrten Fall vor, dass ein evangelischer Pfarrer vor Ausübung seines Berufs gezwungen worden wäre, jüdische Theologie zu studieren und von Juden examiniert zu werden. Im Jahr 1912 erhielten die Israelitischen Religionsgemeinschaften den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts und somit die Möglichkeit, sich selbst zu verwalten. Die noch bestehenden Beschränkungen wurden aber erst nach 1918 aufgehoben, als dann auch der dem Judentum fremde Begriff der Kirche entfiel. 1924 trat der Israelitische Oberrat an die Stelle der Israelitischen Oberkirchenbehörde.100

Obgleich sich die Universität lange und vehement gegen die Judenemanzipation und ihre praktischen Auswirkungen stemmte, blieb es ihren Mitgliedern unbenommen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten eine fortschrittlichere Haltung an den Tag zu legen. Dass davon auch Gebrauch gemacht wurde, zeigt das Promotionsverfahren des jüdischen Doktoranden Elias Pleßner (1841 – 1898), das zunächst einen sehr ungünstigen Verlauf nahm, dann aber mit Hilfe der beteiligten Professoren zu einem guten Ende gebracht werden konnte.101 Pleßner stammte aus einer orthodox jüdischen Familie in Breslau. Sein Großvater war der bekannte Breslauer Rabbiner und einflussreiche Prediger Samuel Pleßner (1797 – 1883), dessen Enkel Elias, der an der Universität Berlin studierte und eine traditionell rabbinische Ausbildung durchlief, 1871 ebenfalls Rabbiner wurde. Seine Dissertation zum Thema ‚Der erste Dialog zwischen Job und Elifassachlich und sprachlich behandelt, nebst einer allgemeinen Einleitung in das Buch Hiob reichte Elias Pleßner am 31. Mai 1870 an der Universität Tübingen ein. Sie wurde von Adalbert Merx (1838 – 1909), seit 1869 ordentlicher Professor für Semitische Sprachen, dafür kritisiert, zu sehr in der Scheu befangen zu sein, der eigenen religiösen Tradition mit wissenschaftlicher Distanz zu begegnen. In seinem Gutachten vom 23. Juni 1870 beanstandete Merx außerdem die ungenügend ausgebildete historisch-kritische Methode des Kandidaten. Er sei in Anschauungen befangen, die von der wissenschaftlichen Grammatik schon seit langem überwunden worden seien.102 Ob in das wissenschaftliche Urteil von Merx auch religiöse Vorurteile einflossen, müsste noch genauer eruiert werden.103 Doch das würde nichts an den der Arbeit tatsächlich anhaftenden Mängeln und der Pflicht des Gutachters etwas ändern, an ihnen Kritik zu üben.

Noch schwerer als die fachlichen Defizite wog freilich die Tatsache, dass Pleßners Studie bereits als Tübinger Dissertation in der Zeitschrift Die jüdische Presse. Organ für die religiösen Interessen des Judenthums besprochen worden war. Unglücklicherweise hatte der Rezensent nicht nur Pleßners Verharren auf einem orthodoxen Standpunkt gelobt, sondern die besprochene Arbeit auch als „Inauguraldissertation zur Erlangung der philosophischen Doctorwürde an der Universität Tübingen“ bezeichnet.104 Dass diese noch nicht begutachtet und erst wenige Wochen vorher eingereicht worden war, setzte Pleßner dem Verdacht der unrechtmäßigen Verwendung des Doktortitels aus. Die von ihm nicht ohne Stolz nach Tübingen geschickte Besprechung, die seine wissenschaftlichen Fähigkeiten belegen sollte, zeitigte deshalb alles andere als die beabsichtigte Wirkung. Kaum eingetroffen, setzte der Dekan der Philosophischen Fakultät Christoph Sigwart (1830 – 1904) ein Fakultätsrundschreiben auf, in dem er über das Fehlverhalten Pleßners berichtete und Erkundigungen bezüglich des weiteren Vorgehens einholte. Angesichts der Schwere der Anschuldigung, der Mängel der Arbeit und auch in Anbetracht der Tatsache, dass der Kandidat als Rabbinatsmitglied in Berlin unabkömmlich zu sein vorgab und nicht einmal zum Kolloquium anzureisen wünschte, wäre es ein Leichtes gewesen, das Promotionsverfahren an diesem Punkt zu beenden. In der kontrovers, aber weitgehend sachlich geführten Debatte äußerte sich lediglich der Indologe Rudolf Roth (1821 – 1895) dezidiert ablehnend. Roth ging davon aus, dass tatsächlich ein Täuschungsversuch vorlag. Dabei fügte er den Satz hin: „Dieser Fall mahnt zur Vorsicht gegen die zudringlichen Juden.“105

Ungeachtet aller Schwierigkeiten, die letztlich Pleßner selbst zu verantworten hatte, entschloss sich die Fakultät, ihm eine zweite Chance zu geben. Er solle zwar „mit Anrufung der Gesetze“ bedroht werden, falls er versuche, „irgendwie sich für einen Tübinger Doctor“ auszugeben. Dennoch erhielt er die Erlaubnis, eine neue Dissertationsschrift einzureichen. Daraufhin verfasste Pleßner in große Eile eine zweite Doktorarbeit über Abarbenell und sein Werk, die er Mitte September 1870 mit den weiteren Unterlagen nach Tübingen schickte.106 Das neue Gutachten von Merx beanstandete weiterhin den „in engen jüdischen Anschauungen befangenen“ Standpunkt des Verfassers, doch bescheinigte es der Dissertation, alle erforderlichen Bedingungen zu erfüllen. Pleßner konnte sich also am 13. Dezember 1870 auf die Reise nach Tübingen zur Abhaltung des Kolloquiums begeben, wobei er allerdings die Geduld der Fakultät erneut auf die Probe stellte. Unterwegs krank geworden, musste er in Stuttgart einen Zwischenaufenthalt einlegen, und dann wurde er auch noch durch den Sabbat an der Weiterreise gehindert. Schlussendlich erhielt er vier Tage vor Weihnachten, das heißt am 20. Dezember 1870, seine Doktorurkunde ausgestellt.107 Damit kam ein schwieriges Promotionsverfahren zum Abschluss, das ohne weiteres zu kippen gewesen wäre. Dass die Fakultät und die involvierten Hochschullehrer es nicht taten, zeigt eine grundsätzlich positivere Einstellung jüdischen Promovenden gegenüber. Die geübte Kritik bewegte sich weitgehend auf der wissenschaftlichen Ebene, obwohl Pleßner einige Angriffsflächen für die Artikulation antijüdischer Vorurteile bot. Noch bemerkenswerter ist der Umstand, dass im Wintersemester 1870 / 71 von den 26 Doktoranden der Philosophischen Fakultät allein sechs, das heißt fast ein Viertel, Rabbinatskandidaten waren, zu denen noch weitere vier erfolglose jüdische Aspiranten hinzugerechnet werden können.108

Verglichen mit anderen Hochschulstandorten erscheint die schleppende, nur in ganz kleinen Schritten vorangehende Besserstellung der Juden an der Universität Tübingen im 19. Jahrhundert nicht gerade eindrucksvoll. Der Blick auf die württembergische Landesuniversität macht jedoch deutlich, dass sich die Entwicklung in Richtung auf eine stärkere Berücksichtigung des Judentums und seiner legitimen Interessen nicht mehr grundsätzlich aufhalten ließ. Auch in Württemberg wurde die rechtliche Gleichstellung der Juden noch vor der deutschen Reichsgründung gesetzlich verankert. Das widerlegt eine teleologische Geschichtsdeutung, die über die bekannten Stationen des Antisemitismus eine kontinuierliche Entwicklungslinie zu erkennen glaubt, die zielgerichtet in den Holocaust einmünden musste. Weder im 15. noch im 19. Jahrhundert gab es einen durchgängigen „ewigen“ Judenhass, sondern nur konkrete Situationen, in denen sich aus bestimmten, historisch nachvollziehbaren Gründen, ein antisemitisches Verhalten manifestierte. Ohne das Hinzutreten fürstlicher oder ständischer Interessen und ohne die Aufwiegelung der Menschen durch die Propagandisten des religiösen Antijudaismus konnte sich das Zusammenleben zwischen Christen und Juden auch im Mittelalter durchaus normal gestalten. Die präzise Verortung der württembergischen Judenpolitik in die allgemeine geschichtliche Entwicklung lässt für die Themenstellung dieser Arbeit zwei Punkte besonders hervortreten: Zum einen spielte die Universität Tübingen im Hinblick auf das christlich-jüdische Verhältnis mit wenigen Ausnahmen eine durchgängig negative Rolle. Zum andern ist für die antijüdische Einstellung der Universität ihre dezidiert christlich-protestantische Ausrichtung verantwortlich zu machen, bei der dem Einfluss Martin Luthers eine wichtige Bedeutung zukam. Die „kontinuierliche theologische Untermauerung der Judenfeindschaft in Württemberg“ erfolgte auf der Basis der breit rezipierten judenfeindlichen Schriften Luthers.109 Seine antijüdischen Auslassungen fielen an der Universität Tübingen auf einen fruchtbaren Boden und wurden von der württembergischen Regentschaft in die politische Wirklichkeit umgesetzt. Auch Martin H. Jung konstatiert in seiner umfassenden Studie über die württembergische Kirche im 17. und 18. Jahrhundert eine ausgeprägte religiös-konfessionelle Judenfeindschaft, die sich in zahlreichen Initiativen seitens der Kirche niederschlug, „welche die Vertreibung der Juden aus einzelnen Ortschaften oder aus dem Land überhaupt zum Ziel hatten“.110 Mit der fürstlichen Regentschaft, den Landesständen, der Kirche und der Universität hat man sicherlich die vier Hauptgruppen erfasst, die für die Judenpolitik in Württemberg verantwortlich zu machen sind.111 In der Tat hatte sich das Negativbild der nagenden Würmer „von seiner ersten Formulierung 1498 an kontinuierlich gehalten und wirkte bis zum Ende des Alten Reiches fort“.112 Das einigende Band der Judenfeindschaft in Württemberg bildete die christliche Lehre von dem von Gott selbst verworfenen Volk der Juden, das sich in seiner Verstocktheit nicht nur weigerte, den christlichen Messias und die Superiorität des Christentums anzuerkennen, sondern das auch das Geschäft des Satans betrieb und den Christen Schaden zufügte, wo es nur konnte. Weil die Juden nicht Teil der christlichen Heilsgemeinschaft waren, konnten sie im christlichen Staat auch nicht Teil der Volksgemeinschaft sein.

So wenig die historische Analyse den Schluss auf einen universalen Judenhass erlaubt, so wenig begründet wäre die Hoffnung darauf, dass die geschichtliche Entwicklung zwangsläufig zur völligen Gleichstellung der jüdischen Minderheit führen musste. Politische oder ökonomische Krisensituationen bargen immer die Gefahr von Rückschlägen noch hinter den Status quo ante zurück. Man muss sich hier nur das Schicksal des an der Universität Tübingen im Jahr 1895 promovierten Leopold Lucas (1872 – 1943) ins Gedächtnis rufen, um die Fragilität der Theorie von der politischen Gleichheit aller Menschen zu erkennen. Im Alter von nur 23 Jahren absolvierte Lucas von Berlin aus in einer ähnlichen Geschwindigkeit wie Elias Pleßner bei seinem zweiten Anlauf das Promotionsverfahren in Tübingen: Am 21. November 1895 reichte Lucas seine Doktorarbeit ein, bereits am 9. Dezember war sie begutachtet und am 19. Dezember – fast auf den Tag genau 25 Jahre nach Pleßner – fand das abschließende Kolloquium statt.113 Wie Pleßner arbeitete auch Lucas im Anschluss daran als Rabbiner. Von Leo Baeck (1873 – 1956) im Jahr 1940 an die Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums berufen, wurde er als 70-jähriger zusammen mit seiner Frau am 17. Dezember 1942 – fast auf den Tag genau 47 Jahre nach seiner Tübinger Promotion – nach Theresienstadt deportiert, wo er am 13. September 1943 an den Folgen einer Lungenentzündung starb.114 Elias Pleßners Enkel Martin (1900–1973) studierte in Breslau und Berlin semitische und klassische Sprachen, bevor er 1925 an der Universität Breslau promoviert und 1931 an der Universität Frankfurt habilitiert wurde. Nachdem er für kurze Zeit in Frankfurt die Lehrstuhlvertretung von Josef Horovitz (1874 – 1931) übernehmen konnte, warf ihn 1933 bereits die erste Entlassungswelle aus dem Beruf. Martin Plessner emigrierte noch im gleichen Jahr nach Palästina, wo er zunächst als Schullehrer in Haifa und von 1955 an als Professor an der Hebräischen Universität in Jerusalem wirkte.115

Die entscheidende, besonders von Jacob Katz (1904 – 1998) aufgeworfene Frage ist in diesem Zusammenhang, warum offensichtlich falsche und unsinnige antisemitische Vorurteile den Übergang in das postemanzipatorische Zeitalter überlebten. Wie konnte die antijüdische Agitation bereits am Ende des 19. Jahrhunderts wieder aufflammen, wo sie doch mit Bildern und Vorstellungen arbeitete, die sich in einem fundamentalen Widerspruch zu jedem rationalen Denken befanden und die durch die Aufklärung radikal widerlegt worden waren?116 Die Antwort, die der Sozialhistoriker Katz gibt, zielt auf eine Transformation der Religion ab, die von einer Transformation religiöser Vorurteile begleitet wurde. Weil das Christentum auch in einem weniger religiösen Zeitalter, wenn auch in einer verfeinerten und abgeschwächten Form, ein bestimmender Zug der europäischen Mentalität blieb, wurde nach seiner Auffassung die „Metamorphose des theologischen Judenbildes in ein scheinbar rationales“ zum wesentlichen Charakteristikum des Übergangs in die neue, nachemanzipatorische Judenfeindschaft.117 Die richtige Beobachtung von Katz, dass auch in einer modernen Zeit rückständige und „veraltete“ christliche Vorurteile ihre Wirkung ganz offensichtlich nicht verloren, betrifft eine genuin religionswissenschaftliche Themenstellung, die von Katz allerdings nicht mit den Methoden der Religionswissenschaft bearbeitet wurde. Unter dem Gesichtspunkt des religiösen Wandels und einer säkulareren Weltauffassung scheint es durchaus nicht so ungewöhnlich, wenn Menschen zwar noch an den jüdischen Deizid, nicht mehr aber an die Kreuzigung und Wiederauferstehung Jesu zu glauben vermögen.118 So sehr die Persistenz des Religiösen in der Moderne das berechtigte Thema der Religionswissenschaft ist, so wenig können religiöse Vorurteile aus der Moderne ausgeklammert und als bloßer Anachronismus abgetan werden. Dass religiöse Ressentiments ausgerechnet an der Universität zu überleben vermochten, ja sogar zu neuem Leben erwachten, ist dazu angetan, ihr Selbstverständnis grundsätzlich in Frage zu stellen. Wie war es möglich, dass eine Einrichtung, deren ureigenste Aufgabe es ist, zum Abbau primitiver Vorurteile beizutragen, diese theoretisch wie praktisch tradierte? Man hätte von den Universitäten und ihrem Anspruch auf eine wissenschaftliche Welterklärung eigentlich erwarten können, dass sie in der Frage der Judenemanzipation an der vordersten Front des Kampfes gestanden hätten. Dass sie es mit wenigen Ausnahmen nicht taten, ist bezeichnend und ließ für die weitere Entwicklung des deutsch-jüdischen Verhältnisses nichts Gutes erwarten.

Die Verwissenschaftlichung der ›Judenfrage‹ im Nationalsozialismus

Подняться наверх