Читать книгу Centratur II: Die Macht der Zeitenwanderer - Horst Neisser - Страница 4

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Die vor alters tüchtig waren als Meister

waren im Verborgenen eins mit den unsichtbaren Kräften.

Tief waren sie, so dass man sie nicht kennen kann.

Weil man sie nicht kennen kann,

darum kann man nur mit Mühe ihr Äußeres beschreiben.

Zögernd, wie wer im Winter einen Fluss durchschreitet,

vorsichtig, wie wer von allen Seiten Nachbarn fürchtet,

zurückhaltend wie Gäste,

vergehend wie Eis, das am Schmelzen ist,

einfach, wie unbearbeiteter Stoff,

weit waren sie wie das Tal,

undurchsichtig waren sie, wie das Trübe.

Laotse

(Vielleicht einer der ersten Zeitenwanderer, der sich uns als solcher zu erkennen gegeben hat.)

Vorgeschichten

Die Frist

Finsternis lag über dem Land. Der Sturm blies aus Westen und peitschte ihm den Regen waagerecht ins Gesicht. Er musste seine letzten Kräfte aufbieten, um gegen ihn anzukommen. Seine Ohren dröhnten von dem Heulen und Brausen. Selbst sein Keuchen riss ihm der Wind von den Lippen. Der Himmel war mit Wolken dicht verhangen, deshalb musste er seinen Weg mehr erahnen, als dass er ihn sehen konnte. Er hoffte nur, dass die Richtung stimmte. Rotfell, sein Pferd, war vor vielen Meilen unter ihm zusammengebrochen. Er hatte nicht erkennen können, ob aus Erschöpfung oder weil es von schwarzen, gefiederten Pfeilen getroffen worden war.

Schon seit Stunden setzte er ohne Pause einen Fuß vor den anderen. Seine kurzen, stämmigen Beine stapften in tiefe Wasserlachen, stolperten über Steine und morsches Holz, traten in Erdlöcher, die der Regen ausgewaschen hatte. Manchmal watete er durch Bäche, die seinen Weg kreuzten. Sie waren gestern noch nicht da gewesen und würden morgen wieder verschwunden sein. Sein Körper sehnte sich nach einer Pause. Immer häufiger rutschte er aus und fiel in den Schlamm. Er war bis auf die Haut durchnässt. Obwohl es sehr kalt war, und sich der Regen jederzeit in Schnee verwandeln konnte, fror er nicht. Sein Gesicht glühte, und seine Muskeln schmerzten unter der Anstrengung, denn Glaxca rannte so schnell er konnte, er rannte um sein Leben.

Der Zwerg hatte kurze Füße und einen gestreckten Oberkörper. Wie alle Zwerge konnte er mit diesen Füßen große Lasten tragen, aber er benötigte zwei Schritte, wo seine Verfolger mit einem auskamen. Die Arme des Zwergs waren ebenso wie seine Schultern muskelbepackt und hielten eine zweischneidige, scharf geschliffene Axt. Sie hatte bereits mehrere Verfolger gebissen. Doch was konnten zwei Arme und eine Axt gegen Dutzende von Orokòr ausrichten?

Der Regen ließ ein wenig nach, und der Sturm, der noch immer wütete, riss die Wolken auf. Ein bleicher Mond beleuchtete nun die dunkle Welt. Glaxca sah sich um. Er stand auf einer weiten Lichtung. Der Wald umgab sie wie eine schwarze Mauer und ließ nur im Westen den Blick auf dunkle Schatten frei. Das mussten die Dünen sein.

Viel Zeit hatte er nicht, um sich zu orientieren, denn in diesem Moment tauchten aus dem Wald hinter ihm Orokòr auf, die ihn von rechts und links in die Zange nahmen. Wie hatten sie ihn nur gefunden? Diese schwarzen Teufel mit den Reißzähnen mussten auch im Dunkeln sehen können. In den Händen trugen sie Keulen, Äxte und Schwerter. Ihre Augen leuchteten rot in der Finsternis. Sie waren Geschöpfe der Finsternis. Diese Kreaturen kannten keine Gnade. Schon hörte Glaxca ihr Triumphgeheul. Die Verfolger sahen das Wild und wussten, dass es ihnen nicht mehr entgehen konnte.

Der Zwerg überlegte fieberhaft, ob er sich zum aussichtslosen Kampf stellen oder die sinnlose Flucht weiter fortsetzen sollte. Noch hatte er keine Entscheidung getroffen, da schloss sich das Loch im Himmel, der Mond verschwand. Man konnte die Hand nicht mehr vor den Augen sehen. Einer Eingebung folgend lief Glaxca leise den Weg zurück, den er eben gekommen war. Die Orokòr rannten schreiend links und rechts an ihm vorbei. Sie vermuteten ihr Opfer weiter auf dem Weg zur Küste. Auch ihre Wahrnehmung hatte bei diesem Wetter Grenzen.

Glaxca ertastete einige Büsche und kroch unter ihre Äste. Keinen Augenblick zu früh hatte er das Versteck gesucht, denn die Verfolger bemerkten nun das Verschwinden des Wildes. Warnungen wurden über die Lichtung gebrüllt und dann vereinigten sich alle zu einem großen Kreis. In seiner Mitte lag Glaxca mit klopfendem Herzen. Er zitterte am ganzen Körper. Seine Zähne klapperten so sehr, dass er befürchtete, sie würden ihn verraten. Und dann schwiegen plötzlich, wie auf einen Befehl hin, die schwarzen Gestalten. Sie lauschten in den Sturm hinein, während sie den Kreis enger zogen. Unaufhaltsam zog sich die Schlinge um den Busch zusammen.

Der Regen hatte wieder zugenommen, ohne dass sich die Verfolger von ihm abhalten ließen. Im Jagdtrieb vergaßen sie alles. Sie folgten ihren scharfen Nasen. Die Beute war da, das witterten sie. Über kurz oder lang würde sie in ihre Klauen fallen.

Glaxca wusste, dass ihm seine List lediglich einen kurzen Aufschub gewährt hatte. Während er sich den Kopf noch nach einem Ausweg zermarterte, hörte er das Schlurfen von Füßen über die feuchte Erde. Ein Orokòr näherte sich dem Busch. Der Zwerg erhob sich vorsichtig auf die Knie und umfasste den Stiel seiner Axt so fest, dass die Knöchel weh taten. Der Feind war nun ganz nah, hatte seine Witterung aufgenommen. Gleich würde er seine Kumpane zu Hilfe rufen. Aber der Ruf blieb aus. Der Jäger wollte die Beute alleine zur Strecke bringen und den Ruhm nicht teilen.

Diese Vermessenheit sollte ihn das Leben kosten. Kaum hatte er den Busch erreicht und sich vorgebeugt, um mit seinem Schwert unter die Äste zu stochern, da fuhr ihm die Schneide der Axt von unten in den Hals. Lautlos sank der Orokòr zu Boden. Glaxca nutzte die Lücke im Kreis der Jäger und schlich vorsichtig aus der Gefahrenzone. Bald war er zwischen niederen Bäumen verschwunden, und die Lichtung mit den noch immer suchenden, schwarzen Bestien blieb im Tosen des Windes zurück.

Der Zwerg wollte zur Landebucht im Golf von Orex, wo vor vielen Lebensaltern die Achajer an Land gegangen waren und den Kontinent Centratur besiedelt hatten. Dort hatten sie nach vielen Menschenaltern ihre Schiffe wieder bestiegen und waren zurück zu den heimatlichen Inseln gefahren. Sie waren des ewigen Kämpfens müde gewesen und hatten das friedlose Schicksal der Bewohner von Centratur nicht länger teilen wollen.

Zurück hatten sie ein Land gelassen, das zwar noch unter den Folgen des Großen Krieges ächzte, dem aber der starke Arm von König Meliodas Frieden garantierte. Zusammen mit den Achajern hatte sich auch Aramar, der Zauberer, eingeschifft. Seine Arbeit in Centratur war getan. Die Menschen sollten nun ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen und ohne Zauberer und Achajer auskommen. Dies war sein großer Irrtum gewesen. Er hatte nicht vorausgesehen, dass der Krieg und das Morden nach einem halben Jahrhundert erneut ausbrechen würden.

Inzwischen lag die Lichtung, die ihm beinahe zum Verhängnis geworden wäre, weit hinter dem Zwerg zurück. Von den Verfolgern war nichts mehr zu bemerken. Schon hörte Glaxca in der Ferne das Rauschen des Meeres. Der Boden wurde sandig, Dünen erhoben sich vor ihm als dunkle Berge. In ihrem Windschatten kam Glaxca rascher voran. Gerade wollte er erleichtert durchatmen, da löste sich aus der Böschung über ihm ein Schatten und warf sich auf ihn. Der Zwerg roch den Gestank aus dem aufgerissenen Maul, sah die weißen Reißzähne aufblitzen und fühlte die Klauen, die sich durch seinen Überwurf aus Leder in sein Fleisch gruben, und begann zu kämpfen. Der Orokòr hatte die Überraschung und den Vorteil auf seiner Seite. Eng umschlungen rollten die Gegner im nassen Sand. Der Zwerg umklammerte die Kehle des schwarzen Kämpfers, und dieser schnappte mit seinen Reißzähnen nach seinem Hals. So rangen sie verbissen am Fuße der Dünen.

Endlich gelang es dem Orokòr, seine mächtigen Zähne in den linken Arm von Glaxca zu schlagen. Der stöhnte, bekam im gleichen Moment einen Stein zu fassen, und hieb ihn auf den Kopf seines Gegners. Immer und immer wieder schlug er zu, während sich dessen Zähne tiefer in sein Fleisch gruben. Gerade als der Zwerg meinte, den Schmerz nicht länger ertragen zu können, ging ein Zucken durch den mächtigen Leib, der auf ihm lag. Die Gestalt wurde schlaff, und der Biss lockerte sich. Der Orokòr war tot.

Mühsam wälzte sich der Zwerg unter der schweren Last hervor. Er blutete aus vielen Wunden und konnte den linken Arm nicht mehr bewegen. Doch er zögerte nicht, sondern ergriff mit der Rechten seine Waffe und kletterte die Düne hinauf. Am Ende seiner Kräfte erreichte er den Dünenkamm, und vor ihm lag das Meer. Dort oben packte ihn der Sturm wieder mit aller Gewalt und warf ihn beinahe um. Die See tobte in der Finsternis. Eisiger, salzhaltiger Regen peitschte ihm ins Gesicht. Vor Schmerzen kniff er die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen.

Nach einiger Zeit sah er Licht in der Ferne. Es kam von flackernden Feuern. Dies gab ihm wieder Auftrieb. Er sammelte seine Kräfte und eilte voran. Wie zur Belohnung für all seine Leiden riss die Wolkendecke auf, und der Mond half ihm, den Weg zu finden. Das Meer schäumte weiß in dem fahlen Licht und leckte mit gierigen Wellen an das Land. Dennoch blieb der Uferstreifen zu seiner Rechten von der stürmischen See unberührt. Mächtige Steine schützten hier das Land gegen die Gewalten des Wassers.

An dieser Stelle standen lang gestreckte Hütten, sie hatten einst den Einwanderern Schutz geboten und waren nun zerfallen. Selbst die Nacht konnte den verwahrlosten Eindruck nicht verbergen. Auf diese Hütten rannte der Zwerg zu.

Kaum war er in ihren Schatten eingetaucht, da umringten ihn hoch gewachsene Gestalten. Panzer und Helme schimmerten silbern in der Nacht, und eine barsche Stimme fragte nach Woher und Wohin. Es waren Achajer. Bei ihrem Anblick brach Glaxca ohnmächtig zusammen.

Als er erwachte, lag er an einem Feuer. Man hatte es im Windschatten eines der Häuser entzündet. Die Wunde in seinem linken Arm war verbunden. Ächzend richtete er sich auf. Die Achajer, es waren neun an der Zahl, versammelten sich um ihn.

„Wer hat dich so zugerichtet?“ fragte eine barsche Stimme.

„Orokòr! Sie werden bald hier sein.“ Glaxca presste den Namen heraus.

Ein Befehl und drei der Männer machten sich als Kundschafter auf den Weg, während die anderen den Zwerg weiter ausfragten. Kurzer Zeit später kehrten die Späher atemlos zurück. Sie hatten schwarze Horte gesehen, die schon bald am Strand eintreffen würde.

„Haben wir eine Chance?“ fragte der Anführer ruhig.

Die Kundschafter verneinten.

„Brecht alles ab und zieht euch auf das Schiff zurück!“

In Windeseile wurde zusammengeräumt und die Bündel gepackt. Der Sturm machte jede Bewegung zur Qual. Jetzt zuckten auch erste Blitze über den Himmel. In ihrem Licht sahen sie, dass schwarze Gestalten auf den Dünen erschienen waren. In wilder Hast warfen die Achajer ihre Bündel weg und rannten zur Landungsbrücke, die wie eine lange, schwarze Schlange ins Meer ragte. Zwei fassten Glaxca unter den Schultern und zogen ihn mit sich.

Der hölzerne Steg reichte weit hinaus in die Dunkelheit. An seinem Ende sah man als Schatten das große Schiff. Die Planken des Stegs waren morsch und glitschig. Die Jahre hatten sie verfaulen lassen. Hier über dem Wasser erfasste der Wind die Leute erst recht mit voller Wucht. Dennoch blieben sie stehen und wandten sich den Verfolgern mit gezogenen Schwertern zu. Nur ein junger Krieger eilte voraus, um die Schiffswache zu warnen.

Die Orokòr hatten die Fliehenden mit lautem Geschrei verfolgt. Sie wussten um ihre Übermacht, und die Lust am Töten ließ sie jede Gefahr vergessen. Nun hatten sie den Schiffssteg erreicht und trampelten über die Planken, brachen mit ihren eisenbeschlagenen Stiefeln durch das morsche Holz. Der Steg begann unter dem Ansturm der wilden Horde zu wanken und neigte sich gefährlich zur Seite. Wellen überspülten bereits die Füße, und einige der Verfolger stürzten ins Wasser. In diesem Durcheinander griffen die Achajer an. Ihre Schwerter fuhren durch die dicken Lederpanzer, und die Angreifer in vorderster Linie bezahlten ihren Jagdeifer mit dem Leben.

Aber auch die Verteidiger standen auf schwankendem Boden. Sie rutschten und ihre Füße fanden keinen Halt. Als die Orokòr erneut voller Wut angriffen, wussten die Achajer, dass sie den Steg nicht gegen fünf Dutzend schwarze Krieger halten konnten. Langsam zogen sie sich weiter zurück, hinaus aufs tobende Meer.

Der Sturm nahm an Stärke noch zu, und die Wogen schlugen immer höher über den Steg. Bald würde er ganz überflutet sein. Mit der ganzen Kraft ihrer Körper mussten sie sich gegen den Wind stemmen, um überhaupt vorwärts zu kommen. Jeweils zwei Achajer deckten nach hinten ab und hielten die Orokòr zurück. Gespenstisch zuckten immer häufiger Blitze über den Himmel und schlugen um sie herum ins Wasser ein. Endlich erreichten sie das große Schiff, das an seinen Ankertauen zerrte.

Es war ein Dreimaster mit mächtigem Tiefgang, der von der kochenden See hin und her gerissen wurde. Eine Laune der Natur hatte eine tiefe Fahrrinne weit in den Golf hinein geschaffen, so dass große Schiffe nahe ans Ufer fahren konnten. Es waren deshalb keine Boote zum Ausschiffen nötig. Aber von den Steuerleuten wurde in dieser Bucht großes Geschick verlangt, denn überall drohten Untiefen, die ein Segelschiff rasch in ein Wrack verwandeln konnten.

Ein Fallreep hing von der Reling, an dem sie sich emporhangelten. Als alle Achajer und auch der Zwerg in Sicherheit waren, erreichten die ersten Orokòr das Schiff. Wütend hieben sie mit ihren Beilen gegen den Schiffsrumpf. So blieb keine Zeit mehr, die Anker empor zu hieven. Stattdessen kappten die Seeleute mit ihren Schwertern die Taue und setzten Sturmsegel. Krieger hielten mit Pfeilen die Verfolger auf Abstand. Der Steuermann drehte mit aller Kraft das große Rad, und das Schiff legte langsam und im Sturm ächzend ab.

Sofort drückte es der Wind nach Steuerbord. Es bekam Schlagseite. Glaxca musste sich mit der gesunden Hand an einem Seil am Mast festhalten, sonst wäre er über Bord geschlittert. Sein linker Arm schmerzte dabei fürchterlich. Der Steuermann kämpfte das Schiff durch die brodelnde See hinaus in den Golf. Der Sturm war nun so laut, dass die Männer ihre eigenen Rufe nicht mehr hörten. Sie mussten sich mit Zeichen verständigen. Die Brecher schlugen über die Planken des Decks, und in das Inferno des Sturms hinein dröhnte der Donner des Gewitters.

Glaxca wurde es erst schwindlig und dann übel. Er musste sich übergeben. Der Schleim, den er von sich gab, wurde vom Sturm weggetragen. Er fragte sich, wie sich der Steuermann in diesem Inferno orientieren konnte. Das Ufer, der Steg und die Orokòr waren verschwunden. Doch mit ihnen hätte sich der Zwerg immer noch lieber auseinandergesetzt, als mit den unheimlichen Kräften der Natur. Gegen die Orokòr und ihre Waffen konnte man sich zur Wehr setzen, gegen dieses Unwetter und die gierige See hingegen war man machtlos. Glaxca zweifelte auf einmal, ob er diese Schifffahrt überleben würde.

Plötzlich übertönte ein schrecklicher Krach das Toben der Elemente. Das alte Holz schrie schmerzgepeinigt auf, und dann war der entsetzte Ruf zu vernehmen: „Wir sind auf Grund gelaufen! Wasser im Laderaum!“

Eine der Untiefen war dem Segelschiff zum Verhängnis geworden. Nun drohte es zu zerbrechen. Der Steuermann hatte versagt. Der Zwerg wurde wie von einer riesigen Faust gegen die Decksaufbauten gedrückt. Das Schiff rollte über Steuerbord. Es hatte Schlagseite, und seine Masten würden gleich die Wasseroberfläche berühren. Doch so weit kam es nicht. Es gab stattdessen einen ohrenbetäubenden Knall, und der Großmast brach, gleich darauf folgte der Fockmast. Die Takelage stürzte auf Deck und traf einen Mann, dessen Schrei im Wind verhallte. Dann ging ein mächtiges Beben durch das Schiff, als der gewaltige Mast ins Wasser stürzte. Zuvor aber schlug er auf Deck alles kurz und klein. Von der Last befreit schnellte das Schiff wieder empor in seine normale Lage. Der Zwerg wurde von den Trümmern selbst nicht getroffen, aber Seile und Segeltuch gingen auf ihn nieder, fesselten ihn und hüllten ihn ein. Er hörte eine verzweifelte Stimme: „Wir sinken!“

Ein Donnerschlag bekräftigte das Urteil. Wütend zerrte Glaxca an seinen Fesseln. Dann neigte sich das Schiff erneut zur Seite, und der Zwerg glitt zusammen mit Tauen, Fässern und Werkzeugen langsam über die nassen Planken. Eine große Welle ergriff ihn und zog ihn ins wütende Meer. Er tauchte tief ins Wasser ein, glaubte schon zu ersticken, wurde wieder nach oben gedrückt, schnappte Luft, schlug wild um sich, konnte sich befreien, bekam ein Stück der zersplitterten Rah zu fassen und klammerte sich voller Verzweiflung daran. Eher würden seine Arme abreißen, bevor er dieses runde Holz wieder losließ. Brecher spülten über seinen Kopf. Er rang nach Luft, spie salziges Wasser aus. Wasser war in seinem Mund, füllte seinen ganzen Körper aus. Aber er hielt sich an der Rah fest, und selbst als der das Bewusstsein verlor, umklammerten seine Arme noch das nasse Holz.

Beim Erwachen fror der Zwerg erbärmlich. Der Sturm hatte nachgelassen, und das Gewitter war vorüber. Er lag zwar noch im Wasser, aber auf festem Grund. Noch immer umklammerte er die rettende Rah. Zusammen mit der er an Land gespült worden war. Unter sich spürte er Sand, den die Wellen langsam wegwuschen, so dass er immer tiefer einsank. Mühsam erhob er sich. Jetzt erfasste ihn wieder der kalte Wind und biss ihm ins Fleisch.

Der Zwerg sah sich um. Es regnete nicht mehr. Dämmerlicht lag über der Welt. War es Morgen oder Abend? Die Zeit war ihm verloren gegangen und auch den Ort, an dem er lag, kannte er nicht. Aber er war neu geboren, soviel stand fest. Er hatte nicht geglaubt, dass er den Schiffbruch überleben würde.

Noch immer gellten ihm die Schreie auf dem untergehenden Schiff in den Ohren. Er war gerettet, aber seine Mission gescheitert. Das letzte Schiff, das Aramars Botschaft zu den Inseln hätte bringen können, war gesunken. Der Hilferuf des Kontinents Centratur war im Toben der Elemente verhallt.

Zittern überkam ihn. Was war aus den Orokòr geworden? Lauerten sie vielleicht noch am Strand auf Überlebende, um sie zu töten? Vorsichtig sah er sich um. Doch er erblickte niemand. Als erstes musste er nun seine nassen Kleider loswerden und sich ein wenig wärmen. Sonst würde er Fieber bekommen.

Der Sandstrand zog sich in einem weiten Halbkreis um die See. Also befand er sich noch in der Bucht von Orex. Vielleicht konnte er die Hütten am Landesteg erreichen und dort etwas Brauchbares finden? Aufs Geratewohl wandte er sich nach Süden, frierend in der nassen Kleidung. Nach etwa einer Stunde, seine Füße und Hände waren ganz blau vor Kälte, wurde der Boden fest und stieg an. Dann sah er vor sich die lang gestreckten Gebäude. Er war am alten Landeplatz angelangt.

Zu dem mächtigsten Feind aber entwickelte sich ein Zauberer. Ormor verwickelte den Kontinent in große Kriege. Sie hatten viel Blut und viele Leben gekostet. Bis ihn schließlich Zwerge, Achajer und Menschen gemeinsam in einen Berg verbannen konnte. Aus diesem Berg war er vor einiger Zeit mit Hilfe einer geheimnisvollen Macht, den Vespucci, entkommen, um sogleich ein neues Blutvergießen anzuzetteln. Noch immer ruhte er nicht, um Centratur in seine Gewalt bringen.

Die Achajer waren hier vor vielen Zeitaltern an Land gegangen. Mutige Männer und Frauen mit Herzen voller Hoffnung. Sie hatten zuerst einige Wochen in den Unterkünften der Bucht gelebt und sich dort die nötigen Kenntnisse über den Kontinent Centratur erworben. Dann waren sie aufgebrochen ins Ungewisse. Fleißig hatten sie den Boden in der neuen Heimat bestellt, Städte gegründet, ihr Handwerk ausgeübt. Doch es war ein feindliches Land gewesen, das sie urbar machten. Es gab viele Geschöpfe in Centratur, die in den neuen Siedlern Bedrohung und Konkurrenz sahen. Die Achajer mussten hohe Mauern um ihre Städte und Burgen bauen. Schon die Kinder wurden im Umgang mit Waffen ausgebildet.

Der mächtigste Feind aber war Ormor, der sich selbst Zauberkönig nannte und immer wieder die Herrschaft über ganz Centratur anstrebte. Dazu war ihm jedes Mittel und jede Gemeinheit recht.

Doch im Land lebten auch gute Zauberer. Sie hatten Klöster gebaut und sorgten sich um die Geschöpfe des Kontinents. Aus ihren Reihen war Aramar hervorgegangen, der mit Rat, Umsicht und Tapferkeit für den Sieg der gerechten Sache in den Kriegen verantwortlich gewesen war. Auf ihn ging auch der Plan zurück, nach dem Sieg im Großen Krieg, Ormor in einen Berg zu bannen. Aus diesem Berg war er vor einiger Zeit mit Hilfe einer geheimnisvollen Macht, den Vespucci, entkommen, um sogleich ein neues Blutvergießen anzuzetteln.

Diese Gedanken gingen dem Zwerg durch den Kopf, als er sich vorsichtig den langen Schlafhäusern näherte. Sie waren zerfallen und unbewohnbar, und als er durch die zerbrochenen Türen eindrang, fand er nichts Nützliches, sondern nur Ungeziefer und Schmutz. Doch er gab nicht auf und untersuchte ein Haus nach dem anderen. Je weiter er nach Süden kam, desto besser erhalten waren die Unterkünfte. Man hatte sie in jüngerer Zeit wieder instandgesetzt. Endlich wurde er fündig. In einer Truhe lagen wollene Hosen und ein gewebter Überhang. Die fremden Kleider passten zwar nicht, aber er fühlte sich in den trockenen Sachen endlich wieder wohl. Seine Hose und das Hemd hängte er zum Trocknen auf.

Als er wieder zum Strand hinunter schritt, sah er eine einsame Gestalt im Sand sitzen. Es war der Anführer der Achajer, der verloren aufs Meer hinausblickte. Glaxca setzte sich neben ihn. Beide Männer schwiegen.

Endlich sagte der Achajer bitter: „Sie sind alle tot! Keiner hat überlebt! Es war Irrsinn, bei diesem Sturm abzulegen.“

„Gab es denn eine andere Wahl?“ fragte der Zwerg leise.

„Nein, nicht nachdem du die Orokòr zu uns geführt hattest.“

„Was sollte ich tun?“

Wieder schwiegen sie lange. Endlich straffte sich die Gestalt des Achajer. Er stand auf und reichte dem Zwerg in einer noblen Geste seine sechsfingrige Hand.

„Ich bin Heliodor, und wie heißt du?“

„Mein Name ist Glaxca, Kraks Sohn.“

„Was wolltest du hier in der Landebucht?“

„Man hat mich zu Euch geschickt mit wichtiger Nachricht!“

„Zu uns? Wer weiß, dass wir hier sind?“

„Aramar. Ihr selbst habt ihn hierhergebracht.“

Als habe ihn der Zwerg angegriffen, wirbelte Heliodor herum: „Was hast du mit Aramar zu schaffen? Was weißt du von ihm?“

„Ich war sein Gefährte. Er hat mir gesagt, dass Ihr hier auf seine Rückkehr wartet. Doch nun bittet er Euch, sofort zu den Inseln zu fahren und Hilfe zu holen. Centratur steht in Flammen. Ormor wurde aus dem Berg befreit und greift überall an.“

„Wie soll ich ohne ein Schiff meine Freunde auf den Inseln verständigen? Kannst du überhaupt deine Aussagen beweisen?“

„Nein! Ich hatte zwar einen Brief von Aramar, doch er wurde mir gestohlen. Ihr müsst Euch auf mein Wort verlassen.“

„Was stand in diesem Brief?“

„Aramar schrieb von der großen Not, die in diesem Land herrscht.“

„Was erwartest du, was ich, gesetzt den Fall ich würde dir glauben, tun soll?“

„Auf den Inseln muss man von Aramars Hilferuf erfahren. Die Achajer müssen Truppen schicken, sonst sind wir alle verloren.“

„Immer sollen wir Achajer eingreifen! Könnt ihr eure Probleme nicht selbst regeln? Könnt ihr uns nicht in Ruhe lassen? Haben wir für dieses Land nicht schon genug Opfer gebracht?“

„Wir hatten Euch damals nicht gerufen. Ihr habt Euch in dieses Land gedrängt.“

„Ich will nicht mit dir streiten. Was also will Aramar?“

„Er will, dass die Achajer in den bevorstehenden Kampf eingreifen.“

„Wenn dies sein Wunsch ist, so verlangt er eine schwerwiegende Entscheidung von meinem Volk. Wir haben uns aus Centratur zurückgezogen, und nun sollen wir wiederkehren und erneut unser Leben für dieses Land einsetzen?“

„Es ist Aramars Wille, und soweit ich weiß, habt Ihr ihn immer befolgt.“

„Wer sagt mir, dass du von Aramar kommst? Bis jetzt habe ich nur das Wort eines Zwergs. Auf das Wort eines solchen Zeugen hin soll ich das Heer der Achajer zurück nach Centratur rufen? Du könntest lügen oder einfach ein Verrückter sein. Vielleicht ist dies auch eine Falle, und du bist ein Bote des Feindes? Ich habe in dieser Nacht alle meine Männer verloren, und viele von ihnen waren meine Freunde.“

„Wie kann ich Euch überzeugen?“

„Bringe mir einen Beweis, dass du von Aramar geschickt bist!“

„Das ist schwer, denn der Zauberer ist weit. Ich müsste ihn erst irgendwo in Centratur finden. Bis dahin vergeht viel Zeit.“

Der Zwerg hatte ruhig gesprochen und doch genau den Punkt getroffen. Heliodor antwortete ihm nicht.

Nach einer Weile wechselte er das Thema und sagte: „Wir hatten Brieftauben bei uns, um Kontakt zu unserem Volk zu halten. Vielleicht leben sie noch?“

Den Lagerplatz der Achajer hatten die Orokòr in blinder Wut verwüstet. Heliodor lief zu der Hütte, in der er und seine Gefährten die Nächte verbracht hatten. Nun lag dort alles in Trümmern. Den Tauben in ihren Käfigen hatte man den Hals umgedreht und einige, das sah man an den Federn, sogar roh gegessen. Es war ein Bild des Grauens. Erschüttert wandte sich der Achajer ab.

„Wo sind sie geblieben?“ fragte er. „Wo bist du, Manudohi, mit deiner hellen, wunderschönen Stimme? Und du, Grabolio, mit deinem perlenden Lachen? Was werde ich euren Frauen und Müttern sagen, wenn ich erst wieder in der Heimat bin?“ Und nach einer Weile: „Ich hätte diesen Wahnsinn verhindern sollen. Wir durften bei diesem Wetter nicht in See stechen! Ich hätte den Kopf nicht verlieren dürfen. Mich trifft alle Schuld!“

„Macht Euch keine Vorwürfe“, wandte der Zwerg ein. „Es war eine schlimme Nacht, und wir wurden von den schlimmsten Geschöpfen Centraturs gejagt. Wie immer Ihr entschieden hättet, es wäre falsch gewesen.“

Der Achajer achtete nicht auf die tröstenden Worte. Er verließ die Hütte, um mit seinem Schmerz allein zu sein. Während dessen durchsuchte Glaxca den ganzen Raum und wurde schließlich fündig. Einen Käfig hatten die Orokòr vom Tisch geworfen und dadurch die Taube übersehen. Sie war dem Tod entgangen. Verängstigt drückte sich der Vogel in die Gitterstäbe und wich der Hand des Zwergs aus.

Als Heliodor zurückkam, war er gefasst. Glaxca zeigte ihm das Tier, und sie untersuchten es gemeinsam. Es war schwach und am Flügel verletzt.

„Ich werde es dennoch auf die Reise zu den Inseln schicken“, sagte der Achajer. „Es ist die einzige Chance, meine Landsleute zu benachrichtigen, damit sie mich abholen.“

Er schrieb eine Nachricht auf dünnes Papier und befestigte die Botschaft am Fuß der Taube. Dann trat er ins Freie und warf das Tier in die Luft. Der Vogel breitete seine Schwingen aus, taumelte, schien abzustürzen, nahm dann alle Kraft zusammen und gewann an Höhe. Nachdem er zwei Kreise über die Männer am Strand gezogen hatte, hielt er nach Westen und verschwand als kleiner weißer Punkt über dem Meer.

„Jetzt kann ich nur noch warten und hoffen“, sagte Heliodor.

„Was werdet Ihr tun, wenn die Taube durchkommt und Ihr abgeholt werdet? Leitet Ihr die Nachricht von Aramar an Eure Fürsten weiter?“

Der Achajer sah den Zwerg ernst an. Dann sagte er ruhig: „Ich selbst bin ein Fürst der Achajer. Aber ich weiß noch immer nicht, ob ich dir trauen kann. Obgleich es mir widerstrebt, will ich dir und vielleicht diesem Land, eine Chance geben. Du kannst mir ein Zeichen von Aramar bringen.“

„Das wird sehr schwer sein. Wie lange werdet Ihr warten?“

„Wir haben jetzt den zweiten Monat im neuen Jahr. Ich will am Ende des elften Monats hier sein. Kommst du mit einer Botschaft des Zauberers zurück und kannst du nachweisen, dass sie von ihm stammt, werden wir Achajer uns zum Feldzug rüsten. Bist du bis dahin aber nicht hier, wird niemand von meinem Volk diesen Boden je wieder betreten.“

„Da bleibt mir wenig Zeit, um den Zauberer irgendwo in Centratur zu finden. Ganz besonders jetzt, wo das ganze Land in Aufruhr ist“, erklärte der Zwerg. „Dennoch danke ich Euch.“

„Wirst du, verwundet wie du bist, zurechtkommen?“

„Ich glaube schon. Ich habe keine Wahl.“

Die beiden so verschiedenen Männer gaben sich die Hand, und jeder ging seiner Wege.

Willmar der Buddler

Der Mann hatte den ganzen Tag hart gearbeitet. Nun versank die Sonne hinter den Bäumen, Regenwolken zogen auf, und er war müde. Sorgfältig säuberte er seinen Spaten, den Pickel, die kleine Schaufel, den Pinsel und die drei Schaber. Das Werkzeug war sein kostbarstes Gut. Er verpackte es in ein Tuch, verschnürte und schulterte das Bündel und machte sich auf den Rückweg. Er ging langsam und müde, denn er war alt. Das struppige weiße Haar war schon lange nicht mehr geschnitten worden und reichte weit über die Schultern. Auch der Bart hing ihm lang und ungepflegt vom Kinn. Nur die Augen leuchteten jung und ungebrochen. Als Kleidung trug der Alte eine große Decke, in die Löcher für den Kopf und die Arme geschnitten waren.

Die Hütte war klein und aus rohen Balken achtlos gezimmert. Die Spalten hatte man mit Moos und Laub verstopft, so dass der Wind nicht allzu stark hindurch blies. Auf dem Dach wuchs üppiges Moos. Der Alte schlürfte zur Feuerstelle vor der Hütte, schichtete trockenes Holz und Reisig auf und machte Feuer. Nun ergriff er einen verbeulten Topf und ging zu einem kleinen Bach hinter der Hütte. Das Wasser floss über eine Steinkante in ein kleines, natürliches Becken, an dessen Rand Wasserpest und Schilf wuchsen. Der Alte hielt mit der rechten Hand - es fehlten an ihr der Kleine und der Ringfinger - seinen Topf in den Wasserstrahl und trug ihn dann vorsichtig zum Feuer. Bis das Wasser kochte, setzte er sich auf einen modernden Baumstamm und wartete geduldig.

Es war nun beinahe ganz dunkel. Der Wind hatte an Stärke zugenommen. Als das Wasser sprudelte, warf der Mann einige Blätter hinein, die er am Tag gesammelt hatte. Dann ging er in die Hütte, holte einen halben Fladen Brot, etwas Salz und Butter. Die Bauern hatten ihm vor Tagen das Essen gebracht, und er hatte dafür ihre kleinen Gebrechen geheilt. Langsam und gedankenverloren aß der Mann und trank seinen Tee.

Die ersten Blitze zuckten über den dunklen Himmel, als ein Reiter auf die Lichtung trabte. Im fahlen Licht des aufkommenden Gewitters war sein schweres Kettenhemd, die Lanze und das Schwert zu erkennen. Er zügelte das Pferd, bis es völlig unbeweglich stand. Der Reiter gab keinen Laut von sich und beobachtete den alten Mann am Feuer. Dieser unterbrach sein karges Mahl nicht, sah auch nicht auf, sondern sagte nur: „Ich habe Euch schon erwartet. Kommt mit in die Hütte, es wird gleich regnen.“

In diesem Augenblick fielen die ersten, dicken Tropfen, und Donner ließ die Luft erzittern. Der Alte raffte sein Essen und den Teekessel zusammen und eilte in die Unterkunft. Während das Feuer zischend verlöschte, band der Reiter sein Tier unter dem kleinen Vordach an, nahm ihm rasch den Sattel ab und folgte dem Einsiedler in die Hütte. Der saß auf einer schmalen Pritsche, die neben einer Truhe die einzige Einrichtung war, und lud den Gast zum Sitzen ein. Der Fremde nestelte einen verbeulten Becher von seinem Gürtel und nahm sich ungefragt von dem heißen Tee.

„Was wollt Ihr?“ fragte der Alte mit ruhiger Stimme.

Der Bewaffnete wärmte seine Hände an dem Gefäß. Im Dunkel der Unterkunft konnte er sein Gegenüber kaum erkennen.

„Bist du Willmar der Buddler?“

„Woher kennt Ihr meinen Namen?“

„Ormor der Große schickt mich.“

„Das habe ich mir schon gedacht. Doch wie kann Euch der Zauberkönig Aufträge geben? Man hat ihn vor langer Zeit besiegt und in einem Berg gebannt.“

„Er wurde befreit!“

„Von wem?“

„Abgesandte einer fernen Macht haben sich darum gekümmert.“

„Aus welchem Grund?“

„Ich bin nicht hier, um dir Erklärungen zu geben. Lediglich eine Botschaft soll ich ausrichten: Ormor der Große wünscht dich zu sehen.“

In das folgende Schweigen mischte sich der tosende Donner eines mächtigen Gewitters. Regen fiel in Sturzbächen herab und trommelte auf das Dach der Hütte. Wassertropfen sickerten durch das Moos und tropften auf die Männer. Es war nun so dunkel, dass sie sich gegenseitig nicht mehr sahen.

Endlich sagte Willmar: „Warum sollte ich Eurer Aufforderung folgen? Meine Arbeit ist hier und sie ist an einem entscheidenden Punkt angelangt. Ich habe keine Zeit für eine Reise.“

„Wenn der Zauberkönig dein Kommen befiehlt, so frage nicht lange, sondern folge dem Ruf!“ Die Stimme des Bewaffneten war kalt.

„Was schert mich Euer Ormor? Ich gehöre nicht zu den Leuten, über die er Macht hat.“

„Ich werde dich zu ihm bringen, lebendig oder, wenn es nicht anders geht, auch tot.“

Der Alte lachte. Es war ein glucksendes Geräusch, das ganz tief aus seiner Kehle kam.

„Dein Lachen wird dir noch vergehen. Ich bin Gracchu aus der Leibwache. Bisher hat mir kein Feind widerstanden und alte Männer haben es erst gar nicht versucht. Folge freiwillig in Frieden und Freundschaft. Zwinge mich nicht, dich an mein Pferd zu binden und zu meinem Herrn zu zerren.“

Willmar lachte noch immer.

„Hör auf zu lachen!“ Der Krieger war nun wütend und langte nach dem Dolch an seiner Seite.

Obgleich der Einsiedler dies nicht sehen konnte, verstummte das Glucksen abrupt.

Mit leiser Stimme sagte der Alte: „Lasst die Waffe stecken und ändert Euren Ton, sonst verlasst ihr diesen Ort nicht lebend. Ihr seid in meinem Haus, und hier bestimme ich. Unterschätzt mich nicht! Mir scheint, Euer Herr hat Euch nicht gesagt, zu wem er Euch schickt. Dies sieht ihm ähnlich. Er würzt noch immer jede Unternehmung mit einer kleinen Heimtücke.“

„Du hast recht“, presste der Reiter hervor, „für jemanden wie dich brauche ich kein Messer. Ich bringe dir mit meinen bloßen Händen Gehorsam bei.“

Er tastete dorthin, wo er den Widerspenstigen mehr vermutete als sah. Doch der erhob sich, und mit ihm erhob sich ein riesiger Schatten. Er war dunkler als die Nacht und füllte die Hütte völlig aus. Dieser mächtige Schatten war im Dunkeln zu sehen und zu greifen. Die tiefe Schwärze erschien wie ein großes Loch im Raum. Der Krieger zuckte vor dieser Drohung zurück und duckte sich angstvoll. Wortlos setzte sich Willmar wieder, und damit verschwand auch der drohende Schatten.

„Ich habe es nicht so gemeint“, stammelte der Gracchu begütigend. „Lasst uns in Frieden miteinander auskommen! Der große König hat anscheinend mit Eurer Weigerung gerechnet. Deshalb trug er mir noch auf, Euch folgenden Satz auszurichten: Aramar ist wieder im Lande.“

„Das ist in der Tat eine wichtige Botschaft.“ Zum ersten Mal schien der Einsiedler überrascht. „Erzählt mir, was in den letzten Jahrzehnten geschehen ist“, fuhr er fort. „Vielleicht lasse ich mich dann umstimmen und folge Euch.“

„Was wollt Ihr hören?“

„Alles, was seit der Befreiung Ormors geschehen ist. Ich habe mich nämlich schon lange aus der Welt zurückgezogen. Es gab für mich wichtigere Arbeiten zu erledigen, als mich in den Irrsinn dieser Welt zu mischen.“

„Wo soll ich anfangen? Sie haben IHN befreit, und dann hat der große Ormor die ihm zustehende Herrschaft angetreten. Anfangs ging alles gut, aber dann gab es einen Rückschlag nach dem anderen. Deshalb kehrten wir von Roscio ins Dunkle Schloss zurück. Vor der Abreise beauftragte Er mich, nach Euch zu suchen. Das ist alles.“

„Eure Rede ist sehr unklar. Nun weiß ich noch immer nichts. Beginnt damit, wie Ihr in den Berg gekommen seid und erzählt der Reihe nach.“

Der Krieger überlegte lange und die wohlgesetzte Rede fiel ihm offensichtlich schwer. Endlich begann er schleppend zu sprechen: „Es war vor langer Zeit, als unser Herr bereit war, der Welt seine Herrschaft angedeihen zu lassen. Doch ein törichter Teil Centraturs widersetzte sich ihm, und selbst die Achajer griffen zu den Waffen. So kam es zu einem schlimmen Krieg, den sie später den Großen Krieg nannten. Zum Glück war der Widerstand, den sie dem Herrn entgegensetzten, nicht von langer Dauer. Sie verloren eine Schlacht nach der anderen. Schon sonnten wir uns in unserem gerechten Triumph, da kam plötzlich die Wende.“

„Und Aramar hatte seine Hand im Spiel?“ fragte der alte Mann. Aus seiner Stimme war zu hören, dass er die Antwort bereits kannte.

„Ja, dieser Hund vereitelt alle guten Pläne. Er trieb irgendwo Meliodas auf, der bis dahin noch ein Jäger aus dem alten Geschlecht der Habbas war, und ihn erkannten alle Feinde als ihren Herrscher und König an. Selbst die Achajer unterstellten sich seiner Führung. Damit aber nicht genug! Aramar beriet das vereinte Heer mit seinen teuflischen Plänen, so dass der Vormarsch der Krieger aus Darken aufgehalten wurde, und sie große Verluste hatten. Ormor schäumte vor Wut geschäumt haben, aber er gab den Kampf noch lange nicht verloren. Schließlich waren seine Truppen weit in der Übermacht, und er hatte eine erheblich günstigere Ausgangsposition als dieser Meliodas mit seinen Leuten. Er und die Freunde aus Darken hätten auch den Großen Krieg trotz Aramars Eingreifen gewonnen, wenn nicht etwas Überraschendes geschehen wäre.

Zwei kleine Leute aus dem Heimland, Erits nennt man sie, haben ihn ausgeschaltet. Ormor mochte dieses Gewürm noch nie. Niemand weiß bis heute, wie diesen Ratten die ungeheuerliche Tat gelang. Sie wurden damals nicht zur Rechenschaft gezogen. Inzwischen werden sie aber alles bereuen, denn Ormor hat sich ihrer angenommen.

Mit dem Untergang Ormors war natürlich der Kampf der Männer aus Darken verloren und die gute Sache verraten. Dieser Meliodas übernahm die Regentschaft als Hochkönig. Unter dem Vorwand, für Frieden und Gerechtigkeit zu sorgen, unterdrückte er unsere Freunde und demütigte sie. Nicht lange danach fanden wir uns alle in tiefster Dunkelheit wieder. Die Sieger hatten uns nicht umgebracht, wie es für uns ehrenvoll gewesen wäre, sondern in einen Berg gebannt. Dort mussten wir lange Jahre regungslos verharren, halb wachend, halb schlafend und mit schrecklichen Träumen.“

„Daran war Aramar sicher nicht unschuldig“, murmelte Willmar.

„Aber endlich kamen zwei Männer in leuchtenden Rüstungen. Sie erweckten den großen Ormor. Dieser belohnte sie, indem er sie aus ihrer sterblichen Hülle befreite. Dann spaltete er den Berg, und wir verließen unser Gefängnis.

Draußen warteten schon die Agenten auf uns, von denen die Befreier angeheuert worden waren. Es waren Männer aus dem fernen Land Vespucci. Ormor kannte sie und vertraut ihnen. Dann wurden Boten in alle Welt geschickt, und die Getreuen zusammengerufen. Alle kamen oder sandten Abordnungen. Man hatte den Herrn nicht vergessen. In kurzer Zeit war er so stark wie zuvor. Begeisterung und Freude begleiteten Ormors Wiederkehr. Alle unsere Freunde hatten sich lange zähneknirschend zurückhalten müssen. Man hatte sie gedemütigt und unterdrückt. Wehe den Besiegten!

Übrigens, kurz bevor Ormor der Große den Berg verlassen konnte, ertrank der anmaßende Hochkönig, dieser Meliodas, im Tessenfluss. Überall erhoben sich daraufhin Könige und Fürsten. Sie wollten die Herrschaft über Centratur oder ganz einfach nur Beute machen. Diesem Treiben hat mein Herr inzwischen ein Ende gesetzt. Er vereinigte die Heere, rief seine Orokòr aus den Tiefen der Gebirge und griff eine der mächtigsten Bastionen der Feinde an: Hispoltai, die Hauptstadt der Equaner. Zuvor aber ließ er das Heimland besetzen, um die Erits für all ihre Missetaten zu bestrafen.

Doch die Geschichte der Welt ist geprägt von verhängnisvollen Wiederholungen. Wieder einmal waren unsere Truppen siegreich. Sie belagerten Hispoltai, und die Stadt stand kurz vor dem Fall. Doch im letzten Moment wendete sich das Blatt wieder zu unseren Ungunsten, und wir mussten fliehen.“

„Aramar?“ fragte der Einsiedler mit gebrochener Stimme.

„Ja, dieser verfluchte Zauberer ist uns schon wieder in die Quere gekommen. Deshalb hat mich mein Herr zu Euch geschickt. Er meint, Ihr wärt der einzige, außer ihm selbst natürlich, der Aramar die Stirn bieten könne. Und er meint auch, Ihr hättet mit diesem teuflischen Hund noch eine Rechnung zu begleichen.“

„Mag sein“, flüsterte der alte Mann.

„Natürlich sind wir noch nicht wirklich geschlagen. Noch haben wir genügend Reserven, und in Darken sammelt sich ein riesiges Heer. Wir werden Whyten und Equan wie der Sturmwind überrennen und unterwerfen. Wir werden ganz Centratur in unsere Gewalt bekommen und uns gefügig machen. Dann werden wir unsere Macht bis an die Grenzen der Welt ausdehnen, denn das Schicksal hat uns zu den Herrschern des Kontinents bestimmt. Das Los der anderen Völker ist es, uns zu dienen. Wir erfüllen deshalb mit dem kommenden Krieg den Auftrag des Schicksals. Aber die Vorbestimmung verlangt von uns auch Opfer, und wir sind bereit sie zu bringen. Wir werden unser Leben wagen für die Vorsehung. Wir werden Leid und Entbehrungen auf uns nehmen, und wir werden kämpfen wie die Teufel. Niemand kann uns widerstehen, solange Ormor der Große uns führt. Wir werden die Erde in Brand setzen, und der Brand wird die Erde läutern. Wir werden mit Feuer und Schwert herrschen, und endlich wird Gerechtigkeit sein.“

Der Krieger hatte sich in Rage gesprochen und war in Erregung aufgesprungen. Da stand er nun in der Dunkelheit und schrie die letzten Worte.

„Wenn es das Schicksal so gut mit Euch meint, und Ihr auf der Straße des Sieges seid, wozu braucht Ihr dann mich?“ fragte Willmar spöttisch.

„Damit uns Aramar nicht mehr in die Quere kommt. Der Herr will sich von diesem Hund nicht länger tyrannisieren lassen.“

„Ihr habt all die Heere und dazu noch das Schicksal auf Eurer Seite, was kann Euch da ein alter Zauberer wie Aramar anhaben?“

Gracchu schwieg bei diesem Einwand verdutzt, griff nach seiner Tasse und nahm einen Schluck von dem nun kalten Tee. Das Gewitter war inzwischen weitergezogen. Der Donner klang nur noch schwach aus der Ferne. Auch der Regen hatte nachgelassen.

„Wir wollen zu Bett gehen“, sagte der Alte endlich. „Morgen erwartet uns ein schwerer Tag. Wir haben eine lange Reise vor uns.“

Früh am nächsten Morgen, es war noch dunkel, brachen sie auf. Willmar hatte zuvor sein Werkzeug sorgfältig in der Hütte verstaut und die Tür abgeschlossen. Dann sprach er seltsame Worte, so als wolle er die Behausung beschwören. Er nahm nichts mit außer einem Tuch, in das er verschiedene Gegenstände gewickelt hatte, die er aber seinem Begleiter nicht zeigte. Gracchu bestieg sein Pferd, und der Alte schulterte sein kleines Bündel. Der Krieger sah beim Reiten auf seinen Begleiter herunter und konnte sich überhaupt nicht mehr vorstellen, dass er sich in der vergangenen Nacht vor diesem gebeugten Alten gefürchtet hatte.

Es wurde ein heller, klarer Tag. Der Himmel war nach dem Unwetter der letzten Nacht wie geputzt und die Luft wärmer geworden. Von den Tannen tropfte Nässe auf den aufgeweichten Boden. Die Natur schien aufzuatmen, dass sie alles heil überstanden hatte. Bald erkannte Gracchu, dass es mühsam war, den Gang des Pferdes dem langsamen Wanderer anzupassen, und stieg ab. Es war ein weiter Weg von den Schwarzen Bergen durch das Hochgebirge nach Westen. Die einschüchternden Gipfel begleiteten sie Tag für Tag. Nachts schliefen sie an kleinen Feuern. Sie sprachen wenig und wussten von einander, dass sie sich nicht mochten. Der Krieger verachtete den Einsiedler, Willmar hingegen langweilte der törichte Riese, der außer Kraft und Rücksichtslosigkeit nichts zu bieten hatte. Was hätte er mit diesem Kriegsmann schon reden können!

Einmal fragte Gracchu: „Was habt Ihr all die Jahre in den Bergen gemacht?“

„Ich war der Vergangenheit auf der Spur.“

„Hattet Ihr nichts Besseres zu tun? Was vergangen ist, ist vergangen! Was kümmert es uns heute noch, was einmal war?“

„Die Vergangenheit könnte Euch lehren, Eure heutigen Kriege entweder nicht zu führen oder zu gewinnen. Wenn wir nicht aus der Geschichte lernen, machen wir alle Fehler, die jemals gemacht wurden, immer wieder. Es gibt dann für uns keinen Fortschritt, weil wir immer wieder von vorn anfangen müssen.“

Der Alte sah den verständnislosen Blick seines Gefährten und lächelte. Er hatte sich gleich gedacht, dass dieser mit seiner Antwort nichts anzufangen wusste. Doch was hätte er ihm sagen sollen? Hätte er etwa von seinen Ausgrabungen erzählen sollen? Er hatte entdeckt, dass in diesen Bergen vor undenklichen Zeiten Wesen gewohnt und sogar Städte gebaut hatten. Und tausende Jahre vor ihnen war hier auch schon einmal Leben gewesen, hatten hier Leute gegessen, geschlafen, geliebt und vielleicht zu irgendwelchen Göttern gebetet. Immer wieder waren Dörfer und Städte gebaut worden, und jedes Mal hatten ihre Bewohner geglaubt, sie seien die ersten. Und von all dem Leben, das hier in längst vergangenen Zeiten geblüht hatte, wusste niemand etwas, außer Willmar der Buddler. War Vergangenheit wirklich nur ein Zwinkern im Auge Gottes?

Immer wieder, in Zeitabständen von vielen tausend Jahren waren neue Kulturen entstanden und wieder vergangen, und die Menschen der einen Kultur wussten nichts von den Menschen der anderen Kultur. Willmar schmunzelte, als er an eine Inschrift dachte, die er auf einem uralten Stein entdeckt hatte: „Wir sind die Ersten, und wir werden die Letzten sein.“

Welch ein tragischer Irrtum verbarg sich hinter diesen Worten. Er hatte die Fundamente der Häuser ausgegraben, die diese Wesen gebaut hatten. Sie bestanden aus kunstvoll behauenen Steinen, die den Äonen hatten trotzen sollen. Röhren aus Metallen, die inzwischen verrostet und kaum noch erkennbar waren, hatten die Steine durchzogen. An einer Stelle fand er Überreste von Farbe auf den Steinen, die wohl von Bildern herrühren mochten. Leben hatte hier einst geblüht und war, aus welchen Gründen auch immer, vergangen. Und selbst die Kunde von dieser Kultur war vergangen, vom Atem der Geschichte verweht. Wie Inseln schwammen die einzelnen Kulturen im Ozean der Zeit und wussten nichts voneinander. Nur die Zeitenwanderer kannten sie. Simonarum war wahrscheinlich einer von ihnen.

Bei dem Gedanken an seinen alten Lehrmeister durchfuhr den Zauberer ein Schauder. Seine Jugend im Kloster Quantam fiel ihm ein, die glückliche Zeit mit Aramar. Aber er verdrängte die Erinnerung rasch und konzentrierte sich auf den steinigen Weg.

Sie waren schon lange gewandert, befanden sich aber immer noch im Hochgebirge. Eines Tages, der Himmel glänzte freundlich, liefen sie durch ein enges Tal, das sich zwischen hohen Bergen hindurch zog. Auf seinem Grund war es düster, denn der Himmel war dort nur als schmales, blaues Band sichtbar. Plötzlich donnerte vor ihnen eine Steinlawine den Berghang herab und schnitt ihnen den Weg ab. Dann geschah das gleiche in ihrem Rücken.

Sofort ließ Gracchu sein Pferd los, das nervös tänzelte, und zog sein Schwert. Er war ein Krieger, den so leicht nichts in Furcht versetzen konnte. Doch als er sah, was da hinter ihnen und vor ihnen auf den Weg sprang und sich drohend aufbaute, erbleichte er. Zwei Bergtrolle nahmen sie in die Zange. Gegen sie hätten auch zwanzig Krieger keine Chance gehabt. Jeder war so groß wie zwei Menschen, die sich aufeinanderstellen. Die Trolle waren am ganzen Körper behaart und trugen in ihren mächtigen Pranken eine Keule. Damit würden sie das Schwert von Gracchu wegfegen wie einen lästigen Stock. Dann würden sie die beiden Wanderer erschlagen und das Pferd essen. Zuvor jedoch würden sie die Fremden nach Schätzen durchsuchen. Trolle waren habgierig und kannten kein Mitleid.

Dem Krieger war klar, dass er am Endpunkt seines Lebens angekommen war. Er hatte keine Angst vor dem Tod, dazu hatte er ihm zu oft in die Augen gesehen und ihn selbst ausgeteilt. Zwar wäre er gern auf andere Art gestorben, am besten im Kampf, umgeben von gefallenen Gegnern. Aber er hatte seine Verpflichtung gegenüber seinem Herrn nicht eingelöst und diesen seltsamen Willmar vor seinen Thron gebracht. Der Gedanke an sein Versagen beunruhigte ihn. Doch was sollte er tun? Es gab keine Rettung.

Der vordere Troll rülpste und schmatzte, so als freue er sich schon auf die kommende Mahlzeit. Seine Augen waren weit aufgerissen und ganz schwarz. Er tänzelte von einem Bein auf das andere, und sein mächtiges Glied schwang dabei hin und her. Verstohlen sah sich Gracchu um. Der Troll hinter ihnen war ein Weibchen. Unter dem langen Fell schimmerte eine rote Vulva. Die Trollin grinste und fletschte die Zähne. Langsam kamen die Unholde näher.

In diesem Augenblick streckte sich die gebückte Gestalt von Willmar, der bisher dem Schauspiel schweigend zugesehen hatte. Wie vor vielen Nächten schien der alte Mann zu wachsen. Sein Schatten breitete sich aus, und in dem Schatten verschwand alles wie in einem schwarzen Schlund. Seine Schultern hatten sich gestrafft, und den Kopf trug er nun sehr aufrecht. Seine Stimme war klar und durchdringend. Man konnte ihn bis an die beiden Enden des Tals und selbst noch oben auf den Berggipfeln hören, als er sprach: „Geht nach Hause. Wir sind keine Beute für euch. Wir haben in dieser Welt noch einiges zu erledigen und sind noch nicht bereit.“

Aber die Trolle hörten nicht auf den Mann, sondern rückten unaufhaltsam näher. Noch einmal sprach Willmar, und ein Schauer erfasste Gracchu, als er diese Stimme hörte, und er fürchtete sich vor seinem Begleiter mehr als vor den Trollen: „Ich befehle euch, kehrt um! Räumt die Steine beiseite und lasst uns in Frieden ziehen!“

Die beiden Ungeheuer stutzten, blieben kurz stehen und schoben sich dann doch vorwärts. Da dehnte sich der Schatten des Zauberers noch mehr aus, bis über dem ganzen Tal Dunkelheit lag. Er hob die Hand, und es schien, als schwebe sie über dem Tal. Dann senkte sich der Schatten der riesigen Hand langsam auf das Haupt des Trolls und drückte es nach unten. Die Bestie wand sich und schrie schmerzgequält auf. Aber die schattenhafte Hand ließ nicht nach. Sie drückte den Troll zu Boden und presste weiter, bis Blut aus ihm hervorbrach. Dann krachten die Knochen, und der Kopf platzte wie eine reife Frucht. Schließlich lag auf den Steinen eine verstümmelte Fleischmasse.

Die Trollin hatte dem Ende ihres Gefährten mit Entsetzen zugesehen. Sie schrie und weinte und drehte sich wie irre im Kreis. Dann wieder fletschte sie wütend die Zähne und ging auf die beiden Männer los. Doch nach ein paar Schritten bekam sie es mit der Angst zu tun, blieb stehen und wich zurück. Noch immer waren die Wanderer von dem Steinschlag gefangen. Sie konnten mit dem Pferd weder vor noch zurück.

In ruhigem Ton sagte Willmar zu der Trollfrau: „Schaff die Steine weg!“

Sie sah in groß an und konnte nicht verstehen, warum dieser Mann keine Angst vor ihr hatte. Willmar wiederholte gelassen seinen Befehl. Da kam Leben in die Trollin. Sie drückte sich in großem Bogen an den Männern vorbei, stieg vorsichtig über ihren verendeten Gefährten und begann, die Felsbrocken wegzuräumen. Bald war ein schmaler Durchgang frei. Gracchu ergriff mit zitternden Händen die Zügel seines Pferdes und zerrte das widerstrebende Tier an der mächtigen Trollfrau vorbei. Willmar folgte ihm langsam.

Danach schritten sie kräftig aus. Während sich der alte Mann nicht umsah, schaute der Krieger aus den Augenwinkeln zurück. Er konnte es noch immer nicht glauben, dass sie mit dem Leben davongekommen waren. Hinter ihnen stand die Trollin und sah ihren Opfern nach. Ihre Schultern hingen weit nach vorn, und das Fell war grau und zottig. Gracchu wusste nun, warum sein Herr diesen schmächtigen, alten Mann sehen wollte, und seine Ehrfurcht vor der Klugheit Ormors wäre noch größer geworden, wenn sie noch hätte wachsen können.

Centratur II: Die Macht der Zeitenwanderer

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