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Anschluss an die Kirchgemeinde Klütz

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Als am 1. Oktober 1945 der Unterricht an der Klützer Volksschule wieder begann und die Eröffnungsfeier mit etwa 900 Kindern in der Klützer St.-Marien-Kirche u. a. mit einer Ansprache des Pastors Wömpner stattfand, wähnten unsere Familienangehörigen, darin einen Ausdruck der Religiosität dieser neuen Zeit zu erkennen. Dieser Eindruck wurde dadurch noch bestärkt, dass einmal wöchentlich nach der letzten Unterrichtstunde in den Räumen der Schule Christenlehre erteilt wurde, und zwar von der Nichtpädagogin Frau Pasemann. Uns Schülern wurden Hausaufgaben erteilt, die wir nur mit Hilfe von Bibel und Gesangbuch lösen konnten, z. B. biblische Geschichten nachzuerzählen oder etliche Liedstrophen auswendig zu lernen. Eine Bibel hatten wir auf unserem Fluchtwagen mitgebracht, aber ein Gesangbuch fehlte uns. Ich lieh es mir anfangs bei der alten Frau Müller aus, die mich aber immer harsch und unfreundlich empfing, mich bei jeder Begegnung bissig anblaffte, sodass ich Tante Liesbeth um Hilfe bat. Sie konnte die meisten Lieder auswendig, schrieb mir die Texte der einzelnen Strophen auf, korrigierte auch meinen fehlerhaften Gesang. Aber jetzt war ich nicht mehr auf fremde Hilfe angewiesen.

An einem Sonntagmorgen im Winter 1946 holte mich meine Mutter aus dem Bett und erklärte mir Folgendes: „In unserer Familie war es immer ein ungeschriebenes Gesetz, dass an jedem Sonntag eine Person zum Gottesdienst in die Kirche ging. Wegen der landwirtschaftlichen Arbeiten und der Versorgung der Tiere konnten wir das nicht alle. Aber meine Mutter bestimmte jeweils eine von uns, die für die ganze Familie am Gottesdienst teilnahm. Du musst verstehen, dass ich melken, den Stall ausmisten, füttern, mich um die Ablieferung der Milch kümmern und anschließend Klaus versorgen muss. Solange Vati noch nicht zu Hause ist, habe ich für den Kirchgang keine Zeit. Da habe ich gedacht, das müsstest du übernehmen, weil du ja der Älteste bist. Mach dich fertig, damit wir beide noch gemeinsam frühstücken können!“ Von da an hatte ich jeden Sonntag jeweils um dieselbe Zeit meine ganz konkrete Aufgabe für die Familie zu erfüllen.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit war die Klützer Kirche bei jedem Gottesdienst bis auf den letzten Platz gefüllt. Einige Besucher nahmen die inzwischen verwaisten Plätze auf der Empore der Familie von Bothmer, der Patrone der Klützer Kirche, ein. Ich ergatterte mir mit Mühe einen Platz in der letzten Reihe unter der Orgel, der meist in Dämmerlicht getaucht war.


Klützer St.-Marien-Kirche

Foto: Rabanus Flavus

Viele weinten während des Gottesdienstes. Einige wischten sich verschämt die Tränen aus den Augen, andere schluchzten hörbar. Ich hatte das Gefühl, dass Hunger, der Verlust eines Angehörigen, die Trennung von der Heimat oder eine Krankheit sie so depressiv und freudlos gemacht hatten. Zum anderen imponierte mir auch der Pastor Wömpner, der im schwarzen Talar mit dem weißen Beffchen auf der Kanzel stand und mit dem, was er sagte, diesen hoffnungslosen Menschen Trost und Lebensmut zusprach, und das ohne Manuskript, aber mit wechselnder Lautstärke und sich ständig änderndem Tonfall. Trotzdem verstand ich manches nicht, weil er sich ja an die Erwachsenen wandte.

Es gab für mich manche Schwierigkeiten: Zunächst war für mich der gesamte Ablauf des Gottesdienstes neu, auch die gesamte Liturgie. Ich besaß kein Gesangbuch, konnte deshalb nicht mitsingen oder in anderer Weise aktiv werden. Das Schlimmste aber für mich war, dass ich Sonntag für Sonntag eine Stunde lang entsetzlich fror, vor allem so kalte Füße hatte, dass ich sie manchmal gar nicht spürte. Zwei Dinge beeindruckten mich: Die Kirchenbesucher waren zumeist sehr traurig, sahen bleich, mager, abgehärmt, hoffnungslos, sehr ernst drein.

lm Gutshaus berichtete ich davon meiner Mutter und Tante Liesbeth. Meine Mutter schlug mir daraufhin vor, ab Ostern eine Stunde später zur Kirche zu gehen und am Kindergottesdienst teilzunehmen. Vorher erlebte ich aber noch am Palmsonntag, dass unter den Konfirmanden dieses Jahrgangs auch zwei Arpshagener waren, Helga Russow und Rolf Kaßner. Von nun an wurde der Kirchgang für mich erheblich angenehmer. Da es Frühling geworden und mithin wärmer war, hatte ich keine kalten Füße mehr. Für die Gestaltung des Kindergottesdienstes hatte Pastor Wömpner einen ganzen Mitarbeiterstab gewonnen, ausschließlich junge Mädchen, die zur Klützer Jungen Gemeinde gehörten, Irmgard Wigger †, Fräulein Brauner, Evamaria Lehmann †, Ruth Rogowski †, Lieselotte Sander, später auch die Katechetin Irma Ziebell †, die jeweils in einem anderen Teil der Kirche eine Altersgruppe auf die in der zusammenfassenden Predigt zu behandelnde biblische Geschichte vorbereiteten, uns Fragen dazu stellten, aber auch unsere Fragen beantworteten, unbekannte Begriffe erklärten und mit uns eines der Lieder übten, das später gemeinsam gesungen werden sollte. Am meisten freute ich mich immer auf eine in der amerikanischen Zone gedruckte, reich bebilderte Kinderzeitschrift, die Pastor Wömpner an uns beim Verlassen der Kirche verteilte.

Jeden Donnerstagabend fand im Klützer Gemeindesaal eine Bibelstunde statt, an der auch eine Reihe Frauen aus Arpshagen regelmäßig teilnahm, Frau Maria Schulz, Martha Glass, die alte Frau Müller, Frau Schmidt, Frau Anna Reinke, Frau Ziesler und unsere Großmutter Alwine Diethert, also ausschließlich Flüchtlinge.

Meine Tante Else gehörte als junges Mädchen dem Netztaler Jugendbund an, den die Diakonisse Henriette Roth leitete und u. a. auch einen leistungsstarken Jugendchor gründete. Schwester Henriette erkannte Else Dietherts gesangliches Talent und förderte es, indem sie Else Soloparts und Duette mit Orgelbegleitung singen ließ. Der Jugendchor trat anlässlich von weltlichen und kirchlichen Festen auf, so alljährlich zu Fronleichnam in den Eichbergen. Viele der Lieder hatte sich meine Tante so fest eingeprägt, dass sie sie auch noch in Arpshagen bei manchen Feldarbeiten oder auch häuslichen Tätigkeiten vor sich hin summte oder laut trällerte. Dann hörte sie, dass in der Klützer Kirchgemeinde ein gemischter Chor bestand, den Fräulein Elsbeth Steinbeck leitete, die auch Klavierstunden erteilte. Else Lederer meldete sich bei ihr an und wirkte etwa ab 1947 als Sopranistin im Chor mit. Als ich beiläufig erfuhr, dass meine Tante zu Ostern zum ersten Mal in der Klützer Kirche singen würde, setzte ich mich im Gottesdienst auf die Empore, die eigentlich dem Posaunenchor vorbehalten war, sodass ich den Chor direkt vor mir im Blickfeld hatte. Ich war hocherfreut, dass meine Tante im grünen Lodenmantel in der ersten Reihe unmittelbar neben der Orgel sang, und in meiner kindlichen Einfalt hielt ich diese Position für einen Ehrenplatz und nahm an, dass Else Lederer bereits nach wenigen Proben zur besten Sopranistin des Chores avanciert wäre, und lobte die kleingewachsene Elsbeth Steinbeck in Gedanken für ihre perfekte Entscheidung. Zu meiner Enttäuschung währte die Chorsängerinnenkarriere meiner Tante nur kurze Zeit. Bei weiteren Auftritten des Kirchenchores vermisste ich sie schmerzlich im Sopran. Ich erinnere mich nicht mehr daran, was sie damals bewogen hatte, mit dem Chorgesang aufzuhören, ob es ihre nun knapper bemessene Freizeit war oder, was sie manchmal äußerte, ob es die in Klütz gesungenen Lieder waren, die ihr nicht gefielen, ich weiß es nicht.

Die Bodenreform in Arpshagen


Auf Veranlassung der sowjetischen Besatzungsmacht wurden die Bodenreformverordnungen von den Landes- und Provinzialverwaltungen auf dem Gebiet der damaligen Ostzone Anfang September 1945 erlassen, in Mecklenburg-Vorpommern am 5. September.

In Arpshagen fand die formelle eigentliche Bodenreform am 19. Oktober 1945 statt, und zwar in Verbindung mit dem ersten Nachkriegserntefest. Dem Vernehmen nach soll auf der großen Diele des reetgedeckten Getreidespeichers (später Anwesen von Stefan Patynowski) neben dem Gutshaus der offizielle Beginn für die Neuverteilung des Grund und Bodens und die Enteignung der Grafenfamilie von Bothmer von Vertretern der Stadtverwaltung verkündet worden sein. Gleichzeitig wurde die erfolgreiche Einbringung der ersten Ernte im Frieden gewürdigt und den Arpshagener Landarbeitern dafür gedankt. Beides sei ein Grund zum Feiern.

Nach den offiziellen Reden wurde fröhlich und ausgiebig gefeiert. Eine kleine Musikkapelle aus Klütz spielte zum Tanz auf. Es wurden Fassbier und billiger Schnaps ausgeschenkt, die ihre Wirkung nicht verfehlten. In die Organisierung und Vorbereitung dieser Festveranstaltung hatte sich auch der seinerzeit im Arpshagener Gutshaus wohnende Tierarzt Dr. Preuß mit eingebracht, der einige junge Frauen aus Oberklütz dazu eingeladen hatte, so seine Freundin Lotti Baumann geborene Wieschendorf, eine lebenslustige Kriegerwitwe, sowie die beiden Flüchtlingsmädchen Irma Harder und Irmgard Münchow.

Während in Arpshagen bis in die Morgenstunden getanzt, getrunken und gefeiert wurde, vergewaltigten in Oberklütz mehrere marodierende sowjetische Soldaten deutsche Frauen, drangen auch in das Bauernhaus von Johann Wieschendorf ein, der sich zusammen mit seiner Frau Anna dagegen zu wehren versuchte und dabei erschossen wurde. Lotti Baumann, Irma Harder und Irmgard Münchow entgingen dank ihrer Teilnahme an der Festlichkeit in Arpshagen einer möglichen Vergewaltigung.

Die Verlosung der Äcker, Wiesen, Weiden, Waldflächen und Bauplätze erfolgte zu einem späteren Termin, den ich nicht exakt ermitteln konnte.

Ihr ging die exakte Vermessung der gesamten Arpshagener Gemarkung durch mehrere Berufslandvermesser voraus, die alle Areale in etwa gleich große Flächen aufteilten, ohne dabei die Bodenwertzahl zu berücksichtigen, und sie nummerierten. Sie trugen ihre Vermessungsergebnisse in Flurkarten ein, die sie auch als Lichtpausen an das Kataster- und Vermessungsamt des damaligen Kreises Schönberg weiterleiteten.


Nach Abschluss ihrer Arbeit beaufsichtigten die Landvermesser auch das präzise Setzen der Grenzsteine zwischen den einzelnen Flächen.


Zum Tag der Verlosung der Parzellen wurden alle Siedlungswilligen eingeladen, in der Diele des Gutshauses zu erscheinen. Dort war ein Tisch aufgestellt, an dem die beiden Schriftführer Kröpelin und Teut Platz nahmen. Ich konnte aber nicht ermitteln, ob bei dieser Verlosung ein neutraler offizieller Vertreter der Behörde anwesend war und wenn ja, wer das gewesen sein sollte.

In keiner Verfügung der Landesverwaltung zur Durchführung der Bodenreform in Mecklenburg-Vorpommern konnte ich einen Passus finden, der die einheimischen Landarbeiter eines aufzusiedelnden Gutes gegenüber Flüchtlingen und Auswärtigen bei der Aufteilung der Flächen mit Sonderrechten ausstattete. Folglich ist die Art und Weise, in der die Verlosung der einzelnen Areale in Arpshagen erfolgte, zumindest unrechtmäßig, wenn nicht gar kriminell zu nennen. Sie war schlicht und ergreifend eine Farce.

Auf illegale Weise muss einer der Arpshagener Landarbeiter, ich vermute Heinrich Frederich, in Besitz der Listen mit den Flächennummerierungen der Landvermesser gekommen sein und in Kenntnis dieser Übersicht für sich und die anderen einheimischen Siedlungswilligen Lose mit diesen Ziffern vor der offiziellen Verlosung gesichert haben.

Etwa drei Jahre später gestand unser damaliger Stallnachbar, der ehemalige Gutsschäfer Albert Pagel, meinem Vater: „Als die Verlosung auf der Gutshausdiele stattfand, hatten wir alle (er meinte die Einheimischen) schon unser Los in der Faust und taten nur so, als würden wir eins ziehen, als wir die Hand in den großen Hut steckten.“ Das erfolgte in dieser Weise nicht nur bei der Verlosung der Ackerflächen, sondern wiederholte sich auch bei der Aufteilung der Waldstücke, der Bauplätze, der Wiesen und Weiden. So wurden alle Dazugekommenen von vornherein in betrügerischer Absicht ausgegrenzt und benachteiligt.

Vier Hiesige waren aber nicht in den Besitz aller Lose gekommen, weil sie bei dem vereinbarten Geheimtreffen mit Heinrich Frederich nicht dabei waren, Anna Klopp, Heinrich Patynowski, Karl Staszinska, Robert Estermann. Nachbarin Anna Patynowski berichtete meiner Mutter: „Als die Felder verlost wurden, schickte mich mein Mann Heiner ins Gutshaus. Deshalb habe ich wie die Flüchtlinge ehrlich in den großen Schlapphut gegriffen.“ Da Klopps seinerzeit noch in Tarnewitz wohnten, delegierte Mutter Anna Klopp ihren Sohn Werner (*1935) zur Verlosung. So ist erklärlich, weshalb vier Einheimische ihre Äcker in unmittelbarer Nachbarschaft von Flüchtlingen erhielten. Sie hatten sich wie die Zugereisten mit „den Brosamen zu begnügen, die von der Herren Tische fielen“, d. h. sie konnten nur solche Flächen erwerben, die die Hiesigen schon als minderwertig aussortiert hatten, die entweder niedrige Bodenwertzahlen besaßen, weil sie auf der steinigen Endmoräne oder weit entfernt vom Ort Arpshagen lagen und an die Goldbecker und Klein Pravtshagener Gemarkungen grenzten. Auf diese Weise machte Werner Klopp sehr zum Unwillen und Ärger seines Großvaters Frederich auch seine Eltern nahe der Klein Pravtshagener Ackerflächen „zu steinreichen Bauern“.

Die einheimischen Landarbeiter kannten wegen ihrer Jahrzehnte währenden Tätigkeit auf dem Gut Arpshagen alle Vorzüge der zur Verlosung gekommenen Grundflächen und nutzten ihre Kenntnisse schamlos aus. Die siedlungswilligen Flüchtlinge erfuhren erst einige Zeit nach der Aufteilung des Grund und Bodens, was sie da eigentlich erworben hatten. Die auf diese Weise ganz offensichtlich Benachteiligten konnten sich nicht einmal dagegen wehren oder Beschwerde führen. So waren die Startbedingungen für beide Gruppen der „Neubauern“ äußerst ungleich. Von einer Chancengleichheit konnte keine Rede sein.

Ich bin auch davon überzeugt, dass sich die „Alt-Arpshagener“ durchaus dessen bewusst waren, dass ihr Vorgehen unrechtmäßig und unehrlich war und dass sie alle auch kein reines Gewissen hatten, denn offen thematisierten sie das Ausgrenzen und Benachteiligen der Flüchtlinge nicht. Aber sie sorgten mit ihrer Aktion für die Entwicklung von zwei Parallelgesellschaften in diesem kleinen Dorf, für eine Atmosphäre des latenten Misstrauens und des unterdrückten Grolls, wenngleich die Differenzen zwischen beiden Gruppen selten eskalierten.

Zu fragen ist allerdings, ob den einheimischen Siedlern ihre unrechtmäßig erworbenen Vorteile auf Dauer von Nutzen waren. Bald zeigte sich, dass die meisten von ihnen die Art zu leben und zu arbeiten wie unter dem Gutsverwalter fortsetzten, dass lediglich die Männer die Feld- und Stallarbeiten verrichteten, die Frauen „waren“, wie Redersborg schreibt, „für die Erziehung der Kinder zuständig“, sie kauften ein, führten den Haushalt, pflegten den auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindlichen Garten, kümmerten sich um das Kleinvieh und molken bestenfalls die Kuh. Es zeigte sich, dass mit nur einer Arbeitskraft eine Siedlung dieser Art nur für kurze Zeit zu halten war. Hinzu kam, dass fast alle einheimischen Neubauern nicht gelernt hatten, selbstständig und eigenverantwortlich zu arbeiten, zu planen und die erwirtschafteten Einkünfte sinnvoll zu investieren. Auf Dauer gelohnt hat sich die unrechtmäßige Besitznahme nur ausgerechnet für die Familie Frederich, die ihre Bauplätze auf der Fläche des ehemaligen Kuhstalls für die Errichtung mehrerer Einfamilienhäuser für die Urenkelinnen des einstigen „Dorfpaschas“ genutzt und so innerhalb von Arpshagen ein kleines „Frederichshagen“ geschaffen hat, und das dank des Einigungsvertrages bei der Wiedervereinigung, in dem die Ergebnisse der Bodenreform Rechtsgültigkeit behielten.

Und die beiden Siedlerinnen Lederer?

Die Bäuerin Irmgard Lederer erhält das Grundstück schuldenfrei.

Diese Urkunde berechtigt zur Eintragung des Grundstücks in das Grundbuch.

Schwerin Kreis Schönberg

(Siegel des Präsidenten des Landes

Mecklenburg- Vorpommern)

Der Präsident Der Landrat

gez. Höcker gez. Krebs

Die Urkunde von Else Lederer hatte einen fast identischen Wortlaut.

Ankunft in Arpshagen

Die beiden Frauen warteten in Oberklütz weiter auf die versprochene Benachrichtigung von Tierarzt Dr. Preuß für den Tag, an dem er seine Zimmer im Gutshaus Arpshagen räumen und den Familien Lederer den Einzug ermöglichen würde. Von Lotti Baumann erfuhren sie schließlich, dass es der 28. Oktober werden sollte.

Von den beiden ehemaligen Fluchtwagen wurden die überdachenden Planen entfernt, sie wurden zu gewöhnlichen Kastenwagen umgestaltet, die geringe Habe wurde darauf Platz sparend verstaut. Onkel Erich Krause sägte das Doppelstockbett, das Irmgard sich von einem Klützer Tischler anfertigen lassen hatte, in zwei gleiche Teile, die gleichfalls aufgeladen wurden. Die Pferde wurden eingespannt.

Wir sagten unseren Verwandten, Schümanns, Anna Wieschendorf und Lotti Baumann Lebewohl, warfen noch einen Blick zum Abschied auf das Oberklützer Unterdorf, und dann ergriffen Else und Irmgard Lederer die Zügel und kutschierten ihr Gefährt mit den Kindern und der Großmutter den Hohlweg hinunter, dann durch die Wismarsche Straße in Klütz, über den Markt, die von zahlreichen mit Regenwasser gefüllten Schlaglöcher der Breitscheidstraße entlang und erreichten kurze Zeit später das mir in diesem Teil bereits bekannte Gutsdorf Arpshagen mit den vier lang gestreckten Katen und den Stallungen.

Der 28. Oktober 1945 war ein sonniger Herbsttag. An den Vortagen hatte es geregnet. Als wir unter den hohen Kastanienbäumen die Landstraße in Richtung Gutshof entlangfuhren, spritzte eine dünne Schlammschicht unter den Hufen der Pferde auf. Unseren beiden Fuhrwerken folgte eine Gruppe von Halbwüchsigen, die sich auf Plattdeutsch über uns Neuankömmlinge unterhielten. Später identifizierte ich sie als Bernhard Patynowski, Rolf Kaßner, Willi Russow, Heinz Kosbab, Otto („Pieper“) Wiebke und Erich Moll.


Dann tauchte rechts hinter den Kastanienbäumen das Gutshaus, ein in dieser Umgebung imposantes Gebäude, auf. Tante Else als Vorausfahrende bog um das Rasenrondell mit den sechs kugelförmig geschnittenen Rotdornzierbäumen herum, bis wir unmittelbar vor der Veranda hielten.

Die drei Erwachsenen und ich waren gespannt, was für ein Abenteuer uns hier erwarten würde. Unsere beiden Mütter begaben sich in das Gebäude hinein, während meine Großmutter mit uns Kindern auf den zwei Wagen die Rückkehr der beiden Frauen erwartete. Das dauerte ungewöhnlich lange, und als die beiden mit unmutigen und enttäuschten Gesichtern wieder bei uns auftauchten, begriff ich, dass sich ein nicht vorhergesehenes Problem ergeben hatte. Ich hatte richtig vermutet: Tierarzt Dr. Preuß hatte an diesem Tag, einem Sonnabend, erst mit dem Ausräumen der Zimmer begonnen und zunächst nur das kleinste frei gezogen. So blieb uns die Wahl, entweder nach Oberklütz umzukehren oder die Nacht über mit acht Personen in diesem kleinsten Raum zu verbringen. Wir entschieden uns zu bleiben, trugen aber unsere Koffer, Taschen, die Bettgestelle und mitgeführten Hausrat die Treppen hinauf, legten alles auf dem Flur ab und versuchten, uns für den Nachtschlaf in dem einzigen Bett einzurichten. Wie wir das schafften, ist mir jetzt noch ein Rätsel.

Else Lederer wurde Besitzerin des Ackers Nr. 6 zwischen den Feldern Frieda Schmidts und Fritz Schreibers hinter der letzten Hecke der Arpshagener Gemarkung. Sie loste einen Bauplatz an der späteren Neuen Straße, die Wiese nahe der Grenze zu Hofzumfelde, die Holzung im Hohenschönberger Wald und die Weide auf dem Koppelstück 147. Die Größe der Flächen wird denen meiner Mutter Irmgard Lederer ähnlich gewesen sein.

Irmgard Lederer hatte das Ackerstück 30 (5,28 ha) an der Straße nach Goldbeck, die Koppel Nr. 154 (82 a) mit einem Sandgrubenanteil an der Strecke der Deutschen Reichsbahn, das Wiesenstück Nr. 265 (51 a) am Weg an der Grenze zu Hofzumfelde, die Holzung (53 a) an der Grenze zu Goldbeck nahe der Stellshagener Gemarkung und den Bauplatz (35,19 a) westlich von der Straße nach Goldbeck gelost.

Nach der Verlosung kehrten beide Frauen in dem Bewusstsein zu ihren Familien nach Oberklütz zurück, an diesem Tage den Grundstein für einen existenziellen Neubeginn gelegt zu haben, nicht mehr und nicht weniger, zumal sie die erworbenen Flächen noch nicht in Augenschein genommen hatten und deshalb nicht abschätzen konnten, wie minderwertig oder wertvoll sie waren.

Wie immer die Verlosung der der einzelnen Flächen auch abgelaufen sein mag, daran beteiligt waren die folgenden Einheimischen persönlich oder durch ein Familienmitglied in Vertretung: Ernst Kelling, Ernst Moll, Heinrich Patynowski, Stefan Patynowski, Else Dunkelmann, Wilhelm Russow, Karl Stazinska, Marian Michalowski, Hubert Hübner, Erich Schröder, Wilhelm Moll, Karl Kidschun, Heinrich Frederich, Willi Frederich, Hans Bever, Karl Klopp, Fritz Törber, Fritz Göwe, Fritz Wiebke, Albert Pagel, Karl Lüth, Karl Wehr, Bernhard Klockmann, Albert Barkentien, Hermann Kaßner, Robert Estermann, Otto Uecker, Fritz Andersson, Otto Albrecht. (Willi Frederich und Wilhelm Russow hatten Kleinsiedlungen erworben).

Als Flüchtlinge hatten an der Verlosung teilgenommen: Bruno Grzyb, Max Kirschstein, Anna Kapanusch, Frieda Schmidt, Else Lederer, Fritz Schreiber, Erna Wojahn, Erhard Pohl, Irmgard Lederer, Philipp Müller sen., Albert Büch, Anna Bansen, Josef Braun, Georg Manthey, Franz Ziesler, Hermann Popko, Margarete Goerl, Wilhelm Schulz, Wilhelm Wollmann, Hermann Reinke. Zu diesem Zeitpunkt waren in Arpshagen noch vier Siedlungen vakant.

Mit dem Datum vom 30.12.1945 erhielten alle Siedler oder Neubauern eine künstlerisch ansprechend gestaltete Urkunde im A3-Format mit dem Motto „Der Boden dem Bauern“ und dem Leitsatz „Der Grundbesitz soll sich in unserer deutschen Heimat auf feste, gesunde und produktive Bauernwirtschaften stützen, die Privateigentum ihres Besitzers sind.“ Diese Formulierung wäre nach Gründung der DDR, speziell seit der Entstehung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, sicher nicht mehr möglich gewesen.

Die Urkunde von Irmgard Lederer hat folgenden Wortlaut:

URKUNDE

Auf Grund der Verordnung der Landesverwaltung Mecklenburg über die Bodenreform vom 5. September 1945 wird der

Bäuerin Irmgard Lederer

wohnhaft in der Gemeinde Arpshagen

Kreis Schönberg

ein Grundstück

im Umfang von 7,97 ha, einschließlich Wald,

rechtskräftig

zum persönlichen, vererbbaren Eigentum übergeben.

Das der Bäuerin Irmgard Lederer übergebene Grundstück liegt in der Gemeinde Arpshagen und hat laut dem von der Bodenkommission aufgestellten Verteilungsplan die Nummer 16.

Indessen machten sich Else und Irmgard Lederer auf die Suche nach einer Unterbringung für die drei Pferde. Ein freundlicher Dorfbewohner wies sie darauf hin, dass im Fohlenstall noch genügend Platz und auch ausreichend Futter zu finden sei. So war an diesem Tag wenigstens ein Problem erfolgreich gelöst worden.

Der folgende Tag war ein Sonntag. Während Tierarzt Preuß mit Unterstützung seiner Freundin von ihm beanspruchte Möbel aus einem weiteren Zimmer herausbugsierte und von kräftigen Landarbeitern auf einen Tafelwagen laden ließ, lud der Klützer Heinrich Knabe die im Gutshaus befindlichen Flüchtlinge zu einem festlichen Schweinebraten mit Salzkartoffeln und gut gewürzter Soße ein. Er hatte das Essen persönlich in der noch unbewohnten Küche des Gutshauses zubereitet. Meine Mutter holte mehrere Portionen davon in unsere kleine Unterkunft, und mir schmeckte es vorzüglich. Es war für mich der erste angenehme Eindruck von Arpshagen.


Alltagsleben nach 1945 in Mecklenburg

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