Читать книгу Centratur II: Die Macht der Zeitenwanderer - Horst Neisser - Страница 8

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Die Hüterin

An diesem Abend kehrten sie in einer Zmànuksai1 ein. So nannten die Zwerge ihre Unterkünfte an ihren Wegen. Schon einmal hatte hier der Zauberer mit der Reisegesellschaft hier übernachtet. Sie zündeten ein Feuer an, aßen und machten es sich behaglich.

„Centratur ist gerade noch einmal gerettet worden“, begann Aramar, nachdem er vorsichtig das Bündel neben sich abgelegt hatte. Ich brauche eure Hilfe und muss euch dazu reinen Wein einschenken.

In Centratur gab es seit Menschengedenken die Könige und den Weißen Rat. Die einen haben geherrscht und die anderen haben betreut. Damit meine ich, dass der Weiße Rat für die Seelen zuständig war. Alle Mitglieder des Weißen Rates waren Zauberer. Aber nicht alle Zauberer auf diesem Kontinent gehörten zum Weißen Rat. Der Zauberkönig Ormor stellte sich von Anfang an gegen unseren Orden. Diese Zauberer wollten beides: die Macht der Könige und die Herrschaft über die Seelen. Sie haben Centratur in entsetzliche Kriege gestürzt. Der letzte ist kaum mehr als fünfzig Jahre vergangen.

Ormor ist wieder so mächtig, dass er Centratur allein mit seiner Zauberkraft erobern könnten. Er bräuchten keine Soldaten, müssten keine Kriege führen, wenn er nur seinen Zauber einsetzen könnte. Die Könige mit ihren Heeren hätten gegen ihn keine Chance.

Damit die Welt aber nicht mit missbrauchter Zauberkraft erobert werden kann, hat der weiße Rat den Schild geschaffen. Er ist ein Zauberfeld, das über Centratur überspannt und verhindert, dass jetzt Ormor seine Zauberkraft weltweit einsetzen kann. Nur weil es den Schild gibt, muss Ormor noch seine Orokòr in den Kampf schicken. Ohne den Schild könnte er darauf verzichten und alles Leben in Centratur wäre ihm ausgeliefert. Der Schild heißt Aquamanu, aber wir vom Weißen Rat nennen ihn nur ‘Das Netz’.

Das Netz wurde bisher getragen von drei Stützpunkten. Sie befinden sich in Nowogoro, und dem Kloster Quantam. Auch der Loron im Rotamin war einer von ihnen. Fällt einer dieser Pfeiler, so bricht der Schild in sich zusammen. Deshalb ließ Ormor den Loron immer wieder angreifen, und deshalb ist auch Nowogoro so gefährdet.“

„Dann ist mit dem Untergang des Loron auch der Untergang Centraturs besiegelt?“ fragte Axylia bitter.

„Zum Glück nicht“, antwortete ihr der Zauberer. „Ich trage hier bei mir die südliche Stütze des Netzes. Solange sich dies hier nicht in den Händen des Feindes befindet, ist noch nichts verloren.“

Mit diesen Worten ergriff er das Bündel und entfernte vorsichtig die Tücher. Zum Vorschein kam eine rote Platte, so groß wie eine Hand und fingerdick. Sie glühte von innen heraus. Auf ihrer Oberfläche war sie mit seltsamen roten Buchstaben beschrieben. Die Kanten waren mit purem Gold eingefasst.

„Hier habt ihr eines der größten Wunderwerke vergangener Zauberkunst. Bisher war es im Loron wohl geborgen. Es war dort sicher bis Willmar kam und die Festung sprengte. Nun ist dieser Pfeiler der Macht, die Weisen nennen ihn Custoraram oder Custo, schutzlos.“

„Ihr werdet ihn behalten, denn bei Euch ist er am sichersten“, warf Feltina ein.

„Das geht nicht. Der Custo muss hier in der Gegend bleiben und ich werde an anderer Stelle dringend benötigt. Dort ziehe ich in große Gefahren und Kämpfe. Wenn ich den Custo mit mir nähme, könnte er in die Hand der Feinde fallen. Ich wäre nie mehr unbefangen, sondern stets ängstlich, ja sogar feige. Nein, der Custo muss hierbleiben und einer von euch muss seine Wache übernehmen.“

„Es steht außer Frage, dass mir diese Aufgabe zufällt“, mischte sich Urial ein. „Ich bin bereits erwählt. Als Zauberer aus Nowogoro werde ich natürlich den Custo übernehmen und bei mir wird er sicher sein. Ihr anderen könnt gehen, wohin es Euch beliebt.“

„Mein Freund, ich werde dich nicht allein lassen“, sagte Axylia. „Gemeinsam haben wir den Custo bisher bewacht und gemeinsam haben wir verloren. Nun sollten wir gemeinsam einen neuen Anfang machen. Wir werden beide die Aufgabe übernehmen.“

Während Urial noch protestierte, sagte Aramar: „Einer allein wird den Häschern Ormors nicht entgehen. Der Zauberkönig wird die Träger des Custo durch das ganze Thaurgebirge hetzen lassen. Sie werden keine ruhige Minute mehr haben und stets in Gefahr sein. Wann immer der eine schläft, muss der andere wachen. Wenn der eine isst, muss der andere die Gegend beobachten. Nur zu zweit habt ihr eine Chance.“

„Zwei schwache Menschen, die kaum ihr eigenes Leben schützen können, sollen die Geschicke eines ganzen Kontinents hüten?“ fragte Axylia leise.

„Es sind nicht zwei Menschen, sondern drei“, sagte Feltina. „Ich werde bei Euch bleiben, und gemeinsam werden wir uns in diesen Bergen verbergen. Nicht nur die großen Helden, die Könige und die Zauberer bestimmen die Geschicke der Welt. Es kann geschehen, dass einfache Leute eine Aufgabe bekommen, die weit über sie hinausweist. Wir sollten dies als eine Auszeichnung, als ein Geschenk sehen, dessen wir uns würdig erweisen müssen. Ich zumindest will es versuchen!“

Alle sahen den Edlen Feltina erstaunt an.

„Das sind großherzige Worte“, gab Aramar zu. „Aber noch weiß ich nicht, wer Ihr seid. Ihr kommt aus Quantam, aber Ihr gehört nicht zu den Mönchen.“

„Ihr sollt alles über mich wissen und ich will mit einem Geständnis beginnen.“

Feltina erzählte nun ohne jede Beschönigung, wie er die Zauberin, Marc, Akandra und die Kinder getroffen hatte. Er verhehlte auch nicht, dass er sie an die Vespucci hatte verraten wolle.2 Dann berichtete er vom Kloster Quantam und was er dort erlebt hatte. Wie er sich verlassen fühlte, als Qumara mit den Erits und den Kindern abzog. Er wollte mitgehen, Quantam verlassen, aber er konnte nicht. Die alten Zauberer hatten ihn völlig in ihrer Gewalt, ohne Hand an ihn zu legen.

Hier unterbrach in Aramar und ließ sich ganz genau alle Vorgänge um die Hohepriesterin aus Rutan und die beiden Erits schildern. Der Edle wusste nicht viel, berichtete aber freimütig.

Aus Quantam erzählte er, dass er sich anfangs trotzig zurückgezogen und mit niemandem geredet hatte. Sogar die Nahrung hatte er ein paar Tage lang verweigert. Mit dem Hunger wuchs aber auch die Langeweile. Schließlich ließ er sich überreden und ging in die Räume der Geschichten. Dort begann er zusammen mit den anderen Mönchen in das Blaue Buch zu schreiben. Zuerst zögernd und unter großer Anstrengung, denn es war sehr schwierig bei allem, was man sah und hörte, mitzuschreiben. Später ging es ihm leichter von der Hand. Er wurde ruhiger. Der Geist von Quantam bekam mehr und mehr Einfluss über ihn. Aber noch immer fühlte er sich als Gefangener und wollte fliehen.

Eines Tages war er eingeteilt worden, die Geschehnisse eines Festessens aufzuzeichnen. Es fand in einer Burg in den Schwarzen Bergen statt. Dort weilte Wersch der Herrscher von Darken zu einem Jagdausflug.

Wersch war ein vierschrötiger Mann mit niederer Stirn und einem plumpen Gesicht. Er lachte oft und dröhnend und gab sich leutselig, stand aber an Grausamkeit seinem Vorgänger nicht nach.

Der Herrscher über Darken war also zu Besuch bei einem seiner Vasallen, dem Edlen Quarrn. Er wollte sich von seiner Niederlage vor Hispoltai erholen. Quarrn hatte eine Treibjagd für seinen Herrn inszeniert. Das bedeutete, man fing die Tiere in Fallen, brachte sie in Käfigen zur Jagdgesellschaft und trieb sie dann dem Herrscher genau vor seinen Spieß. Dieser schlachtete die Böcke gleich zu Dutzenden ab. Dabei wurde seine Laune immer besser. Allen erklärte er, was für ein hervorragender Jäger er doch war, und dass es wohl keinen vergleichbaren in ganz Centratur gäbe. Am Abend folgte dann ein großes Bankett.

Die Herren waren zusammen mit ihren Damen an langen hufeisenförmigen Tischen gesessen, die sich unter der Last der aufgefahrenen Speisen und Getränken bogen. Neben Wersch hatten zwei Vespucci Platz genommen. Unter den Tischen hockten große Hunde, denen man die Knochen, aber auch den einen oder anderen Fleischbrocken zuwarf. Eng an die Wände gedrückt, so dass sie die hin und her eilenden Diener nicht störten, saßen die Armen der Gegend. Ausgemergelte Gestalten, denen man das Leid und den Hunger deutlich ansah. Sie warteten darauf, auch mit Abfällen von der Tafel bedacht zu werden. Dass sie an dem Festmahl teilnehmen durften, ging auf einen Brauch zurück, der schon viele hundert Jahre alt war. Damals regierte in Darken ein gütiger König, der wann immer er aß, auch die Armen einlud. Er wollte sich stets daran erinnern, dass es in seinem Land Menschen gab, denen es nicht so gut ging wie ihm selbst und für die er verantwortlich war. Mit ihnen teilte er sein Mahl. Das Recht, zum Bankett zu erscheinen, war durch die Jahrhunderte geblieben, nicht aber das Teilen der Nahrung. Es war aber ein Gesetz erlassen worden, dass sich keiner von den Bettlern erheben durfte. Verließ einer die gebückte, kriechende Haltung wurde er hinausgeworfen und bekam Stockschläge.

Ab und zu bekamen die Armen etwas ab. Wenn nämlich einer der Herren besonders leutselig war, dann deutete er auf einen der am Boden Sitzenden. Der Mann, die Frau oder das Kind krochen dann zu ihm und bekamen einige Abfälle von seinem Teller zugeworfen. Manchmal wurde aber niemand bestimmtes ausgewählt. Stattdessen warf mein ein Stück Fleisch unter die Hungrigen und ergötzte sich, wenn sie sich um den Bissen balgten.

Wersch war in bester Stimmung und lachte ununterbrochen.

‘Was ist das für ein elendes Gewürm!’ rief er. ‘Schaut sie euch an! Ist es ein Wunder, dass sie nichts haben? In dieser Welt ist alles wohl geordnet. Die Vornehmen und Tüchtigen führen ein Leben, das wert ist gelebt zu werden. Die aber, die es nicht wert sind, den Namen Menschen zu tragen, die den Tieren gleichen, sie darben und werden vom Angesicht der Erde verschwinden. Damit wir aber nicht zu hochmütig werden, müssen wir ihren Anblick ertragen. Aber wenn sie schon unsere Augen beleidigen, so sollen sie uns zumindest ein wenig dafür entschädigen. Ich will Spaß haben und dafür will ich diese Elenden heranziehen. Für ein Spiel brauchen wir dieses Gewürm und meine Hunde.’

Alle jubelten in Vorfreude auf die kommende Belustigung. Wersch ließ die wimmernden Bettler in die Mitte der Tische treiben und ihnen gegenüber die Hundemeute Aufstellung nehmen. Dann warf er eigenhändig Fleischbrocken zwischen Tiere und Menschen. Die Hunde stürzten sich sofort darauf und verschlangen alles, während die Bettler ihnen ängstlich zusahen. Dies war aber nicht im Sinne von Wersch. Deshalb nahmen hinter den Armen Bedienstete des Gastgebers mit Stöcken Aufstellung und als der nächste Fleischbrocken fiel, prügelten sie wahllos auf Männer, Frauen und Kinder ein, bis diese zu den Hunden krochen und sich mit ihnen um die Nahrung balgten. Natürlich bissen die Tiere zu und bald floss Blut. Das Blut wiederum machte die Jagdhunde wild, und es begann ein wildes Gemetzel.

Die Edlen aßen derweil weiter und amüsierten sich. Am lautesten aber meckerten die Vespucci, die sich jedoch auffällig beim Essen und Trinken zurückhielten. Und während allen anderen das Fett aus den Mundwinkeln triefte und der rote Wein rann, feuerten sie kauend und mit vollem Mund sowohl Hunde als auch Menschen an. Endlich war die ungleiche Schlacht geschlagen. Die Hunde leckten sich ihre Lefzen und krochen wieder unter die Tische zu Füßen ihrer Herren.

‘Na, hatte ich nicht recht?’ rief Wersch. ‘Der Ausgang dieses Kampfes zeigt doch, dass die Hunde edler sind, als es diese Jammergestalten waren.’

Diesem Schauspiel habe genau zusehen müssen, erklärte Feltina und auch noch alles aufschreiben. Danach sei er über eine Woche krank gewesen. Er habe sich vor sich selbst und der Welt geekelt. Mit einem Mal sei ihm Quantam wie ein Hort des Friedens inmitten einer schlimmen Welt erschienen. Die alten Zauberer hatten seine Verwandlung erkannt und jeden Zwang von ihm genommen. Schließlich haben sie ihn sogar mit der Botschaft für Aramar beauftragt.

„Die Weisen von Quantam vertrauen dir“, sagte Aramar. „So werden wir dir unser Vertrauen nicht verweigern. Ihr seid nun zu dritt. Aber einer von euch muss den Custo in seine Obhut nehmen, während ihn die anderen dabei unterstützen.“

„Wenn du mit einer Hüterin vorliebnehmen willst, so hast du sie gefunden, Aramar“, sagte Axylia schlicht.

Feltina stellten sich neben sie und sagte ernst: „Ich werde sie begleiten und verteidigen, bis an mein Ende.“

Es war Urial anzusehen, dass ihm die Entwicklung der Dinge nicht recht war. Aber er wusste auch, dass er sie nicht mehr verändern konnte. Dieser Aramar würde ihm den Custo nicht aushändigen. Deshalb erhob auch er sich und sprach: „Mein Zauber, die Gabe, die man mir verliehen hat, wird den Custo und seine Trägerin zu schützen!“

Aramar übergab die goldene Platte an Axylia. Dabei sagte er feierlich: „In deine Hände lege ich das Schicksal von Centratur. Dein Leben ist von nun an bestimmt von der Aufgabe, den Custo zu schützen. Er darf nie und nimmer in die Hände Ormors fallen. Urial und Feltina verpflichten sich, dir beizustehen. Von diesem Moment an hat sich euer Leben verändert. Ihr seid nun ruhelos. Ormor spürt, wo sich der Custo befindet und wird nicht ruhen, bis er ihn in seine Gewalt gebracht hat. Er wird seine Schergen aussenden und ihnen wird jedes Mittel recht sein, um euer habhaft zu werden. Aber ihr werdet nicht allein sein. Der Glaube und die Hoffnung aller Friedliebenden werden bei euch sein und werden euch Kraft geben. Und wenn eure Situation ganz ausweglos ist, und wenn ihr meint, dass es nun keine Rettung mehr gibt, so vertraut darauf, unser aller Gedanken bei euch sind und euch beistehen werden. Ihr seid von nun an ausgezeichnet vor allen Menschen im Schlimmen wie im Guten!“

„Ich gelobe“, antwortete nun die alte Frau und ein schwaches Leuchten umspielte ihren Körper, „dass ich mein Leben dem Schutz des Custo opfern werde. Von nun an habe ich nur noch dieses eine Ziel und diese eine Aufgabe.“

Am nächsten Morgen brach Aramar auf verschlungenen Gebirgswegen nach Süden auf. Er hatte es nun sehr eilig nach Cantrel zurückzukommen. Die Hüter des Custo aber wanderten auf dem Zmànuk nach Norden. Alle gingen großen Gefahren entgegen und zweifelten, ob sie sich je wiedersehen würden.


Mittel-Centratur

Die Stadt Cantrel und das Land Darken

Osten

Die beiden Erits, Marc und Akandra, wurden von den Älteren ausgeschickt, um den König der Rutaner von einer Kette zu befreien, die ihn dem Bann der Vespucci ausliefert. Nur wenn sie ihre Mission erfolgreich beenden kann Centratur aus dem Klammergriff der Vespucci gerettet werden. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit. Unter großen Gefahren und Mühen, die sie nur mit Hilfe der Zauberin Qumara bestehen konnten, haben sie auf ihrem Weg in den Osten Centratur durchquert. In der Wüste Soltai trafen sie auf ein seltsames Gebilde. Es ist eine weiße, runde Mauer ohne jede Öffnung. Als Marc auf sie zu lief, tat sich eine Öffnung auf und der junge Erit verschwand. Seine Begleiterinnen blieben ratlos zurück. (Anm. d. Übersetzers)

Das Mal

Die Sonne stand hoch am Himmel und schien auf eine staubige Wüste. Wohin man auch blickte, das Auge fand keinen Halt. Der rissige, ausgedörrte Boden hob und senkte sich in sanften Wellen, aber sonst war bis zum Horizont nichts zu erkennen. Nur der Ring glänzte im Licht. Kein Laut war zu hören außer dem ewigen Brausen und Pfeifen des Windes. Es war kalt in dieser Wüste.

Marc war schon viele Stunden verschwunden. Qumara, die Hohepriesterin aus Rutan, und die beiden Erits Marc und Akandra sowie die Kinder Sim und Bim, hatten auf ihrem Weg nach Rutan die Wüste Soltai durchqueren müssen. Doch unterwegs war ihnen eine Karawane mit Vespucci entgegengekommen. Um den Feinden nicht zu begegnen, waren sie noch bei Dunkelheit aufgebrochen und hatten sich nach links gehalten, fort vom Wüstenweg, tiefer hinein in die leere, unwegsame Einöde. Kurz nachdem die Sonne aufgegangen war, sahen sie etwas in der Sonne glänzen. Sie waren hinzu geeilt und standen schließlich vor einem seltsamen Gebilde, einer kreisrunden Mauer. Sie war völlig glatt und hatte keine Öffnung. Völlig nutzlos stand sie hier mitten in der Wüste. Obwohl Qumara ihn noch warnte, war Marc sogleich zu dem Bauwerk gelaufen.

‘Es ist wunderschön’, hatte er gerufen.

Die Zauberin mahnte ihn: ‘Dies ist ein heiliger Ort. Bleib sofort stehen!’

Doch Marc hatte den Ring bereits erreicht, eine Tür hatte sich ihm aufgetan und er war eingetreten. Schreckensstarr hatten ihm die beiden Frauen nachgesehen und ihn gerufen. Er hatte noch einmal geantwortet, aber seine Stimme klang schon wie aus weiter Ferne. Danach hatten sie nichts mehr von ihm gehört.

Da standen sie nun und waren hilflos. Der Gefährte war verschwunden, und sie wussten nicht, was sie unternehmen konnten, um ihm zu helfen. Selbst Qumara war ratlos. Irgendwann hatte sich Akandra an die Hörmuscheln erinnert, die sie von den Älteren geschenkt bekommen hatten. Marc trug eine Muschel bei sich und sie auch. Bisher hatten sie die Gabe nicht benötigt. Nun konnte sie vielleicht hilfreich sein. Das Eritmädchen hob die Muschel an ihren Mund und rief mehrmals den Namen ihres Begleiters, aber sie erhielt keine Antwort. Sie hatte die Muschel umsonst quer durch Centratur geschleppt. Wütend warf sie die Gabe in den Sand.

War dies das Ende ihrer langen Reise? Akandra dachte zurück. Jahre schienen ihr seit dem gemeinsamen Aufbruch mit Marc vergangen, und doch waren es nur Monate gewesen. Was hatten die beiden Erits alles erlebt: den Überfall der Orokòr auf Waldmar, der Heimat der Grafentochter, die Verfolgungsjagd durch den Wilden Wald und den Untergang der schwarzen Bestien. Dann waren sie die lange Treppe in die Unterwelt in völliger Dunkelheit hinuntergestiegen. Die Älteren hatten ihnen den Auftrag erteilt, nach Rutan zu gehen und dem König die Kette abzunehmen, die ihn mit ihrem Zauberbann an die Vespucci auslieferte. Es gab nämlich eine Verheißung:

Wenn die Zeit erfüllt ist,

werden kommen

Kleine Leute

und werden

dem König

die Kette abnehmen.

Nur wenn es gelang, die Rutaner zu befreien, konnte die Eroberung der Welt durch die Vespucci aufgehalten werden. Die Rutaner waren nämlich die Gegenmacht zu den glatzköpfigen Gnomen. Nur sie konnten das seltsame Volk, das alles Natürliche hasste, in Schach halten. Wäre ihr König befreit, würden die Rutaner die Vespucci angreifen, diese müssten ihre Agenten aus Centratur zurückrufen und könnten den Zauberkönig Ormor nicht länger unterstützen. Nur so war der Kontinent zu retten.

Auf ihrer langen Wanderung in den Osten war ihnen Qumara, die Hohepriesterin aus Rutan, begegnet. Sie wurde zu ihrer Führerin durch alle Gefahren. Irgendwann waren dann auch die seltsamen Kinder zu ihnen gestoßen, die allein durch die Welt streiften. Sim und Bim mochten kaum älter als sechs Jahre sein, und dennoch drohte ihnen keine Gefahr. Sie konnten zaubern und ein unsichtbarer Schutz lag über ihnen. Über ihrer Herkunft lag jedoch ein Rätsel.

Wenn Marc verschwunden blieb, war nur noch Akandra übrig. Das Mädchen fragte sich, ob es wohl allein die Verheißung erfüllen könnte.

Der Tag verging langsam und die Kinder waren verschwunden. Sie hatten irgendwo in der Einöde etwas für sie Interessantes entdeckt und sich dorthin auf den Weg gemacht. Sim und Bim schienen sich nie zu langweilen. Von Marc gab es noch immer kein Lebenszeichen. Dafür rückte die Sklavenkarawane näher. Am frühen Nachmittag hing die Staubwolke drohend vor ihnen am Wüstenhimmel. Das Herz schlug Akandra bis zum Hals. Sie hatte Angst. Der Feind war zum Greifen nahe, aber sie konnten nicht fliehen.

„Sie werden uns entdecken?“ sagte das Mädchen besorgt. „Hier ist alles so flach, und wir sind völlig ungeschützt.“

„Sei unbesorgt“, antwortete die Priesterin, obgleich ihr selbst unwohl war, „wir setzen uns auf die Erde. Aus einiger Entfernung sind wir nicht zu erkennen. Außerdem wird es keiner wagen, sich diesem geheimnisvollen Ort ohne Not zu nähern.“

Am späten Nachmittag war die Sklavenkarawane auf gleicher Höhe mit ihnen. Sie hatten sich vorsichtshalber flach hingelegt, damit man sie auf keinen Fall bemerkte. Akandra hoffte nur, dass die Kinder nicht ausgerechnet jetzt zurückkehrten und sie verrieten.

Zum Schrecken von Qumara und Akandra teilte sich auf einmal die Staubwolke. Während die Karawane auf der Wüstenstraße weiter zog, bogen fünf Reiter ab und hielten auf den Steinkreis zu, den die Zauberin ‘das Mal’ nannte. Akandra blieb fast das Herz stehen. Sie stieß Qumara mit dem Ellenbogen an, die beobachtete aufmerksam die Gegend. Noch waren die Pferde weit entfernt, aber sie kamen rasch näher. Nun konnten sie auch erkennen, was das Ziel der Reiter war. Eine Gestalt lief vor den Verfolgern davon.

„Das ist ein Sklave, der fliehen will“, bemerkte Qumara ruhig. „Er hat sich weggeschlichen und will sich hier bei dem Mal in Sicherheit bringen. Er glaubt wahrscheinlich, sie würden ihm bis hierher nicht folgen. Aber die Aufseher haben sein Verschwinden entdeckt und nun gibt es einen Wettlauf, den er sicher verlieren wird.“

„Können wir ihm helfen?“

„Nicht ohne sie auf uns aufmerksam zu machen.“

Der Abstand zwischen dem Fliehenden und seinen Jägern schmolz mehr und mehr zusammen. Reiter und Läufer waren den Beobachtern nun schon so nahe, dass sie Einzelheiten sehen konnten. Es war deutlich, dass der Flüchtling taumelte. Er war am Ende seiner Kräfte. Gleich würde dieses grausame Spiel sein Ende finden.

„Ich möchte nicht in seiner Haut stecken“, murmelte die Grafentochter.

Da geschah etwas Unerwartetes. Zwei kleine Gestalten tauchten auf und stellten sich den Jägern entgegen.

„Das sind Sim und Bim!“ rief Akandra aus. „Sie sind verrückt! Zwei Kinder stellen sich fünf Kriegern entgegen. Sie werden umkommen und zu allem Überfluss die Meute auch noch zu uns lenken.“

„Den Kindern wird nichts geschehen“, antwortete Qumara. „Aber sie werden in der Tat die Vespucci auf uns aufmerksam machen.“

Vor den kleinen Gestalten scheuten die mächtigen Pferde. Zwei der Reiter wurden abgeworfen. Die anderen ritten zurück, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Die beiden Frauen konnten nicht erkennen, welchen Zauber die Kinder angewendet hatten, aber er musste recht wirksam gewesen sein. Sim und Bim nahmen den taumelnden Flüchtling in ihre Mitte und führten ihn zu dem glänzenden Mal. Die Karawane hatte inzwischen Halt gemacht. Man beriet dort, wie weiter verfahren werden sollte.

Als die Kinder mit ihrem Schützling näher kamen wurde deutlich, dass es sich um eine Frau handelte. Ihr Kleid war zerrissen und um ihre Füße waren blutige Lappen gewickelt. Das Haar war lang und schwarz. Sie mochte kaum älter als zwanzig Jahre sein. Sie schwankte und schien in der prallen Sonne einer Ohnmacht nahe zu sein. Qumara sprang auf und lief zu ihr, um sie zu stützen. Dann bettete sie die Hilflose in die Mulde, flößte ihr ein wenig Wasser in den Mund und bat Akandra, sich so in die Sonne zu setzen, dass sie mit ihrem Körper zumindest dem Kopf der Sklavin Schatten spendete.

Sim und Bim waren sehr stolz auf ihre Rettungsaktion und wollten gelobt werden. Aufgeregt erzählten sie, dass sie vor die Hufe der Verfolger das Bild eines mächtigen Wüstenwurms gezaubert hatten. Die Tiere scheuten vor diesem Ungeheuer und die Reiter seien umgekehrt. Auch die abgeworfenen Reiter seien gerannt, was das Zeug hielt. Das sei lustig gewesen. Große Leute seien doch dumm, verkündeten sie. Die Männer hätten doch erkennen müssen, dass die Schlange nicht echt, sondern nur ein Abbild war.

Qumara lächelte. Diese Kinder hatten das Richtige getan. Sie hatten die Verfolger vertrieben, ohne sie alle zu verraten. Und wieder einmal dachte sie darüber nach, wer wohl die Eltern dieser außergewöhnlichen Kinder seien. Sim und Bim konnten besser zaubern als die meisten Zauberer in Centratur, obgleich sie noch so jung waren. Außerdem waren sie nett und klug und hatten einen untrüglichen Instinkt für Gefahren.

In der Sklavenkarawane schien man inzwischen zu einem Ergebnis gekommen zu sein. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung, ohne dass noch einmal Reiter ausgeschickt wurden. Man ging scheinbar davon aus, dass die Sklavin von der Wüstenschlange getötet worden war und wollte keine weiteren Leben mehr riskieren. Bald war der Zug der Vespucci nur noch eine Staubwolke am Horizont. Akandra und Qumara atmeten auf. Diese Gefahr lag hinter ihnen. Aber noch immer hatten sie kein Lebenszeichen von Marc.

Die entflohene Sklavin lag zu Tode erschöpft und ohnmächtig auf dem Boden. Qumara wickelte ihr vorsichtig die Fußlappen ab und verband die wunden Füße. Dann träufelte sie der Ohnmächtigen ein paar Tropfen aus einem Fläschchen in den Mund, das sie in ihrem Gepäck mit sich trug. Daraufhin fiel die arme Frau in einen tiefen, erholsamen Schlaf. Die Zauberin und das Mädchen setzten sich wieder auf die harte, ausgetrocknete Erde und zogen ihre Mäntel fest um sich. Sobald die Sonne verschwunden war, wurde es kalt. Die Kinder hatten sich davongemacht. Niemand wusste, wohin sie gingen, und was für sie in dieser Einöde so interessant war. Sie hatten keine Angst vor der Dunkelheit und stets ausgefallene Ideen. Um sie machte sich Qumara keine Sorgen. Ihnen würde nichts geschehen. Außer Ormor selbst konnte niemand in Centratur ihnen etwas anhaben.

Akandra dachte über Marc nach. Sie fragte sich, ob er wohl noch am Leben war. Vielleicht war es besser, nicht auf ihn zu warten? Sie könnten auch vorausgehen und ihm eine Botschaft hinterlassen, dass er ihnen folgen solle. Obwohl sie es sich nicht eingestehen wollte, war die junge Gräfin ärgerlich, dass Marc solche Schwierigkeiten machte. Etwas gereizt fragte sie Qumara: „Was weißt du über diesen seltsamen Mauerring? Wir müssen doch etwas unternehmen!“

Die Zauberin begann von den Steinringen in der Welt zu sprechen, die sie einmal Mal und dann wieder Tabu nannte. Sie erklärte, Tabus seien heilige Orte. Diese Orte habe es schon immer gegeben, aber man habe sie erst nach und nach entdeckt.

Wie man Tabus erkennen könne, wollte Akandra wissen.

Es seien Orte, an denen seltsame Dinge vor sich gingen, war die Antwort. So manch einer würden dort krank, andere gesund. Es könnten dort auch Wunder geschehen. Am deutlichsten erkenne man ein Tabu daran, dass sich der Geist der Besucher dieser heiligen Stätten weite. Die Lage dieser Plätze sei von Generation zu Generation überliefert worden. Manche Völker seien ihnen scheu aus dem Weg gegangen, habe einen Bogen um sie gemacht. Die Angst vor dem Göttlichen habe das Handeln der Leute bestimmt. Andere wiederum hätten bewusst in ihrer Nähe gesiedelt. Später habe man die Tabus gekennzeichnet, zuerst mit besonderen Steinen oder Pflanzen, dann seien dort Bauwerke errichtet worden. So ein Bauwerk nannte man Mal. An manchen Malen wurde Gericht gehalten oder gar Verbrecher hingerichtet, über andere baute man Tempel. Es gab aber auch Male, denen man sich nicht einmal nähern durfte. So ein Mal oder besser Tabu liege vor ihnen. Jeder der am Rand der Wüste wohne, wisse von diesem Bauwerk. Selbst die Vespucci machten ein Bogen darum. Das ungeschriebene Gesetz laute, niemand dürfe den Kreis betreten und die Mauer berühren. Bis heute sei nicht bekannt, was sich im Innern dieser runden Mauer befinde.

„Seit wann gibt es dieses Mal?“ fragte das Mädchen.

„Ich glaube, das weiß niemand. Als der Wasserspiegel des Sees, der hier ursprünglich war, sank, tauchte aus den Fluten dieser wundersam glänzende Ring auf. Es gab damals Leute, die behaupteten, der See sei nicht durch die Schuld der Vespucci ausgetrocknet, sondern weil das Mal ans Tageslicht wollte.“

„Hat es denn keinen Namen?“

„Jedes Volk hat sich eine andere Bezeichnung ausgedacht. Die einen sagten Wirodenowanna und die anderen Pulmon. Aber keine dieser Worte hat sich durchgesetzt. Heute nennen alle dieses Mal nur noch scheu den Ring.“

„Was ist dieser Ring deiner Meinung nach, Qumara?“

„Ich weiß es nicht. Es gibt viele Male in der Welt, aber die meisten sind nicht so eindrucksvoll wie dieses hier. Aber alle haben sie eine seltsame Kraft.

Ich will dir ein Beispiel geben, das ich selbst erlebt habe. Es war vor ein paar Jahren in einem Dorf weit von hier. Ein Mann wurde angeklagt, Schafe gestohlen zu haben. Er leugnete dies. Also unterwarf man ihn einem Gottesurteil. Man verurteilte ihn, die Nacht im Mal zu verbringen. Dieses Mal war nur ein einfacher Steinkreis. Er wurde hingeführt und trat in den Kreis. Man sah, dass er Angst hatte, und dies nur sehr widerstrebend tat. Dann verließen sie ihn und stellten keine Wachen auf. Dennoch blieb der Mann in dem Steinkreis. Am nächsten Morgen war er tot, und alle wussten, die Gottheit hatte gesprochen.“

„Aber das lässt sich doch auch anders erklären. Der Mann wusste, dass er schuldig war und ist an seiner eigenen Angst gestorben.“

„Das ist schon möglich. Die Dorfbewohner waren anderer Meinung.“

Akandra betrachtete nun den Ring mit anderen Augen. Kalt und unnahbar, aber auch wunderschön lag er vor ihr im Mondlicht. Dort war Marc. Was mochte mit ihm vorgehen? Was würde er gerade erleben? Würde es ihm genauso ergehen, wie dem Mann im Steinring, von dem Qumara erzählt hatte?

„An diesen Stätten sind Kräfte konzentriert“, fuhr Qumara fort, „denen selbst Vespucci besser aus dem Weg gehen. Man weiß nie, was geschieht, wenn man in die Sphäre der ganz Anderen eindringt.“

„Was ist, wenn Marc nicht wieder herauskommt ... wie lange werden wir warten.“

„Er wird wiederkommen!“ sagte Qumara bestimmt.

Irgendwann in der Nacht kamen die Kinder zurück. Alle legten sich auf die harte Erde zum Schlafen nieder. Es war ungemütlich, denn der Wind blies durch Kleider und Decken, dennoch waren alle bald eingeschlafen. Nur Qumara ließ sich nicht in tiefen Schlummer fallen, sondern hielt selbst mit geschlossenen Augen noch Wache, so wie sie es immer tat.

Nach einer ruhigen Nacht erwachten sie mit steifen, schmerzenden Gliedern. Da sie nicht wussten, wann sie ihre Wasservorräte wieder ergänzen konnten, bekam jeder nur einen Becher voll. Das Wasser schmeckte köstlich in ihren trockenen Mündern und tat den geschwollenen Zungen wohl. Dann aßen sie ein wenig und warteten weiter.

Die geflohene Sklavin begann sich zu rühren. Sie hatte die ganze Zeit wie eine Tote geschlafen. Nun reckte sie sich und öffnete die Augen. Als sie die fremden Gesichter erblickte, die sich über sie beugten, stieß sie einen Schrei aus und hob ihre Arme schützend vor das Gesicht. Akandra und die Zauberin redeten beruhigend auf sie ein, bis sich ihr Körper entkrampfte und sie sich langsam aufrichtete. Man reichte ihr etwas Nahrung, die sie mit beiden Händen nahm und gierig verschlang. Obwohl sie noch jung war, sah ihr Gesicht abgehärmt und faltig aus. Die Hände waren schwielig und die Farbe ihres Haares stumpf.

Qumara fragte, wer sie sei und woher sie komme. Nachdem die Frau gesättigt war, lehnte sie sich zurück und erzählte ihre Geschichte.

Sie komme aus Luran, erklärte sie, sei aber schon als junges Mädchen von den Vespucci verschleppt worden. Nicht von den Gnomen selbst, fügte sie sogleich hinzu, die würden nie selbst Hand anlegen, sondern stets ihre Schergen schicken. Es gäbe genügend Leute in der Welt, die für Geld zu allem bereit seien.

Eines Tages sei eine Meute schwer bewaffneter Männer in ihr Dorf gekommen, hätten den Dorfältesten in ihre Gewalt gebracht und ihm erklärt, sie würden jeden Bewohner töten, wenn man ihnen nicht fünfzehn Kinder ausliefere. Ihre Herren, die Vespucci, benötigten Kinder als neue Arbeitskräfte in ihren Anbaugebieten. Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, zündeten die Strauchdiebe ein Haus nach dem anderen an.

„Wegen ihrer armseligen Hütten haben sie ihre Kinder geopfert?“ dachte Akandra empört.

Als die Fremden auch noch drohten, einen Einwohner nach dem anderen umzubringen, hielten die Dörfler eine Beratung ab und entschlossen sich schweren Herzens, ihre Kinder, die älter als zehn Jahre waren, abzuliefern. Lomani, so hieß die entflohene Sklavin, war darunter. Der Abschied von den Eltern war bitter gewesen und Lomani hatte auf dem ganzen Weg in das fremde Land geweint.

Dort hatte man die Kinder auf die Felder getrieben. Sie mussten bei Sonne und Regen jäten, pflanzen und ernten. Es gab wenig zu essen, dafür umso mehr Schläge. Bewacht und zur Arbeit angehalten wurden sie von Männern und Frauen, die im Sold der Vespucci standen. Die Kinder bekamen die Kahlköpfe selbst nie zu Gesicht. Als Lomani fünfzehn Jahre alt war, wurde sie zur Aufseherin gerufen. Die teilte ihr mit, dass man einen Mann für sie ausgesucht habe, mit dem sie am nächsten Tag vermählt werde.

Das Mädchen war die ganze Nacht wach gelegen und hatte sich vor dem Morgengrauen gefürchtet. Sie wollte nicht heiraten. Männer machten ihr Angst. Doch in einem Lager der Vespucci gibt es keinen Widerspruch. Am nächsten Tag kamen ein paar ältere Frauen. Die bürsteten ihre zerrissenen Kleider, wuschen das mit Tränen überströmte Gesicht und setzten dem Mädchen einen Blumenkranz ins Haar. Dann wurde Lomani zum Verwaltungshaus geführt und dort sah sie ihren Mann. Er war ein wenig älter als sie, hatte starke Arme und einen schmalen Mund. Die Trauungszeremonie war kurz. Die Vorsteherin sagte nur, sie beide gehörten ab jetzt zusammen und sollten viele Kinder in die Welt setzen. Die Plantagen der Vespucci bräuchten Arbeitskräfte. Dann bekamen beide eine Extraration Essen und einen gemeinsamen Schlafplatz in einer der Hütten. An die folgende Nacht hatte Lomani schlimme Erinnerungen.

Bald darauf wurde sie schwanger, und als sich ihr Bauch rundete, durfte sie die schweren Arbeiten meiden und wurde in der Gemeinschaftsküche beschäftigt. Die Geburt dauerte zwei Tage. Das Kind kam tot zur Welt. Danach musste sie wieder das Lager mit dem Mann, der so schmale Lippen hatte, teilen. Es dauerte nicht lange und sie war erneut in guter Hoffnung. Diesmal gebar sie ein gesundes Mädchen. Es war ihre ganze Freude. Das Kind gedieh prächtig und sie kümmerte sich so gut es ging um die Tochter, obwohl sie bald wieder auf die Felder zum Arbeiten geschickt wurde. Sie lieferte das Kind nicht in der Krippe des Lagers ab, sondern nahm es mit aufs Feld. Sie hatte sich angewöhnt, den Säugling auf den Feldrain zu legen, damit sie stets nach ihm sehen konnte. Dafür steckte sie so manche Schläge ein. Mutter und Tochter wurden unzertrennlich und in der Nacht schliefen die beiden ganz eng aneinandergepresst, und der Mann mit den schmalen Lippen griff nur noch ganz selten nach Lomani.

Als das Kind fünf Jahre alt war, kamen die Aufseherin und zwei Männer und holten es von der Mutter weg. Es war verkauft worden. Diesmal weinte Lomani nicht. Sie hatte keine Tränen mehr. Sie wurde schwermütig und ließ trotz der harten Strafen bei der Arbeit nach. Sie aß nicht mehr und magerte ab. In diesem Zustand hatten die Vespucci an ihr zu wenig Gewinn. Deshalb beschloss man, die junge Frau auf den Sklavenmarkt zu bringen, solange man ihr das Leiden noch nicht auf den ersten Blick ansah.

Eine Karawane nach Wunsiel wurde zusammengestellt und Lomani sollte mit ihr auf die Reise gehen. Darüber war sie froh, denn sie hoffte, ihre Tochter wieder zu sehen. Doch wie groß war ihre Enttäuschung, als sie unterwegs erfuhr, dass es nicht nach Süden, sondern nach Norden, nach Blutschah, ging. Von einem Sklaven, der neben ihr lief hatte sie von dem geheimnisvollen Ring in der Wüste erfahren. In ihrer Verzweiflung wollte sie sich dorthin retten. Ihr Plan war, sich nach Süden durchzuschlagen, wenn sie erst den Aufsehern der Karawane entkommen war. Eine innere Stimme sagte ihr, dass dort ihr Kind auf sie wartet. Bei einer Rast kroch sie davon, doch wurde ihr Verschwinden allzu bald bemerkt. Dies war die Geschichte ihres Lebens.

Qumara nahm die Sklavin wortlos in die Arme. Die Frau weinte bitterlich. Später berieten alle gemeinsam, was es mit Lomani weitergehen sollte. Sie wollte unbedingt zu ihrer Tochter und vermutete sie noch immer im Süden. Die Zauberin und Akandra mussten aber nach Osten. Ihre Wege würden sich deshalb bald wieder trennen. Doch erst einmal musste sich das Schicksal von Marc klären.

„Ich fürchte, unser Freund wird nicht wiederkommen. Wir müssen ohne ihn aufbrechen“, drängt Akandra. „Wenn er auftaucht, kann er uns ja folgen.“

„Wir bleiben, bis wir die Botschaft des Rings kennen“, Qumaras Stimme duldete keinen Widerspruch.

Lomani wollte nicht mehr warten und erklärte, sie müsse nun aufbrechen, denn sie höre ihr Kind nach ihr rufen. Es sei in Not und brauche die Hilfe seiner Mutter, deshalb dürfe sie nicht länger zögern.

Qumara riet ihr zur Vorsicht. Auf keinen Fall dürfe sie den Vespucci und ihren Schergen in die Hände fallen. Deshalb solle sie bei Nacht wandern und andere Reisenden, die sie unterwegs treffe, meiden.

Die Sklavin nickte, aber es war ihr anzusehen, dass sie mit ihren Gedanken längst bei ihrem Kind war, und Akandra zweifelte, ob sie sich an den wohlgemeinten Rat halten werde. Die Zauberin gab von den Vorräten und füllte für die Frau auch einen Lederbeutel mit kostbarem Wasser. Dann umarmte Lomani ihre Retterinnen und machte sich auf den Weg in die untergehende Sonne hinein.

Akandra und Qumara aber bereiteten sich zusammen mit den zurückgekehrten Kindern auf eine weitere kalte Nacht in der Wüste vor.

Endlich am dritten Tag, es war noch früh am Morgen, öffnet sich plötzlich das glänzende Rund und Marc trat heraus. Dies geschah völlig lautlos und die Frauen bemerkten ihn zuerst nicht, denn sie waren in ein Gespräch vertieft. Aber als sie ihren Begleiter erblickte, schrie Akandra überrascht und erschreckt auf. Marc blinzelte in die Sonne, so als habe er geschlafen, schien aber unverändert zu sein. Qumara blieb sitzen und betrachtete ihn kritisch. Die Kinder und das Mädchen hingegen liefen zu ihm und bestürmten ihn mit Fragen. Aber Marc schüttelte nur verträumt den Kopf. Er konnte sich an nichts mehr erinnern. Er wusste nur noch, dass ihn etwas ganz stark gedrängt hatte, zu dem Mal zu laufen. Eine Tür hatte sich vor ihm geöffnet, und er war eingetreten. Was danach kam, hat er vergessen.

Inzwischen war auch Qumara hinzugetreten und sagte: „Es wundert mich nicht, dass du dich nicht erinnern kannst. Du hast ein Geheimnis gesehen, das Sterblichen verborgen bleiben muss. Marc, obwohl du auf der anderen Seite gewesen bist, werden wir nie wissen, was sich hinter diesen glänzenden Mauern verbirgt.“

„Aber Marc, du musst dich doch erinnern“, rief Akandra wütend. „So strenge dich doch an.“

Die Kinder tanzen um den jungen Erit und sangen fröhlich. „Er ist anders, er ist anders!“

Aufmerksam verfolgte Qumara das Verhalten von Sim und Bim. misstrauisch untersuchte sie daraufhin Marc von Kopf bis Fuß. Doch sie fand nichts Seltsames an ihm, keine Veränderung.

Da sie schon viel Zeit verloren hatten, brachen sie alsbald auf und kehrten auf den Wüstenpfad zurück, den sie aus Furcht vor der Karawane verlassen hatten. Sie waren nun die einzigen Lebewesen weit und breit.

„Am dringendsten brauchen wir Wasser“, sagte die Zauberin. „Etwa eine Tagesreise von hier ist ein verlassenes Gebäude mit einer Quelle. Wir wollen hoffen, dass sie nicht ausgetrocknet ist.“

Der Wischu

Die Sonne brannte noch immer heiß auf sie herab. Die Kinder hatten sich Sonnenschirme gezaubert, mit dem sie viel Unsinn trieben. Akandra stöhnten unter der Hitze. Zudem war das Wasser rationiert, so dass ihnen die Zunge am Gaumen klebte.

Qumara wollte die Wanderung verkürzen und ihre Begleiter ablenken deshalb begann sie mit einer Geschichte.

„Das, was uns Lomani berichtet hat, erinnert mich an eine Geschichte, die ich irgendwo gehört habe.“

Weiter kam sie nicht, denn Marc fragte sofort, wer denn Lomani sei. Sie mussten ihm erst einmal berichten, was sich während seiner Abwesenheit im Mal zugetragen hatte. Verwirrt schüttelte er den Kopf. Er konnte noch immer nicht begreifen, dass er so viele Tag in diesem steinernen Ring verbracht haben sollte.

Dann fuhr Qumara fort: „Wenn ihr nach Süden reist, immer weiter nach Süden, wird es zuerst warm und schließlich kälter und kälter. Schließlich kommt ihr in eine Gegend, wo es so kalt ist, dass dort im Meer große Berge schwimmen, die ganz aus Eis sind. In so einem Eisberg lebte Crix, ein Wischu. Ich glaube, es gibt heute keine Wischus mehr, und Crix war einer der letzten von ihnen. Er hatte sich den Eisberg zu einem Schloss ausgebaut. Seine Behausung war wunderschön, denn alle Räume waren von Licht durchflutet, aber auch sehr kalt. Nun muss man wissen, dass es dort im tiefen Süden ein halbes Jahr lang Nacht ist und ein halbes Jahr lang geht die Sonne nicht unter. Wenn es hell war, schlief Crix nie und in der Dunkelheit immer. Die Kälte machte ihm nichts aus, denn er war am ganzen Körper behaart.

Crix war sehr gefährlich. Er lauerte Schiffen auf, die sich in die kalten Gewässer verirrt hatten, raubte sie aus und nahm die Besatzungen gefangen. Die Leute mussten ihm in seinem Eisschloss dienen, bis sie starben, und dies ging rasch, denn die Kälte hielt niemand lange aus. Eines Tages strandeten an seinem Eisberg Schiffbrüchige. Sie hatten sich beim Untergang ihres Bootes auf ein Floß gerettet und waren damit durch die eisigen Fluten getrieben. Halbtot erreichten sie das Schloss. Der Wischu freute sich, dass die Leute direkt zu ihm kamen. So brauchte er nicht aufs Meer hinauszufahren und Schiffe kapern, um neue Diener zu bekommen. Es waren drei Männer und zwei Frauen, die das Schicksal in sein Reich geführt hatte.

Zuerst war er noch freundlich zu seinen Gästen. Er bemühte sich sogar, dass sie wieder zu Kräften kamen. Crix hatte nämlich aus seinen Fehlern in der Vergangenheit gelernt und wollte nicht, dass ihm seine Beute sogleich wieder wegstarb.“

„Bei uns waren auch einmal Schiffbrüchige“, unterbrach Bim die Zauberin. „auch Männer und Frauen.“

„Wann war das denn?“ fragte Qumara.

„Oh, das ist noch gar nicht so lange her“, mischte sich nun auch Sim ein. „Kurz bevor wir aufgebrochen sind.“

„Also, Crix pflegte die Schiffbrüchigen...“, fuhr die Zauberin fort.

„Und verliebte sich in eine der Frauen, wie es in kindischen Märchen immer der Fall ist“, warf Akandra lächelnd ein.

„Nein, der Wischu verliebte sich nicht und schon gar nicht in eine Menschenfrau. Aber, wenn du schon Liebe in der Geschichte haben willst, sollten wir lieber den Spieß umdrehen, und eine der gefangenen Frauen sich in den Herrn des Eisbergs verlieben lassen. Es kommt nämlich häufiger vor, dass sich die Wehrlosen in ihr Bezwinger verlieben als umgekehrt. Aber auch dies war in meiner Geschichte nicht der Fall.

Doch es geschah etwas Unerwartetes. Die südlichen Königreiche schlossen sich nämlich zusammen und schickten eine Flotte, um den Wischnu in seinem Eispalast auszuräuchern. Sie wollten das Eismeer wieder sicher machen, und die ewigen Überfälle auf ihre Fischerboote und Handelsschiffe abstellen. Die Menschen aber, die nichts vom dem üblen Treiben ihres Retters wussten und nur seine Pflege erfahren hatten, stellten sich auf seine Seite, um ihm gegen die vermeintlich ungerechten Angriffe beizustehen.“

„Mit unseren Schiffbrüchigen kam es auch zum Kampf“, ließ sich Bim wieder verlauten.

„Das musst du mir erzählen“, sagte Qumara freundlich.

„Ich will die Geschichte weiter hören“, beklagte sich Sim über die Unterbrechungen.

Deshalb fuhr die Zauberin sogleich fort: „Crix kämpfte wie ein Besessener und die Menschen halfen ihm. Außerdem war der Eisberg so kunstreich angelegt, dass die Flotte schließlich unverrichteter Dinge wieder abziehen musste. Nach dem Sieg aber zeigte der Wischu wenig Dankbarkeit, sondern machte die Gefangenen zu seinen Sklaven, wie es eben so seine Art war.“

„Das kann ich mir nicht vorstellen, dass man so undankbar sein kann“, mischte sich nun Marc ein.

„Was kümmerten Crix irgendwelche Menschen? Er brauchte Diener, das war für ihn wichtig. Deshalb hatte er die Schiffbrüchigen gepflegt und am Leben gelassen. Nun aber sollten sie ihrer Bestimmung gemäß ihm zu Diensten sein. Das ging nicht lange gut, denn auch diese Gefangenen starben bis auf eine Frau. Sie gebar Crix zwei Kinder. Diese Kinder waren halb Mensch halb Wischu, aber die Frau liebte sie trotzdem.“

„Hat sie Crix geliebt?“ fragte Akandra.

„Das weiß ich nicht. Über die Gefühle der Frau ist nichts überliefert. Aber sie wird nicht glücklich gewesen sein, denn sonst wäre sie nicht geflohen, als die Flotte nach Jahren wiederkehrte zu einem erneuten Versuch, dem Wischu das Handwerk zu legen. Auch dieser Angriff misslang, aber die Frau wurde gerettet. Ihre Kinder musste sie allerdings zurücklassen. Was glaubt ihr nun, wie die Geschichte ausgeht?“

Sofort antwortete Akandra: „Sie ist wegen der Kinder zu diesem Crix zurückgekehrt und hat sich ihm erneut unterwerfen. Ihr Mutterherz hat sie dazu gezwungen. In Märchen spielen wir Frauen stets eine dämliche Rolle.“

„Was meint ihr?“ fragte Qumara die anderen.

„Sie wird ihre Kinder nicht im Stich lassen“, erwiderte Marc bestimmt. „Das weiß ich von meiner Mutter.“

Sim und Bim aber lachten nur.

„Ich will euch nun nicht länger auf die Folter spannen. Die Frau ist tatsächlich zum Palast im Eisberg zurückgefahren. Aber sie kam nicht allein. Zuvor hatte sie viele Städte und Schlösser besucht und die Verantwortlichen überredet, noch einmal den Versuch zu wagen, den Wischu zu vernichten. Sie hatte auch Erfolg. Eine neue Flotte wurde zusammengestellt, und unter ihrer Führung, sie kannte schließlich den Palast in und auswendig, gelang es, Crix zu töten. Nun konnte die Mutter endlich wieder ihre Kinder in die Arme schließen. Gemeinsam bestiegen sie ein Schiff, das sie zurück zu den Menschen brachte.

Das wäre ein guter Schluss für eine Geschichte. Aber das Leben ist nicht so freundlich wie es die Märchenerzähler darstellen. Die Überlieferung berichtet nämlich, dass die beiden Kinder krank wurden. Sie waren eben halbe Wischus und konnten deshalb nur in der Kälte leben. So sehr die Mutter sie auch pflegte, sie starben. Die Frau war verzweifelt und machte sich große Vorwürfe. Sie war wie von Sinnen, und niemand konnte sie trösten. Irgendwann ließ sie sich von einem Fischerboot zum Eispalast bringen und dort soll sie noch heute ganz allein leben.“

Der verlorene Hof

Bei dieser und ähnlichen Geschichten verging die Zeit rasch trotz der Schwierigkeiten des Weges. Zwei Tage später sahen sie schon von weitem die Ruinen des Verlorenen Hofes. Am Vorabend hatten sie den letzten Tropfen Wasser getrunken und waren sehr durstig. Die grauen Schatten des Gemäuers kamen jedoch nur langsam näher. Doch trotz ihres Durstes ließ sie Qumara in einigem Abstand von dem Gehöft warten und ging voraus, um die Lage zu erkunden. Selbst hier in der Einöde legte sie ihre Vorsicht nicht ab. Nach zwei Stunden kam sie zurück und erklärte, es sei alles friedlich und menschenleer. Auch führe der Brunnen noch Wasser. Nun gab es kein Halten mehr. Sie rannten, so schnell sie noch konnten, zu dieser Oase in der Wüste. Selbst die Kinder, die sich unterwegs die köstlichsten Getränke herbeigezaubert hatten, und von Marc und Akandra sehr beneidet worden waren, stürmten zum Verlorenen Hof, so als koste es ihr Leben.

Die beiden Erits tranken sich satt, bevor sie sich umsahen. Sie hatten nur Augen für den Brunnen auf dem Hof. Er war ein tief und überdacht und mit einer langen Kette, an der ein Holzeimer hing. Sein Wasser war trüb, schmeckte aber köstlich. Jeder bekam so viel, wie er wollte. Der Hof selbst war von eingefallenen Mauern umgeben, die den Wüstenwind abhielten.

„War dies einmal ein Bauernhof?“ wollte Marc zufrieden von ihrer Führerin wissen.

„Nein, der Name ‘Verlorener Hof’ ist falsch. Hier war früher die Grenze Centraturs und dies die Grenzstation. Sie hieß Warcust. Alle, die aus dem Osten kamen wurden hier kontrolliert und mussten für ihre Waren Wegezoll bezahlen.“

„Wer unterhielt diese Grenzstation? Man hat uns gesagt, dass nur wenige Leute bisher in den Osten gezogen sind, und so gut wie niemand zurückkam.“

„Für den größten Teil Centraturs mag das zutreffen. Aber hier in den Grenzlanden hatte man schon Verbindungen in den Osten. Man wusste von den machtgierigen Vespucci, und dass sie den Soltaisee gestohlen hatten. Dennoch trieb man Handel mit ihnen. Hier war zeitweise ein reges Kommen und Gehen.

Auch dem Weißen Rat blieben die Vorgänge im Osten nicht verborgen. Er sah die Gefahr, die von hier ausging und gründete eine eigene Truppe zum Bewachen der Grenzen. Sie sollte das Eindringen der Agenten aus Vespucci nach Centratur verhinderte. Es waren junge Burschen. Für sie war Ausbildung zum Kampf gleichzeitig eine geistige Übung. Doch die Zeiten änderten sich und der Einfluss des Weißen Rates nahm ab. Niemand wollte später hier mehr Dienst in der Einöde tun. Schließlich war die Grenzstation nur noch spärlich besetzt, und eines Tages ließen die Vespucci Warcust überfallen. Alle Wächter wurden getötet und die Gebäude zerstört. Nur der Brunnen blieb heil, denn auch die Vespucci benötigen Wasser, wenn sie die Wüste durchqueren.“

Plötzlich schrie Akandra auf. Sie war inzwischen durch das Gemäuer gestreift. Marc rannte so schnell er konnte, um ihr zu helfen und Qumara folgte ihm. Das Mädchen hatte vor Entsetzen die Hände vor die Augen geschlagen und lief in panischem Entsetzen blindlings über den Hof. Als er seine verstörte Freundin sah, achtete der junge Erit nicht mehr auf seinen Weg. Er stolperte und war plötzlich verschwunden. Akandra fand ihre Fassung wieder und eilte zusammen mit der Zauberin zu der Stelle, die Marc verschluckt hatte. Es war ein Loch im Boden, durch das man in einen alten Keller blicken konnte. Das, was sie sahen, verschlug ihnen den Atem.

Da unten im Halbdunkel war ein Gewimmel von Schlangen, Skorpionen und anderem Getier. Mitten hinein war Marc gefallen und hatte damit sein Schicksal besiegelt.

Qumara rief: „Bewege dich nicht! Ich komme und hole dich heraus.“

Marc schien sie nicht zu hören, denn er lag ganz ruhig und starrte wie im Traum durch das Loch in den Himmel. Dann sahen die vier Beobachter in der Düsternis des Kellers etwas Seltsames. Die Tiere wichen vor dem Körper des Erits zurück, sowohl die Insekten wie auch die Schlangen mieden ihn scheu. Es bildete sich um ihn ein freier Raum.

„Ein Wunder!“ rief Akandra.

„Nein“, antwortete die Zauberin, „es ist der Schutz des Ringes! Marcs Aufenthalt im Mal ist doch nicht spurlos geblieben.“

Akandra hielt die Kinder zurück, die vorwitzig in das Loch sahen, während Qumara aus ihrem Gepäck ein Seil holte. Das befestigte sie an einem großen Stein, der in der Nähe des Loches lag, und kletterte hinunter. Auf halber Höhe begann sie zu singen. Dabei wurde das Gewimmel in der Tiefe ruhiger. Die Knäuel aus kleinen Tieren entwirrten sich und Schlangen und Skorpione zogen sich noch weiter zurück. Als die Zauberin den Boden betrat, war da nur noch Staub. Ohne Furcht kniete sie bei Marc nieder und untersuchte ihn. Er war völlig unversehrt. Nichts hatte ihn gebissen oder gestochen. Sie hob ihn auf und schlang den Strick um seine Brust. Dann kletterte sie wieder hinauf und gemeinsam zogen sie den Freund ans Licht. Dort öffnete Marc die Augen und erinnerte sich an nichts.

Die Hanoliks

Bald dämmerte es und sie erlaubten sich ein kleines Feuer, denn die Mauern verhinderten, dass das Licht meilenweit gesehen wurde. Über ihnen erschienen die ersten Sterne am wolkenlosen Himmel. Sie kochten und genossen die Windstille und die Ruhe. Als sie sich satt und zufrieden zurücklehnten, zischte Qumara plötzlich: „Seid still!“

Sie sprang auf und lief vor die eingebrochenen Tore des Verlorenen Hofs und hielt Ausschau.

Als sie zurückkehrte, schimpfte sie: „Ich bin eine Eselin! Ich gehöre geprügelt. Ich habe uns in eine Falle geführt. Wir sind in Vespucciland, da hätte ich mit allem rechnen müssen.“

„Was ist los?“ fragte Marc.

„Hört ihr es denn nicht? Spürt ihr nicht, wie der Boden vibriert? Sie kommen. Sie haben hier sicher irgendeine Alarmvorrichtung. Schließlich wollen sie kontrollieren, wer ihr Land betritt. Wer zu ihnen will, muss hier vorbei. Warum habe ich nicht darauf geachtet?“

„Mach dir keine Vorwürfe. Was sollen wir jetzt tun?“

„Wir müssen um unser Leben laufen, wenngleich ich uns wenige Chancen gebe.“

Sie rafften ihre Habseligkeiten zusammen.

„Wo sind die Kinder?“ rief Marc. „Wir müssen uns um die Kinder kümmern.“

„Sie haben uns verlassen, weil es bei uns jetzt zu gefährlich wird. Ihnen geschieht nichts. Um uns mache ich mir Sorgen.“

„Was fürchtest du?“

„Kommt mit.“

Sie traten auf den Wüstenweg und sahen weit im Nordosten dunkle Schatten, die rasch näherkamen.

„Das sind zwei Hanoliks. Sie sind so groß wie ein Haus und rasend schnell. Sie können überall fahren. Das Seltsame an ihnen aber ist, dass sie weder geschoben noch gezogen werden. Kein Pferd und nicht einmal ein Elephant sind ihnen vorgespannt. Sie fahren ganz aus eigener Kraft. Sie fahren über Stock und Stein und fangen jedes Opfer.“

Ungläubig sahen Marc und Akandra ihre Führerin an.

Diese rief ungehalten: „So zaudert nicht länger. Lauft! Lauft um euer Leben! Lasst alles hier außer den Wassersäcken und euren Waffen!“

Sie rannten los und keuchten bald vor Anstrengung. Beim Laufen schlugen die prall gefüllten Wassersäcke an ihre Brust und ließen sie taumeln.

Irgendwann stöhnte Akandra: „Ich kann nicht mehr.“

„Dann befreit euch von den Wassersäcken, schrie Qumara. „Aber lauft weiter. Es geht um unser aller Leben.“

Die beiden Erits nahmen die schwere Last von ihren Hälsen und warfen sie auf den harten Boden. Nun fiel ihnen das Rennen leichter, und sie kamen rascher voran. Doch alle Mühe war vergeblich.

Zuerst spürten sie die Hanoliks am Beben des Bodens und dann hörten sie das tiefe Brummen. Die Ungetüme waren inzwischen ganz nahe hinter ihnen. Sie rumpelten über die ausgetrocknete Erde und holten sie mehr und mehr ein. Akandra blickte über die Schulter zurück und sah im Dämmerlicht des Mondes zwei riesige Gefährte. Sie waren kreisrund. Oben war eine Art Plattform dort sah sie schemenhaft Gestalten. Das Getöse, das die Hanoliks machten, war nun ohrenbetäubend.

Qumara rief: „Wir müssen uns trennen!“ und bog nach rechts ab.

Auch die beiden Erits liefen in verschiedene Richtungen. Aber als sich Akandra nach Marc umsah, blieb ihr der Mund offen und sie wäre vor Schreck beinahe stehen geblieben. Das was sie sah, war noch wunderbarer als die Hanoliks. Der Junge bewegte zwar rasch die Beine, aber er berührte den Boden nicht mehr, er schwebte. Um seinen Kopf war ein helles Licht, es schien aus ihm heraus zu strahlen.

Auch die Zauberin sah die Verwandlung und murmelte wieder einmal: „Dachte ich es mir doch, dass der Besuch im Ring nicht spurlos vorübergeht.“

Die Vespucci in den Hanoliks bemerkten das seltsame Geschehen natürlich auch. Sie schwenkten ab und hielten auf den jungen Erit zu, der in der Nacht leuchtete. Qumara rannte zu Akandra und zog sie rasch in die Dunkelheit, weg aus dem Beobachtungsfeld der Hanoliks. Als sie etwas Abstand gewonnen hatten, warfen sich beide Frauen auf den Boden. Von dort beobachteten sie, was mit Marc weiter geschah.

Dieser schwebte nun nicht mehr über der Erde, sondern er schwang sich in die Lüfte und trieb dahin wie eine Feder im Wind. Die Vespucci verfolgten ihn, konnten ihn aber nicht fangen. Endlich drehten sie ab. So schnell wie sie gekommen waren, rumpelten die Hanoliks zurück zum Verlorenen Hof. Schließlich erstarb der Lärm in der Ferne.

Als alles wieder still und dunkel war, suchten die beiden Frauen ihren Gefährten und fanden ihn schlafend im Staub der Wüste liegen. Sie rüttelten ihn wach und überfielen ihn mit Fragen, aber er hatte keine Erinnerungen. Erschöpft ließen sie sich auf dem staubigen Boden nieder und berieten, wie es weitergehen solle.

„Diesmal war sehr knapp“, stellte Qumara fest. „Beinahe hätte sie uns gefangen. Es war die gefährlichste Situation auf unserer langen Reise. Nun sind die Vespucci gewarnt und auf der Hut. Wir können nicht mehr direkt zu unserem Ziel vorstoßen, sondern werden einen großen Umweg machen müssen. Dies ist zwar ein schmerzlicher Zeitverlust, doch am schlimmsten ist es, dass wir keine Ausrüstung mehr haben. Zum Glück habe ich noch meinen Wassersack. Was tragt ihr noch bei euch?“

Die nun folgende Bestandsaufnahme war trostlos. Sie hatten alles zurückgelassen, was nicht an ihren Leib gebunden war. Deshalb besaßen sie nur noch ihr Gold und die Waffen der Älteren. Ohne Wasser und Nahrung würde die Wüste für sie zur tödlichen Falle werden. Auf keinen Fall dürften sie aber noch einmal den Vespucci oder ihren Wachen begegnen. Deshalb entschied Qumara, sich nach Süden zu halten. Es war ein weiter Weg vom Verlorenen Hof bis zum südlichen Rand der unwirtlichen Wüste und sehr zweifelhaft, ob sie ihn erreichen würden. Ihr schlimmster Feind war die Sonne, deshalb drängte die Zauberin zum Aufbruch, solange es noch dunkel war. Mit weit ausgreifenden Schritten zogen sie los.

Sie waren erst eine kurze Strecke gelaufen, da hörten sie Stimmen hinter sich: „So wartet doch. Warum wollt ihr uns denn nicht mitnehmen?“

Lachend und hüpfend erschienen Sim und Bim und schlossen sich den großen Leuten an, als wäre nichts geschehen.

Akandra fragte erstaunt: „Wo seid ihr gewesen? Woher wusstet ihr, dass Gefahr droht?“

„Wir wissen alles“, antwortete Sim. „Unser Vater sagt uns, was wir tun sollen.“

„Aber euer Vater ist doch weit weg. Wie kann er euch da einen Ratschlag geben?“

„Vater ist immer da. Er lässt zwei kleine Kinder nicht allein durch die Welt ziehen.“

„Sie haben recht“, mischte sich nun auch Qumara ein. „Spürst du denn nicht die Kraft in der Nähe der beiden. Um sie ist stets etwas Geheimnisvolles und sehr Mächtiges. Ich möchte nicht gegen diese Kraft kämpfen müssen.“

Als der Morgen dämmerte, blickten sie um sich und sahen nur Wüste soweit ihre Augen reichten. Es war trostlos. Selbst nach stundenlangem Marsch hatten sie das Gefühl, als wären sie keinen Fuß vorwärtsgekommen. Enttäuscht und entmutigt blieb das Mädchen stehen: „Werden wir jemals lebend diese Wüste verlassen ohne Wasser und Ausrüstung?“

„Wenn wir nicht verzweifeln und alle unsere Kräfte zusammennehmen, so kann es gelingen“, beruhigte sie Qumara.

Durst

Sie schliefen am Tag und wanderten bei der Nacht. Vor jeder Rast suchte Qumara sorgfältig den Platz ab, bevor sie sich niederließen. Die Wüste war nämlich nicht tot. Sie war belebt mit Schlangen und kleinen Insekten. Den gleichen Tieren, die sie im Keller des verlorenen Hofes gesehen hatten. Einmal, als sich Akandra erschöpft zurücklehnte und dabei ihre Arme ausbreitete, hätte sie beinahe in den abwehrend empor gehobenen Stachel eines Skorpions gegriffen. Entsetzt sprang sie auf die Beine und Marc brauchte lange, um sie wieder zu beruhigen.

Obwohl die Zauberin nichts trank und die Kinder sich selbst versorgten, war das Wasser, das Qumara gerettet hatte, nach ein paar Tagen verbraucht. Nun begann die Zeit der Leiden. Ihre Zungen schwollen zu riesigen Klumpen im Mund an. Alle Schleimhäute trockneten aus, selbst die Nase schmerzte und die Nieren taten weh. Sie wurden immer kraftloser, jeder Schritt wurde zur Qual. Aber die Zauberin trieb sie nun auch am Tag unerbittlich vorwärts. Dabei brannte die Sonne sengend auf ihre Köpfe. Ihre Gesichter waren rot und verbrannt, die Augen verquollen. Es wurde ein Marsch gegen den Tod.

Die beiden Erits taumelten nur noch und Marc stöhnte: „Qumara, es heißt doch, dass man in Kakteen oder, wenn man an der richtigen Stelle gräbt, auch in der Wüste Wasser finden kann. Eine Frau aus Rutan müsste uns doch helfen können?“

Die Antwort war entmutigend: „Der Boden ist steinhart und Wasser sicher erst in großer Tiefe vorhanden. Im Übrigen sehe ich weit und breit keine Kakteen. Aber wenn du welche siehst, Lass es mich wissen.“

In ihrer Verzweiflung ließen sie sich gegen den Rat von Qumara sogar von den Kindern etwas von dem Trank geben, den die sich herbeizauberten. Aber das, was Sim und Bim erfrischte und was sie schmatzend zu sich nahmen, war für die Erits nur heiße Luft.

Eines Tages sahen sie ganz fern am flimmernden Horizont schemenhaft Hügel auftauchen. Sie hatten die Grenze der Wüste vor Augen. Marc fiel der Zauberin vor Freude um den Hals, aber Akandra sank entkräftet und ohnmächtig zu Boden. Sofort schafften Marc und Qumara Schatten für ihren Kopf und massierten ihre Oberlippe. Zwar schlug das Mädchen die Augen bald wieder auf, aber die Zauberin erkannte mit besorgtem Gesicht den Zustand der Eritfrau. Sie würde diese Wüste nicht lebend verlassen. Auch Marc war am Ende und würde bald zusammenbrechen.

Qumara überlegte kurz und fasste dann einen Entschluss. Außer dem leeren Wasserschlauch legte sie alles ab, was sie bei sich trug. Beinahe ihre gesamte Kleidung und auch das Messer ließ sie zurück. Nur ihren Lederumhang warf sie sich über die Schulter. Dann befahl sie: “Bleibt hier! Ich werde Wasser holen.“

Weiter sagte sie nichts, sondern lief los, gleichmäßig und schnell. Es war, als habe sie keinerlei Anstrengungen und Entbehrungen hinter sich. Bald war sie nur noch ein Punkt in der entsetzlichen Weite und dann ganz verschwunden.

Marc setzte sich zu Akandra und auch die Kinder ließen sich nieder. Die Stunden vergingen und die Sonne ging hinter dem Horizont unter. In dieser Nacht schliefen sie nicht, sondern warteten. Sie sahen hinauf zum abnehmenden Mond. Die Erits fühlten sich so einsam in dieser Wüste und sehnten sich nach der Zauberin. Immer wieder stellten sie sich die nagenden Fragen: Würde sie wiederkommen? Was wäre, wenn ihr etwas zustieße? Hatte sie vielleicht nur einen Vorwand gesucht, um sie zu verlassen?

Die Kinder hatten diese Probleme nicht. Sie hatten sich zur Ruhe gelegt und Bim schnarchte sogar ein wenig.

Auch am nächsten Tag blieb die Führerin verschwunden. Doch dies nahmen die Erits schon nicht mehr war. In der Glut der Sonne begannen sie vor sich hinzudämmern. Langsam kroch das Leben aus ihnen heraus, versickerte gleichsam in dem ausgedörrten Boden. Als die Nacht anbrach, waren sie schon nicht mehr bei Bewusstsein. Aber die Kinder sorgten für sie, so gut sie es eben konnten. Und wieder verging ein Tag, und der Lebensfaden der Erits wurde immer dünner.

Endlich gegen Mitternacht tauchte Qumara wieder auf. Sie den Wassersack gefüllt und aus ihrem Lederumhang einen großen Sack gebunden, in dem sie zusätzliches Wasser transportierte. Vorsichtig flößte sie zuerst Akandra von dem kostbaren Nass ein. Deren Lippen waren aufgesprungen, der Kopf glühte und als sie ihre Augen aufschlug, glänzten sie fiebrig im Mondlicht. Das Mädchen merkte kaum noch etwas von dem erfrischenden Trunk. Erst ganz langsam kehrten seine Lebensgeister zurück. Auch Marc erhielt von dem Wasser. Er kam rascher zu sich, und es schmeckte ihm köstlich. Während er gierig trank, war es ihm, als habe er nie etwas Besseres zu sich genommen. Nur die Kinder, die auf dem langen Weg nie Durst gelitten hatten, tanzten und freuten sich, dass die anderen sich freuten.

Noch im Schutz der Dunkelheit machten sie sich alle wieder auf den Weg. Langsam zwar, denn sie waren seit langem ohne Nahrung und deshalb völlig entkräftet. Qumara lief wieder voran, so als würde sie nie müde. Aus den kleinen Erhebungen in der Ferne wurden in den nächsten Tagen Hügel und Berge. Aber zu ihrer Verzweiflung kamen sie dieser Wüstengrenze nicht näher. Nur unmerklich wurden die Berge größer. Ihre Körper waren, trotz des Wassers völlig ausgezehrt und sie taumelten immer noch, diesmal aus Hunger. Wenn sie nicht bald diese Wüste verließen, war die Rettungsaktion der Zauberin vergeblich gewesen.

Als sie wieder einmal erwachten, kreisten Vögel über ihren Köpfen, und dann erreichten sie die Berge. Sie schleppten sich noch in ein Tal hinein. Dort floss ein kleines Rinnsal, das ein paar Büsche und etwas Gras versorgte. Hier brachen sie mehr zusammen, als dass sie sich niederließen. Ihr Wille, der sie so weit getrieben hatte, war nun ohne Kraft. Marc und Akandra sahen nicht, wie Qumara ein kleines, pelziges Etwas, das vorüber huschte, fing und tötete. Sie briet es über einem winzigen Feuer und steckte ihnen klein geschnittene Brocken von dem Fleisch in den Mund. Gedankenlos kauten sie und fielen dann in einen tiefen Schlaf. Als sie erwachten waren sie gerettet, das Leben hatte sie wieder.

Auf Sims und Bims Insel

Als die Erits wieder laufen konnten, führte sie die Zauberin tiefer in die Berge hinein. Dort gab es breite Bäche, Bäume und saftige Wiesen. Sie beschlossen, sich hier von den Strapazen der Wüste zu erholen. Es wurde eine herrliche Zeit. Qumara verschwand oft und kehrte mit Wurzeln, Früchten und kleinen Tieren zurück, deren Fleisch sie selbst zwar niemals anrührte, für ihre Schützlinge jedoch briet. Am Abend sangen sie oder erzählten Geschichten.

Einmal wandte sich Qumara an Bim.

„Du wolltest mir noch von den Schiffbrüchigen berichten, die du auf dem Weg zum Verlorenen Hof erwähnt hast.“

Bim, stolz, dass man ihn nach etwas fragte, was die anderen noch nicht wussten, begann eifrig zu erzählen: „Die Schiffbrüchigen waren ganz nass und hatten wenig Kleider an. Man hatte sie unten am Strand aus dem Meer gefischt, wo sie mit einem Floß gestrandet waren.

Der eine Mann versicherte uns, wie dankbar sie alle für ihre Rettung seien, und eine der Frauen küsste unserem Vater sogar die Hand. Das war ihm unangenehm, und er verbarg sie rasch hinter seinem Rücken. Die Frau wollte auch die Hand von Mutter küssen, aber die war gewarnt und versteckte sie in den Falten ihres Kleides.

Dann wurden die Schiffbrüchigen in ihre Zimmer gebracht und kamen erst am nächsten Nachmittag wieder. Vater war über ihre lange Abwesenheit verwundert und bemerkte zum Diener, dass sie extrem lange schliefen.

Als wir sie wieder sahen, trugen die Schiffbrüchigen schöne Kleider, die ihnen Mutter gegeben hatte. Die Frauen waren noch jung, aber die drei Männer hatten schon graue Haare.

Die Männer sagten, nun hätten sie zwar wieder Kleider und sie dankten auch dafür, aber sie brauchten noch Waffen, denn sie seien freie Männer. Für einen freien Mann sei es beleidigend, wenn er keine Waffen trüge.

Vater erklärte, dass sie bei uns völlig sicher seien, und niemand hier auf der Insel Waffen trage.

Damit waren die Schiffbrüchigen aber nicht zufrieden. Sie sprachen von fehlender Gastfreundschaft und die Frauen riefen, ohne Waffen fühlten sie sich bedroht und den Männern der Insel ausgeliefert.

Vater und Mutter versuchten, die Fremden zu beruhigen. Aber die regten sich mehr und mehr auf. Endlich gaben die Eltern nach, und Vater ließ für alle Dolche bringen. Sie hatten goldene Hefte und waren mit grünen, blauen und roten Steinen verziert. Die Schiffbrüchigen nahmen die Waffen und zogen befriedigt ab. Vater und Mutter sahen ihnen erstaunt und betroffen nach.

Sim und ich sahen die Fremden dann ein paar Tage nicht mehr, bis wir im Rosengarten spielten. Da tauchten plötzlich alle fünf auf, ergriffen uns und setzten uns die Dolche, die ihnen Vater gegeben hatte, an die Kehle. Dann riefen sie nach unseren Eltern und erklärten, sie wollten die Herrschaft auf der Insel übernehmen.

Vater sah sie lange an, und seine Augen waren groß und traurig. Kein Muskel regte sich in seinem schönen Gesicht. Auch Mutter verzog keine Miene. Ich spürte die Spitze des Messers an meinem Hals. Die Hand des Mannes zitterte, und es tat weh. Endlich reagierte Vater. Er riss die Arme empor, schlug die Hände zusammen und lachte. Mutter sah erst ihn an und dann uns, und dann lachte sie auch. Beide lachten sie von ganzem Herzen. Ich hätte gerne mit gelacht, aber das Messer an meinem Hals schmerzte.

Völlig verdutzt blickten die Fremden erst uns an und dann unsere lachenden Eltern. Ihr Anführer schrie: „Sie werden sterben, glaubt es uns! Wir sind unbarmherzig und kennen kein Mitleid! Wir werden diese Kinder nicht schonen. Gebt nach und unterwerft Euch, wenn Euch das Leben Eurer Kinder lieb ist!“

Vater und Mutter achteten nicht länger auf sie. So, als hätten sie schon zu viel Zeit verloren, drehten sich um und gingen den Weg durch die Rosenbüsche zurück. Keiner von beiden blickte zurück. Wir blieben in den Händen der Fremden. Noch immer spürte ich den Dolch an meinem Hals. Als mir die Spitze des Messers durch die Haut drang, wurde ich wütend. Ich glaube, Sim wurde auch wütend. Deshalb gab ich dem Mann einen Stoß. Er flog quer durch den Garten und landete in einem Rosenstrauch. Auch Sim hatte sich befreit und bald lagen die Fremden, Männer wie Frauen, leblos auf der Erde.

Nun kamen auch die Eltern zurück und Mutter küsste uns. Vater sammelte die Dolche ein und ließ die leblosen Körper von Dienern wegtragen. Mutter lobte uns.“

„Was wollten die Angreifer?“ fragte Akandra gespannt.

„Unsere Insel“, bekräftigte Sim.

„Waren es wirklich Schiffbrüchige oder Räuber, die sich mit einem Trick eingeschlichen hatten?“

„Ihr Schiff war wirklich untergegangen“, sagte Bim. „Aber ich glaube, als sie unsere Insel in all ihrer Schönheit sahen, gefiel sie ihnen, und sie wollten sie haben und behalten.“

„Wie seid ihr Kinder mit den Angreifern fertig geworden?“ Akandras Neugierde war noch immer nicht gestillt.

„Was meinst du mit ‘fertig werden’?“

„Wie habt ihr euch befreit?“

„Wir waren nie gefangen. Warum sollten wir uns befreien?“

„Aber ihr ward doch in den Händen der Fremden und hattet Dolche an der Kehle.“

Da lachte Qumara und sagte: “Du verstehst diese Kinder nicht. Sie sind mächtig, mächtiger als du es dir vorstellen kannst. Das mussten auch die Angreifer erfahren.“

„Aber es sind doch Kinder“, rief Akandra.

„Kinder ja, aber ganz besondere. Ich sagte schon einmal, nur Ormor selbst könnte ihnen gefährlich werden.“

Von nun an war Akandra vorsichtig im Umgang mit Sim und Bim. Man könnte beinahe sagen, sie ging ihnen aus dem Weg.

Brokqua

Nachdem die Erits wieder zu Kräften gekommen waren und auch die Müdigkeit aus Qumaras Gesicht gewichen war, brachen sie auf. Sie folgten einem der Täler in südöstlicher Richtung, mussten noch über zwei Pässe klettern und verließen dann die Berge. Sie betraten hügeliges Land und endlich breitete sich vor ihnen eine weite Ebene aus. In der Ferne blitzte ein Fluss. Soweit das Auge reichte, sahen sie Felder. Am Horizont erblickten sie eine Stadt. Qumara gab zu, dass auch sie hier noch nicht gewesen war, dass aber dies die Stadt Mid im Land Borkqua sein müsse.

Bald erreichten sie eine gut ausgebaute Straße, die zu der Stadt führte. Die Straße lief zwischen Feldern. Dort arbeiteten Leute, die aber keine Notiz von ihnen nahmen. Sie trugen weiße Überhänge, die sie bis zur Hüfte gerafft und mit einem Strick um ihren Bauch befestigt hatten. Sie standen bis zu den Knöcheln im Wasser. Eine sinnreiche Anordnung von Gräben und Kanälen bewässert das Land. Die Leute setzten kleine grüne Pflanzen in den feuchten Boden.

„Sie pflanzen Reis an“, erklärte die Zauberin.

Von nun an war die Straße sogar gepflastert. Bäume an ihrem Rand spendeten Schatten. Ab und zu sahen sie eine Ansammlung von Hütten. Hier wohnten die Feldarbeiter. Kinder spielten auf der Straße, rannten aber sofort weg, wenn sie die Fremden bemerkten. Sonst beachtete die Wanderer niemand.

Diese hatten Hunger und sehnten sich nach einem gebackenen Brotfladen. Qumara bat die Einheimischen um Nahrung und ging, als sie keine Antwort bekam, sogar zu ihnen auf das Feld. Doch man hörte nicht auf sie und tat so, als wäre sie nicht anwesend. Nicht einmal ein blinkendes Geldstück vermochte eine Reaktion hervorzurufen.

Am Abend mussten sie wieder hungrig unter freiem Himmel campieren, obgleich sie in einer bewohnten Gegend waren. Daran änderte sich auch die nächsten Tage nichts. Für die Bewohner des Landes schienen sie unsichtbar zu sein. Niemand nahm Notiz von ihnen. Das Laufen auf der gepflasterten Straße war bequem und angenehm und bald war die Stadt so nahe, dass sie Einzelheiten unterscheiden konnten. Sie sahen hohe Mauern und hinter den Mauern seltsame Türme. Um die Stadt herum waren niedere Hütten gebaut. Der Weg führte geradewegs auf diese Stadt zu.

In einem kleinen Hain zu ihrer Rechten ruhten sie sich aus. Er bestand aus einem Dutzend seltsamer Bäume, wie sie die beiden Erits noch nie gesehen hatten. In ihrem Schatten lag Marc auf dem Rücken und hatte die Augen geschlossen, die Kinder kletterten die gekerbten Stämme empor, und Akandra summte vor sich hin. Plötzlich zischte Qumara: „Da kommen Leute. Wir sind umzingelt. Verhaltet euch ruhig.“

Mit angespannten Nerven und Muskeln blieben sie liegen und taten so, als bemerkten sie nichts. Plötzlich stürmten von allen Seiten unter lautem Geschrei seltsame Gestalten auf sie zu. Sie trugen gefiederte Rüstungen und Spieße und hatten Vogelköpfe.

Zuerst erschraken die Wanderer vor diesen Ungeheuern, doch dann merkten sie, dass die Vogelköpfe geschnitzt und die Federn auf Lederpanzer geklebt waren. Aber auch wenn es keine monströsen Ungeheuer waren, so schienen sie dennoch Krieger zu sein. Sie waren ihnen nicht freundlich gesinnt, denn die Gestalten stürzten sich auch sogleich auf sie und fesselten ihre Hände mit rauen Stricken. Auch die Kinder wurden von den Bäumen geholt und gebunden. Sie ließen es sich sogar gefallen.

Erst nachdem sie die Wanderer in ihrem sicheren Gewahrsam wussten, sprach sie der Anführer an. Er unterschied sich von den anderen durch einen leuchtend roten Federbusch auf dem geschnitzten Vogelkopf. Seine Stimme klang dumpf unter der Maske und die Erits verstanden kein Wort. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie auf jemanden trafen, der nicht die gemeinsame Sprache von Centratur sprach. Auch Qumara konnte mit den Worten des Kriegers nichts anfangen. Sie antwortete in verschiedenen Sprachen, aber eine Verständigung kam nicht zustande.

Nun wurden die Wanderer von derben Händen hochgerissen und auf die Straße gestoßen. Dort stolperten sie in Richtung zur Stadt. Ein mühsamer und langer Weg begann. Sie keuchten in der Sonne und machten sich Sorgen, was sie wohl am Ziel erwarten würde. Die Krieger nahmen trotz der Hitze die Vogelmasken nicht ab, und Marc dachte bei sich, dass sie wohl kräftig schwitzen mussten und deshalb so unfreundlich waren.

Mit den Feldarbeitern ging eine Wandlung vor sich. Sie ignorierten die Fremden nicht mehr, sondern unterbrachen ihre Arbeit und grüßten ehrfürchtig. Doch ihre Ehrerbietung galt den Vogelverkleideten.

Die Stadt war nun zum Greifen nahe. Marc sah, dass das, was sie in der Stadt für Türme gehalten hatten, Pyramiden waren. Sie leuchteten ebenso wie die Mauern der Stadt strahlend gelb in der Sonne. Die Anlage war vieleckig und auf jeder Ecke der Stadtmauer saß ein riesiges Vogelstandbild.

Endlich, der Tag ging schon zur Neige, standen sie vor dem Eingang zur Stadt. Es waren zwei Tore hintereinander, vorne ein niederes, kaum höher als die Stadtmauer, und dahinter ein hohes, das weit in den Himmel ragte. Die Tore waren mächtig und auf ihren Zinnen standen kleine Gestalten, die ebenso wie ihre Bezwinger Vogelmasken trugen. Nun sahen sie auch weshalb Mauern und Pyramiden am Tag so gelb geleuchtet hatten. Sie waren ganz und gar mit gelben Kacheln verkleidet, und die Erits fragten sich, wie man sie wohl hergestellt hatte.

Vor den Toren verband man den Gefangenen die Augen. Nur die Kinder nahmen alles als ein Spiel und kicherten. Dann wurden sie in die Stadt geführt. Von nun an sahen sie nichts mehr und versuchten sich den weiteren Weg nach dem Eindruck ihrer Ohren und dem Gefühl ihrer Füße vorzustellen.

Zuerst, so rieten sie, wurden sie über einen großen Platz geführt. Dann kam eine steile Treppe. Hier wurden sie von den Wärtern fester gepackt, damit sie nicht fielen. Stufe für Stufe kletterten sie empor, und die Treppe schien kein Ende zu nehmen. Akandra und Marc erinnerten sich an die Treppe zu den Älteren. Aber die hatte hinuntergeführt, und war deshalb leichter zu begehen gewesen. Die Stufen wollten kein Ende nehmen und die Beine taten ihnen bereits weh. Als ihre Muskeln in den Waden von der Anstrengung zitterten, hatten sie endlich das Ende erreicht. Ihre Füße traten ins Leere und sie schritten wieder über eine gepflasterte Fläche. Dann hörten sie am Klang ihrer Schritte, dass sie sich in einem geschlossenen Raum befanden. Dort nahm man ihnen die Fesseln und Augenbinden ab, verließ sie und Schloss eine schwere steinerne Tür. Sie waren endlich allein, aber gefangen.

Das Gefängnis war rasch erkundet. Es war eine Kammer ganz aus Stein. Boden, Decke und Wände bestanden aus großen Quadern, die ohne Mörtel zusammengefügt waren. Die Steinmetze hatten so genau gearbeitet, dass in die Fugen auch kein Haar mehr gepasst hätte. Einzig durch einen Ritz unter der Tür fiel ein wenig Licht in den Raum.

Alle bestürmten die Zauberin mit Fragen. Doch die wehrte mit erhobenen Händen ab.

„Viel weiß ich auch nicht“, sagte sie. „Wie ich gehört habe, leben in Borkqua zwei verschiedene Völker: die Borakquaner und die Vogelmenschen, die sich selbst Kuririri nennen. Die Kuririri sind später eingewandert und haben die Borakquaner unterworfen, so sagt man wenigstens. Nachdem was ich gesehen habe, scheint dies auch der Wahrheit zu entsprechen, denn die einen müssen auf den Feldern arbeiten, während die anderen mit Waffen durch die Gegend stolzieren. Die Kuririri leben in dieser Stadt und die Borakquaner außerhalb in Lehmhütten. Ich glaube übrigens, dass man uns auf die Spitze einer der Pyramiden gebracht hat. Mehr kann ich euch nicht sagen. Nun rate ich, dass wir uns alle zum Schlafen hinlegen. Morgen haben wir, da bin ich sicher, einen schweren Tag vor uns.“

Sprach es, legte sich hin und war sofort eingeschlafen. Die Kinder taten es ihr nach. Nur Marc und Akandra lagen noch lange wach und grübelten über ihr Schicksal nach.

Die Zauberin hatte sich geirrt. Der nächste Tag forderte nichts von ihnen. Er verging langsam und langweilig. Irgendwann brachte man ihnen Essen und Trinken. Dazu wurde kurz die Tür geöffnet. Sie waren aber durch das helle Licht so geblendet, dass sie nichts wahrnehmen konnten. Dies war die einzige Abwechslung. Sonst ließ sich niemand sehen und niemand redete mit ihnen.

Den Kindern wurde es bald langweilig. Sie machten Hüpfspiele und gaben sich gegenseitig Rätsel auf. Aber als sie sich etwas Leckeres zaubern wollten, gelang dies nicht. Dies verschlug ihnen die Sprache und sie wurden still und ängstlich. Sim rief flüsternd nach seinem Vater, aber der antwortete natürlich nicht.

In dem engen Gefängnis mussten sie ihre Notdurft in einer Ecke verrichten und bald begann es zu stinken. Als am nächsten Tag wieder nichts geschah, wurde es den Kindern zu viel. Sie versuchten wieder einmal zu zaubern. Diesmal wollten sie die Steintür aufsprengen. Aber so sehr sie sich auch anstrengten, sie blieb verschlossen. Qumara hatte alles aufmerksam beobachtet und sich dann besorgt erhoben. Als die Kinder erfolglos aufgaben, setzte sie selbst zum Zaubern an. Sie warf einen Zauber nach dem anderen gegen den Eingang, und auch ihr Bemühen war vergeblich. Dann versuchte sie es mit einem Wort der Macht. Zwar bebte die Tür und vibrierte, aber sie hielt stand. Verwirrt und besorgt ließ sich Qumara wieder nieder.

„Damit habe ich nicht gerechnet“, gab sie zu. „Hier ist eine Macht, die unserem Zauber standhält. Wer weiß, was noch alles auf uns zukommt! Nun müssen wir mit allem rechnen.“

Auf der Plattform

Am dritten Tag sprang die Tür plötzlich auf und die blendende Sonne traf schmerzhaft ihre an die Dunkelheit gewöhnten Augen. Gestalten mit Vogelmasken strömten herein, rissen sie hoch und fesselten sie. Marc, der sich am schnellsten an das Licht gewöhnt hatte, sah durch die offene Tür hinaus auf das weite Land. Doch sogleich wurden ihnen die Augen wieder verbunden. Dann schleppte man sie aus dem steinernen Raum, in dem sie so viel Zeit verbracht hatten. Sie wurden mehrere Treppen empor getragen und schließlich noch eine Leiter hinauf gehievt. Dann standen sie wieder auf ihren eigenen Beinen. Man löste ihnen die Fesseln an den Händen und ließ sie allein.

Alle streiften sich die Binden von den Augen und erstarrten. Das, was sie sahen, ließ ihnen das Blut in den Adern gefrieren. Sie standen hoch über der Stadt auf einer schmalen Plattform, die nur über eine Leiter zu erreichen war, und diese Leiter hatte man entfernt. Direkt vor ihren Füßen ging es viele Fuß in die Tiefe. Da war kein Geländer, das den Sturz aufgehalten hätte. Wenn sie nur eine einzige unvorsichtige Bewegung machten, würden sie abstürzen. Das Gefährlichste aber war, dass ihr schmales Holzpodest auf einem Pfahl angebracht war, der leicht hin und her schwang.

Akandra sah nach unten und erblickte dort viele Gestalten, die zu ihnen nach oben starrten.

„Setzen die eigentlich ihre Masken nie ab“, dachte sie.

Aber dann hatte sie keine Zeit mehr zum Überlegen, denn sie verlor das Gleichgewicht. Sie breitete die Arme aus, um die Balance wieder zu gewinnen, doch vergeblich. Sicher wäre sie abgestürzt, wenn Qumara sie nicht festgehalten hätte. Die Zauberin sah die Gefahr und rief: „Stellt euch mit den Rücken zueinander und hakt euch mit den Armen unter!“

Sie taten wie ihnen geheißen, und fanden ein wenig Halt. Nun wies Qumara sie an, langsam in die Knie zu gehen, ohne sich loszulassen. Endlich saßen sie alle auf der Plattform, hielten einander untergehakt und waren für den Augenblick sicher.

Noch immer starrten die Vogelmasken zu ihnen empor. Sie warteten begierig darauf, dass der erste abstürzen würde. Als ihre Opfer sicher saßen, erhob sich wütendes Geheul.

An diesem Tag war es besonders heiß. Die Sonne brannte auf die Gefangenen, die eng zusammengepfercht saßen. Die Angst wärmte ihr Blut noch zusätzlich. Nachdem sie sich gegen das Abstürzten gesichert fühlten, beruhigten sie sich langsam. Das gute Zureden von Qumara tat ein Übriges, und endlich konnten sie den prächtigen Blick genießen, den sie von ihrem hohen Standort aus hatten. Im Nordwesten sahen sie die Matsumaberge, die sie in den vergangenen Tagen durchquert hatten. Dahinter lag die Wüste. Wasser schimmerte im Süden, denn dort floss ein breiter Fluss. Zwei weitere Städte lagen an seinem Ufer. Sie waren Abbilder der Stadt, in der sie gefangen waren: Stadtmauern, Pyramiden und Hütten. Jede dieser Städte hatte eine andere Farbe. War ihre Stadt gelb, so schimmerten die anderen rot und blau.

Felder dehnten sich aus, soweit das Auge reichte. Auf ihnen war geschäftiges Treiben. Da wurde gepflanzt und gegraben. Wagen fuhren über ein Netz von Straßen. Ebenso wie am Fuß der Pyramide sahen sie auf den Straßen viele Gestalten mit Vogelmasken. Alle waren bewaffnet.

Nun begannen die Kuririri am Fuß der Pyramide zu rufen. Die Freunde auf der Plattform verstanden zwar die Sprache nicht, aber es war klar, dass die Vogelmasken ungeduldig wurden und ein Schauspiel sehen wollten. Von den Gefangenen sollte endlich einer herunterstürzen. Der hohe Stamm auf dem die Plattform schwebte, war in die Spitze der Pyramide eingelassen. Wenn man von da oben herabfiel, traf man auf die steinernen Absätze und von da auf die Treppen. Nach so einem Sturz waren nur noch zerbrochene Knochen und rohes Fleisch übrig.

Schon nach kurzer Zeit wurde es sehr ungemütlicher in der schwindelnden Höhe. Kein Dach schützte vor der Sonne und der Durst war wieder einmal kaum zu ertragen. Auch die Kinder jammerten, denn noch immer konnten sie sich nicht mit Zaubern helfen. Qumara tröstete sie vergeblich.

Am Nachmittag zogen endlich Wolken auf und verdeckten die Sonne. Dadurch wurde es zwar kühler, aber es kam auch Wind auf, und die Plattform begann zu schaukeln. Die Zauberin erkannte mit Schrecken, dass ein Gewitter bevorstand. Nach kurzer Zeit steigerte sich der Wind zum Sturm, und bald zuckten auch die ersten Blitze über den Himmel. Die Plattform schwang nun von der Wucht der Elemente gepackt so heftig hin und her, dass sich die Gefangenen kaum noch halten konnten. Sie rutschten und klammerten sich vergeblich an das Holz. Es war absehbar, wann ihr Leben ein Ende finden würde. Die Kinder und die Erits stießen Schreckensschreie aus.

Die Menge unten, die ihrem Leiden zusah, war nun vielköpfig geworden. Niemand wollte sich das grausame Schauspiel entgehen lassen. Schon peitschten die ersten Regentropfen in die Gesichter und der Sturm wurde zum Orkan. Von der Gegend war nun nichts mehr zu erblicken. Die Arbeiter hatten längst die Felder verlassen und waren zu ihren Unterständen geeilt. Um die Gefangenen wallte ein grauer Vorhang aus Regen.

Nun bekam es auch Qumara mit der Angst zu tun. Sollte ihre Mission hier wirklich ihr Ende finden? Waren alle Kämpfe, Leiden und Entbehrungen umsonst gewesen? Gab es für Rutan und Centratur keine Hoffnung mehr?

Die Kinder wimmerten nur noch. Alle klammerten sich verzweifelt aneinander, so als käme die Rettung von den Gefährten. Dennoch rutschten sie immer bedenklicher an den Rand der Plattform. Nur noch kurze Zeit und der Sturz war unvermeidlich.

Da geschah etwas Unerwartetes. Ein Mann in weiten gelben Gewändern trat aus einer Tür unterhalb der Pyramidenspitze. Er breitete die Arme weit aus und sein Mantel flatterte im Wind. Er rief den Kuririri am Fuß der Pyramide gestenreich etwas zu. Doch der Wind riss ihm die Worte vom Mund, und die Vogelgesichtigen verstanden ihn nicht. Nach ein paar vergeblichen Versuchen gab er es auf und blickte sich um. Da sah er die Leiter, mit der man die Gefangenen auf die Plattform gehievt hatte. Sie lag gleich neben dem Stamm, der die Plattform trug. Während der Sturm an ihm zerrte, hob er sie auf und stemmte sie mit all seiner Kraft nach oben. Der Mann und die Leiter taumelten. Immer wieder drohte sie dem Mann zu entgleiten. Endlich gelang es ihm mit letzter Kraft die Leiter gegen die Plattform zu lehnen. Dann bedeutete er den Fremden, sie sollten herunterklettern.

Zuerst wagte sich Akandra an den schwankenden Abstieg. Der Mann stemmte sich von unten gegen die Leiter, so dass sie nicht fiel. Nach kurzer Zeit hatte das Eritmädchen den festen Stein der Pyramide erreicht. Dann kam die Zauberin, die vor den Kindern kletterte, um sie aufzufangen, falls sie ausrutschen sollten. Die Vorsichtsmaßnahme war unnötig gewesen, denn die Kinder kletterten wie Affen. Alle drei kamen ohne Gefahr unten an.

Der Mann war schon alt und die Aktion hatte ihn so angestrengt, dass er taumelte. Nun stand ihm die Zauberin bei, um auch Marc zu retten. Aber der Sturm war inzwischen so stark, dass die Plattform in weitem Radius hin und her schwang. Marc versuchte verzweifelt sich fest zu klammern. Er hing mit dem Unterkörper über die Kante und angelte mit den Füßen nach der hin und her gleitenden Leiter. Doch er konnte die Sprossen nicht erreichen, so sehr er sich auch mühte. Gleich würde er in die Tiefe fallen.

Seine Gefährtinnen riefen ihm gute Ratschläge zu, die er aber bei dem Wind nicht hörte. Er war ganz weiß im Gesicht und hatte große Angst. Immer wieder tastete er nach den Sprossen. Der Regen klatschte gegen das Holz der Plattform und sie wurde immer rutschiger. Seine krampfenden Hände fanden keinen Halt mehr. Das Podest schwang nun so stark, dass er in den nächsten Sekunden heruntergeschleudert werden würde. Die Leiter war kaum noch zu halten. Da legte Akandra die Hände als Schalltrichter vor den Mund und rief: „Marc, du musst fliegen!“

Aber der starrte sie nur ängstlich und verständnislos an. Endlich packte ihn der Mut der Verzweiflung. Er schwang sich vollends über die Kante und ließ sich fallen. Dabei bekam er die Leiter zu fassen, klammerte sich an ihr fest und stieg die Sprossen herab. In diesem Augenblick konnten Qumara und der Mann die Leiter nicht länger halten. Der Sturm riss sie ihnen aus den Händen, sie entglitt ihnen, stand einen Moment ohne jeden Halt aufrecht und neigte sich dann nach hinten. Marc war noch immer etliche Fuß vom sicheren Boden entfernt. Nun kippte die Leiter vollends und fiel, und mit ihr fiel auch der Erit. Da umhüllte ihn ein schwacher Lichtschimmer, sein Fall verlangsamte sich, und er schwebte zu Boden. Vor den Füßen der staunenden Gefährten blieb er einen Augenblick benommen liegen, erhob sich dann ächzend und schüttelte den Kopf. Die Leiter aber fiel in die Tiefe von Steinkante zu Steinkante und zerschellte völlig in ihre Einzelteile. So wäre es auch Marc ergangen.

Der alte Mann ließ den Geretteten keine Zeit zum Überlegen. Während die Blitze ringsum einschlugen, zog er sie zu einer Steintür, stieß sie hinein und verschloss den Eingang. Mit einem Schlag war das Gewitter ausgesperrt und Ruhe umgab sie. Alle waren nass bis auf die Haut, die Haare zerzaust und die Kleider klebten am Leib. Der Mann zog aus einem Ring in der Wand eine Fackel, zündete sie an und stieg eine schmale, steile Treppe hinunter. Den anderen blieb nichts übrig, als ihm zu folgen. Sie besaßen außer ihren Kleidern nichts mehr. Selbst ihre Waffen hatten sie verloren. Hilflos waren sie jedem Feind ausgeliefert.

Die Kuririri

Eine schier endlose Zeit kletterten sie über steinerne Treppen. Der Mann lief und stieg ohne Halt und schien dabei die gesamte Pyramide zu durchqueren. Manchmal kamen sie an Kreuzungen, von denen Quergänge abzweigten. Es war ein verwirrendes Labyrinth, aber ihr Führer kannte den Weg und zögerte kein einziges Mal. Endlich, sie mochten schon unter dem Fundament des Bauwerks angekommen sein, bog er ab. Am Ende des Ganges öffnete sich ein großer Raum. Seine Wände waren mit bunten Teppichen und Tüchern behangen, und auch der Boden war mit weichen Matten bedeckt. Bequeme Möbel standen überall.

Dort legten sie die nassen Kleider ab und hüllten sich in weiche, trockene Tücher. Dann ließen sie sich auf einen Wink ihres Retters erschöpft auf die Lager sinken. Nun erst fanden sie Gelegenheit den Mann ohne seinen gelben Überwurf genauer zu betrachten. Er hatte gelbe, faltige Haut und war schon recht alt. Sein Kopf war kahl und seine Gesichtszüge freundlich. Sie mochten ihren Retter auf Anhieb.

Als er bemerkte, dass seine Gäste ihn betrachteten, sprach er rasch und eindringlich auf sie ein, aber sie verstanden kein Wort. Qumara versuchte vergeblich, ihm in verschiedenen Sprachen zu antworten. Nachdem sie eine Weile an einander vorbeigeredet hatten, rief Marc ungeduldig: „Es muss doch eine Möglichkeit geben, uns zu verständigen. Wir haben so viel gemeinsam, Arme, Kopf, Hände. Warum ist dann unsere Sprache so verschieden?“

Der Alte sah ihn erstaunt an und sagte: „Auf das Naheliegende kommt man doch immer zuletzt. Ihr sprecht die gemeinsame Sprache von Centratur? Warum habt Ihr das nicht gleich gesagt?“

Qumara ging ergriff seine Hand und sagte: „Ihr habt uns im letzten Augenblick gerettet. Habt Dank! Das war knapp!“

„Leider erfuhr ich erst sehr spät, dass Euch die Kuririri zum Schautod verurteilt hatten. Das machen sie zu gern mit Fremden. Es ist für sie eine willkommene Abwechslung, dem Todeskampf zuzusehen. Alte Gewohnheiten brechen bei diesem Volk eben immer wieder durch.“

„Alte Gewohnheiten?“ Die Zauberin war erstaunt.

„Ja, alte Gewohnheiten. Dabei hätten ihnen die bisherigen Strafen eine Lehre sein sollen.“

„Die Kuririri sind mir völlig fremd. Gehört Ihr auch zu diesem Volk?“

„Natürlich nicht! Ich bin ein Quonomodo. Nach Euren Begriffen sind wir Zauberer. Deshalb war ich auch sehr verwundert, als ich eben sah, was mit Eurem jungen Freund vor sich ging. Ihr müsst mir erklären, woher er diese Fähigkeiten hat.“

Marc sah ihn erstaunt an. „Ich habe keine besonderen Fähigkeiten. Ich wäre beinahe zu Tode gestürzt, und es ist ein Wunder, dass ich noch heil bin.“

„Ihr untertreibt. Wer so schwebt wie Ihr, der kann auch Fliegen.“

„Schön wär’s, aber ich bin leider, wie Ihr auch, an die Erde gebunden.“

Der alte Mann sah ihn seltsam an und wechselte dann das Thema.

“Ruht Euch aus. Ich werde gleich Essen und Trinken besorgen.“

Damit war Akandra überhaupt nicht einverstanden. Sie protestierte und sagte: „Zuerst müsst Ihr uns mitteilen, wo wir sind, und was es mit den Kuririri auf sich hat. Schließlich hätten sie uns fast das Leben genommen. Ich habe so viele Fragen. Wer seid Ihr, die Ihr Euch Zauberer nennt?“

„Fragen sind immer gut. Durch Fragen wurde die Welt geschaffen. Ich kann Euren Wissensdurst verstehen. Zwar war ich der Meinung, Ihr wolltet Euch nach all den Schrecken zuerst ausruhen, aber, wenn Ihr wollt, kann ich Euch ein wenig schon jetzt berichten.

Vor langer Zeit wohnte hier in diesem Land ein heute unbekanntes Volk. Es war mächtig und hatte kluge Führer und Baumeister. Inzwischen ist es aber in den Tiefen der Geschichte verschwunden. Sein Name ist nicht einmal überliefert. Es gibt Vermutungen, dass die heutigen Brokquaner von diesem legendären Volk abstammen. Aber Genaues weiß man nicht. Dieses verschollene Volk baute auch die Pyramiden.“

„Welchen Sinn haben diese wundersamen Bauwerke?“ fragte Marc.

„Sie sind Wohnstatt für ein Wunder.“

„Wunder?“

„In den Pyramiden lebt ein Zeitenwanderer.“

Als der Mann die fragenden Blicke sah, lächelte er: „Ihr wisst nicht wovon ich spreche? Ihr werdet über den Zeitenwanderer noch viel erfahren!“

„Und wer seid Ihr? Was habt Ihr? Was ist Eure Aufgabe in diesem seltsamen Land?“ wollte Marc verwundert wissen.

„Ich gehöre zum Stamm der Quonomodo. Wir sind die Priester der Brokquaner und haben sie lange Zeit sanft geleitet. Sie erkennen uns als ihre geistigen Oberhäupter an.“

„Hier leben also die Brokquaner, das sind die Leute, die wir auf den Feldern gesehen haben. Dann gibt es Euch, die Quonomodo, und einen geheimnisvollen Zeitenwanderer. Wer sind dann aber die Kuririri? “ hakte Akandra nach.

„Dieses Volk siedeten früher im Norden, jenseits des Sturmgebirges. Dort hatte es bald alle benachbarten Stämme unterworfen und versklavt und sich ein großes Reich geschaffen. Die Kuririri sind wild und unbarmherzig und bringen damit die besten Voraussetzungen für Eroberungen mit. Sie hätten also mit Ruhm in die Geschichte eingehen können. Doch es kam anders.

Die Kuririri hatte in früheren Zeiten eine besondere Gewohnheit, sie aßen mit Vorliebe Menschenfleisch. Zum einen weil sie meinten, die Stärke der Opfer würde so auf sie übergehen, und zum anderen schmeckte ihnen dieses Fleisch ganz einfach. So wie man Wildbret zubereitet, so kochten und brieten sie Menschen. Aus den Gehirnen stellten sie Suppen her und aus den Därmen Würste. Sie hielten sich Sklaven wie Haustiere, die man pflegt und an Festtagen schlachtet. Hin und wieder machten sie auch Jagd auf andere Völker, um Fleisch zu gewinnen. Sie behaupteten, jede Rasse schmecke anders und müsse besonders zubereitet werden.

So herrschten sie grausam und gefräßig. Bis eines Tages eine furchtbare Seuche unter ihnen ausbrach. Wer davon befallen wurde, verlor die Kontrolle über seine Glieder, verblödete und starb schließlich. Die Kuririri wurden der Krankheit nicht Herr. In Massen wurden sie vom Tod hinweggerafft.

Als nur noch die Hälfte von ihnen übriggeblieben war, erschien eine junge Frau und erklärte, die Götter hätten sie geschickt. Die Seuche sei die Strafe für den Frevel, Menschen zu essen. Diese Gewohnheit sei ein schlimmes Verbrechen, das die Götter nicht ungesühnt ließen. Wenn die Kuririri jedoch ihr frevelndes Tun aufgäben, seien die Götter bereit, der Seuche Einhalt zu gebieten und dem Volk noch eine Chance zu geben.

Doch die Leute waren zur Einsicht noch nicht bereit. Sie fühlten sie sich noch immer stark und unbesiegbar. Die Krankheit, die das Leben ihrer Ehegatten und Kinder, Eltern und Freunde gefordert hatte, war für sie nichts weiter als ein schlimmer Zufall. Ein Werk der Götter konnten sie in dieser Geißel nicht erkennen.

Zu den Göttern hatten sie ein eigenartiges Verhältnis. Sie opferten ihnen zwar, aber an ihre Existenz glaubten sie nicht so recht. Glauben taten die Kuririri nur an sich selbst. Wenn es die Götter wirklich gab, so wollten sie sich mit ihnen zwar nicht entzweien. Aber Furcht hatten sie vor keine vor ihnen und trauten ihnen auch wenig Macht zu. Deshalb nahmen sie die junge Frau ohne viele Umstände gefangen. Man fragte sie, wie sie dazu käme und sich erdreiste, dem mächtigsten Volk auf der Welt zu drohen? Der Prozess wurde ihr gemacht wegen Beleidigung der ehrenwerten Kuririri. Schließlich tötete man sie und aß sie kurzerhand auf.

Nach diesem Mord begann die Seuche erst richtig zu toben. Die Kuririri starben wie die Fliegen und mussten schließlich einsehen, dass sie einen Fehler gemacht hatten. Sie hätten auf die Warnungen der fremden Frau hören sollen. Es dämmerte ihnen, dass sie den Göttern vielleicht doch unterlegen waren und von ihnen vernichten werden konnten. Da ergriff sie große Furcht.

Die wenigen Überlebenden verließen, um ihr Leben zu retten, überstürzt ihr Land und zogen durch die Welt. Damit sie aber die Götter nicht finden sollten, kamen sie auf eine ausgefallene Idee. Sie schnitzten sich die Vogelmasken, die Ihr bereits gesehen habt. In dieser Verkleidung hoffen sie, von den Göttern nicht entdeckt zu werden. Sie legen diese Masken nur in der Nacht zum Schlafen ab und bedecken dann sofort ihre Gesichter mit Tüchern.

Die Überlebenden zogen also durch die Welt und kamen schließlich in dieses Land. Tatsächlich ließen sie die Seuche in ihrer Heimat zurück, und das Sterben kam zu einem Ende. Während heute in ihrer Heimat niemand mehr lebt, sind die Kuririri, die in die Welt gezogen sind und Vogelmasken trugen, gesund geblieben. Sei es, dass die Götter sich wirklich täuschen ließen, sei es, dass die Himmlischen ihr Ziel erreicht und die Kuririri vertrieben hatten. Ich glaube aber, dass der Fluch von den Kuririri genommen wurde, weil sie von da an kein Menschenfleisch mehr aßen.

Eines Tages kamen sie auf ihrer Wanderung in dieses Land. Die Brokquaner nahmen sie freundlich auf und den Kuririri gefiel es hier. Zwischen den beiden Völkern kam es zu einer Art Arbeitsteilung. Die Kuririri übernahmen die Verteidigung des Landes und die Brokquaner sorgten für die Nahrung. Dies blieb zwar bis heute so.

Mit der Zeit brachen aber bei den Einwanderern alte Gewohnheiten wieder durch. Zwar verspeisten sie ihre Gastgeber nicht, aber sie bezogen deren Pyramidenstädte und schwangen sich zu den Herren des Landes auf. Mit uns Quonomodos stellten sie sich gut, als sie erfuhren, dass wir Zauberer waren und Verbindung zu den Göttern hatten. Auch steht hinter uns der Zeitenwanderer, dem wir dienen. In der Regel gehen wir aber den Kuririri aus dem Weg. Wir leben in den Pyramiden und sehen dem Treiben der Vogelherren mit gemischten Gefühlen zu. Grausamkeiten versuchen wir zu verhindern, aber nicht immer können wir die menschenverachtende Natur der Zugewanderten im Zaum halten. Deshalb seid Ihr auch in diese große Gefahr geraten.

Doch nun habe ich genug geredet. Ich lasse Euch besser allein, denn Ihr habt nach all den Aufregungen und Strapazen Ruhe nötig. Etwas will ich Euch aber noch verraten, bevor ich Euch verlasse: Ihr seid uns angekündigt worden Qumara, Akandra, Marc, Sim und Bim. Übrigens, mich nennt man Aramarandu.“

Schmunzelnd drehte er sich um und verließ den Raum. Er hinterließ verblüffte Gesichter.

Die Quonomodo

Sie rieben sich gerade den Schlaf aus den Augen, als ihr Retter wiederkam. Er brachte Tee, Fladenbrote, Reisbrei und Salz. Nachdem sie sich gestärkt hatten und ihn mit neuen Fragen bestürmen wollten, hob er gebietend die Hand: „Alles zu seiner Zeit! Später sollt Ihr alles erfahren. Doch zunächst will ich Euch zurückgeben, was Euch gehört.“

Er ging vor die Tür und kam mit ihren Habseligkeiten zurück. Da waren das große Messer Qumaras und die wundersamen Geschenke der Älteren, sowie die Beutel mit Gold.

„Ich habe die Waffen den Kuririri abgenommen. Sie waren zwar nicht begeistert, und wollten diese wunderbaren Klingen nicht hergeben, aber schließlich ließen sie sich von mir überzeugen.“

Nachdem sich alle gegürtet und ihre Kleider in Ordnung gebracht hatten, folgten sie ihrem Führer. Der stieg wieder über viele Treppen und lief durch lange Gänge. Endlich betraten sie am Fuß der Pyramide wieder das Tageslicht. Zu ihrem Schreck standen sie dort Gestalten mit Vogelmasken gegenüber, die sie anstarrten. Aber Aramarandu beruhigte sie und ging mit ihnen mitten durch die Reihen der Kuririri hindurch. Keine Hand der Vogelmasken rührte sich. Ungehindert verließen sie durch das große Tor die Stadt. Sie gelangten auf eine bequeme Straße. Das Unwetter des vergangenen Tages hatte sich verzogen und der Himmel glänzte in strahlendem Blau. Auf den Feldern sahen sie wieder viele Arbeiterinnen und Arbeiter. Alle riefen Aramarandu fröhliche Grußworte zu.

Den Kindern steckte der Schock der überstandenen Gefahr, der sie zum ersten Mal in ihrem Leben nicht hatten ausweichen können, noch in den Knochen. Seit dem schrecklichen Erlebnis auf der Plattform waren sie sehr schweigsam und tollten auch nicht nach ihrer sonstigen Gewohnheit herum. Still liefen sie links und rechts von Qumara und hielten deren Hände.

Irgendwann hielten sie inne und Bim sagte feierlich: „Wir müssen euch nun verlassen! Lebt wohl!“

Und Sim fügte hinzu: „Wir hatten eine gute Zeit mit euch.“

Bevor ihnen ihre Gefährten in vielen Abenteuern etwas entgegnen konnten, hatten sie sich herumgedreht und waren querfeldein davon gehüpft. Betroffen und ein wenig traurig sahen die Zauberin und die Erits ihnen nach. Sie hatten gewusst, dass der Abschied einmal kommen würde, aber sie würden die fröhliche, unberechenbare Gesellschaft vermissen.

Die am nächsten gelegene Stadt war blau und hieß Mod. Kuririri standen als Wachen davor. Sie hatten ihre Speere vor sich in den Staub gestellt, aber sie machten keine Anstalten anzugreifen. Ungehindert durchschritten alle die Tore. Wie in Mid war das vordere Tor klein und das hintere sehr groß. Diesmal verband ihnen niemand die Augen, so dass sie die riesige Pyramide dieser Stadt genau betrachten konnten. Man musste den Kopf weit in den Nacken legen, um ihre Spitze zu sehen. An allen vier Seiten führten steile, steinerne Treppen hinauf. Drei Plattformen, die sich in verschiedenen Höhen rund um das gesamte Bauwerk zogen, unterbrachen die ebenmäßige Form. Alle Gebäude, die Mauern der Festung, die Wohnhäuser aber auch die Pyramide selbst waren mit blau gebrannten Kacheln geschmückt.

Ohne Umschweife stieg Aramarandu die steinerne Treppe an der Südseite der Pyramide hinauf. Die Gefährten folgten ihm. Es gab kein Geländer oder einen anderen Halt. Der Aufstieg war Schwindel erregend. Auf der ersten Terrasse ging der Quonomodo vorbei an einem Opferaltar und auf eine offene Steintüre zu. Aus ihr traten zwei Männer, die sie bereits erwartet hatten. Der eine war ganz in Blau und der andere in Rot gekleidet. Die Fremden wurden feierlich begrüßt und dann ins Innere der Pyramide geführt.

Hier sah es genauso aus wie in Mid. Nach vielen Gängen und Treppen erreichten sie einen fensterlosen Saal. An den Wänden hingen seltsame Lampen, die ein helles, kaltes Licht abstrahlten und seltsam rochen. In der Mitte stand eine reich gedeckte Tafel, an der alle Platz nahmen. Bedient wurde sie von Männern und Frauen, in blauen, roten und gelben Gewändern. Es waren Brokquaner.

Es gab kein Fleisch, aber die Kuchen und Aufläufe waren wohlschmeckend und alle griffen kräftig zu. Jetzt erst bemerkten die Erits wie hungrig sie waren. Gegen alle Erwartungen hatten ihre Körper die Entbehrungen und Strapazen der letzten Wochen gut überstanden, aber jetzt mussten sie etwas essen, sonst wären sie umgefallen. Marc und Akandra kauten so versunken, dass sie anfangs gar nicht zuhörten, als Qumara die Quonomodos nach ihrer Herkunft fragte. Erst als diese ihre Geschichte erzählten, wurden sie aufmerksam.

„Wir stammen nicht vom Kontinent“, erklärte Aramarandu. „Unsere Heimat liegt auf einer Insel im Medinomeer. Sie heißt Quomodland. Ich weiß nicht, ob Ihr schon jemals von ihr gehört habt?“

Qumara bestätigte, der Name sei ihr bekannt, und die drei Zauberer nickten sich befriedigt zu.

„Wir waren nie ein großes Volk und versuchten, stets im Einklang mit den Geboten der Götter zu leben. Dennoch wurden wir mit einer Krankheit geschlagen, die immer mehr um sich griff. Wir taumelten zwar nicht wie die Kuririri verblödet umher, sondern wir bekamen Fieber und fielen in einen tiefen Schlaf, aus dem nur wenige von uns wieder erwachten. In der Seuche sahen wir eine Strafe der Götter. Die anderen Völker auf Quomodland blieben nämlich von dem Leiden verschont. Unsere Weisen dachten lange über die Vergehen unseres Volkes nach. Sie fanden aber keine gravierenden Verbrechen, die den Zorn der Götter hätte heraufbeschwören können. In seiner Verzweiflung tat unser Volk einen gemeinsamen Schwur, um von der schrecklichen Strafe befreit zu werden. In Zukunft durfte nur der zu unserem Volk gehören, der den Göttern wohlgefällig wäre. Dies bezog sich auch auf unsere eigenen Kinder. Tatsächlich wurden die meisten der noch Lebenden daraufhin gesund.

Wir hielten unseren Eid. Doch wie sollten wir erkennen, ob jemand von den Göttern geliebt wurde? Wir erfanden ein Gottesurteil und jedes neugeborene Kind wurde von nun an ihm unterzogen. Neben unserer Siedlung floss ein kleiner, aber reißender Fluss. Er kam aus den Gletschern der Berge und war sehr kalt. Dort hinein wurde jeder Säugling sogleich nach seiner Geburt getaucht. Überlebte er die Prozedur, so freuten wir uns. Starb er, so war es der Wille der Götter, die dieses Kind nicht bei unserem Stamm haben wollten.“

„Die meisten Säuglinge überstanden die Prozedur nicht und starben“, flüsterte Qumara.

Die Alten nickten.

„Wir wurden immer weniger“, fuhr Aramarandu fort. „Damit uns die Götter nicht töteten, rotteten wir uns selber aus.“

„Wir hatten keine andere Wahl“, fiel ihm der Zauberer aus Mod in die Rede, der sich als Formundo vorgestellt hatte. „Wir hatten einen Eid geleistet, der uns band. Natürlich überlegten wir immer und immer wieder, womit wir die Götter so erzürnt hatten, fanden aber keine Antwort auf diese Frage.“

„Schließlich waren nur noch wir Zauberer übrig“, ergriff Aramarandu wieder das Wort. „Verbittert und ratlos ließen wir uns von fremden Fischern zum Festland übersetzen und zogen durch die Welt, bis wir endlich hierher nach Brokqua kamen. Ich glaube, der Zeitenwanderer hatte uns gerufen. Wir wurden die Lehrer dieses Volkes und seine Diener.“

„Heute glaube ich fast“, wandte der dritte der Zauberer nachdenklich ein, „dass all dieses Leiden und Sterben nur über unser Volk kam, damit wir hierher verschlagen werden. Ohne die Seuche hätten wir niemals zum Zeitenwanderer gefunden.“

Nach diesen Worten war große Stille im Saal.

„Ihr wusstet von unserer Ankunft?“ brach Qumara endlich das Schweigen.

„Ja, unsere Freunde aus Quantam teilten uns mit, dass Ihr kommen würdet. Aber wir kennen das Ziel Eurer Mission nicht.“

„Wir sind auf dem Weg nach Rutan. Meine beiden kleinen Freunde sollen den König von einer Zauberkette zu befreien“, antwortete Qumara ohne Umschweife und mit einer Offenheit, die den Erits den Atem stocken ließ.

„Da habt Ihr eine große Aufgabe vor Euch. Wie gefährlich sie ist, wisst Ihr sicher selbst. Sind die Erits genügend vorbereitet?“

„Nein“, antwortete die Zauberin, „und gerade das macht mir Sorgen. Marc und Akandra können den Vespucci keinen Widerstand leisten.“

„Der Zeitenwanderer will sie sehen. Durch ihn werden sie es lernen“, warf Aramarandu beruhigend ein.

Die Erits sahen verwirrt von einem zum andern. Hier wurde in ihrer Anwesenheit über sie gesprochen, als wären sie nicht zugegen.

„Meint Ihr, sie werden die Prüfungen aushalten?“ wandte sich Formundo wieder an Qumara.

„Ich glaube schon. Erits sind aus hartem Holz, wenngleich sie sich gern als schwach und furchtsam geben. Man muss sie fordern, dann zeigen sie ihre wahre Stärke.“

„Sie werden all ihren Mut brauchen und viel Geduld noch dazu, wenn sie in die Mysterien eingeweiht werden.“

„Ich verspreche Euch, sie werden Euch nicht enttäuschen!“

Nun wurde es Akandra zu viel.

„Ihr vergesst wohl, dass wir mit Euch zusammen an diesem Tisch sitzen. Ihr könnt mit uns reden und nicht über uns. Wer sagt Euch überhaupt, dass wir uns diesen Prüfungen unterziehen wollen?“

Niemand beachtete sie. Aramarandu fuhr fort: „Wir beginnen morgen mit den Exerzitien.“

„Dann werde ich mich auf den Weg machen“, sagte die Zauberin. „Es gibt viel zu erkunden.“

Die Erits hatten nur verstanden, dass es um sie ging, aber nicht, was von ihnen verlangt werden würde. Klar war ihnen aber geworden, Qumara würde sie verlassen. Allein der Gedanke daran ließ sie vor Angst zittern.

„Qumara bleibe bei uns“, bat Akandra flehentlich.

Marc stimmte ihre bei: „Wir brauchen dich.“

„Habt keine Angst, ihr seid nicht allein. Doch ihr habt einen Weg vor euch, den ich nicht mit euch gehen darf. Ihr müsst in Geheimnisse eingeweiht werden, und da kann ich euch nicht beistehen.“

Prüfungen

Jetzt sah die Pyramide noch höher aus, als sie die Erits vom Vortag in Erinnerung hatten. Sie war aus Quadern gebaut, von denen jeder einzelne Marc und Akandra zusammen an Größe überragte. Der weite Platz um sie herum war mit kleinen Steinen bedeckt. Weit entfernt sahen sie die Mauern dieser seltsamen Stadt und dicht an sie angeschmiegt steinerne Hütten, die Unterkünfte der Kuririri.

Akandra seufzte erleichtert: „Bin ich froh, dass ich die Sonne wieder sehe! Auf unserer Reise verbringen wir für meinen Geschmack zu viel Zeit im Dunkeln. Ich bin doch kein Maulwurf! Schon mein Vater hat die Sonne über alles geliebt. Bei Sonnenschein ließ er häufig das Essen im Freien auftragen. Auch meine Mutter war süchtig nach Licht. Doch ich, ihre Tochter, verbringe meine meiste Zeit unter der Erde oder in dunklen Gemäuern.“

Sie hatten die Nacht in der Pyramide in Mod verbracht, und als sie am nächsten Morgen erwachten, war Qumara verschwunden gewesen. Ihnen war zum Heulen zumute und es fiel ihnen schwer, sich zu beherrschen. Sie umarmten sich und hielten sich aneinander fest und so verharrten sie, bis Aramarandu auftauchte.

Der reichte ihnen gelbe Überhänge und sagte sanft: „Sie wird wiederkommen. Aber ihr werdet dann nicht mehr die gleichen sein. Euch wird nämlich ein Geschenk zuteilwerden, für das andere ihr Leben opfern würden.“

Dann brachte er sie ans Licht und begleitete sie hinaus aus der Stadt zur dritten Stadt Brokquas. Sie hieß Mad und ihre Mauern waren mit blauen Platten verkleidet. In Mad stand die größte und prächtigste Pyramide des Landes. Priester in roten Gewändern nahmen die Erits in Empfang und bevor sie sich von Aramarandu verabschieden konnten, war der verschwunden. Ihr neuer Führer stellte sich als Loromino vor und stieg mit ihnen die vielen Stufen zur Spitze der Pyramide empor. Unterwegs mussten Akandra und Marc Pausen einlegen, denn die Muskeln ihrer Beine schmerzten und zitterten. Sie rangen keuchend nach Luft, bevor sie weitergehen konnten. Ihrem Führer hingegen, obwohl weißhaarige und in hohen Jahren, schien der Aufstieg nicht das Geringste auszumachen.

Die Pyramide Schloss mit einer steinernen Kammer ab. Dort hinein wurden sie geführt. Seltsamen Lampen, wie sie die Erits noch nie gesehen hatten, erleuchteten Schriften auf der Decke, an den Wänden und auf dem Boden. Loromino erklärte die Zeichen. Bald hatten Marc und Akandra die Anfänge dieser Schrift gelernt. Der Unterricht dauerte den ganzen Tag. Manchmal brachte ein Diener, auch in roten Kleidern, einen Krug Wasser und etwas Brot. Irgendwann waren die Erits so müde, dass sie an Ort und Stelle einschliefen. Dann verließ sie ihr Lehrer. Er war aber wieder zur Stelle, wenn sie erwachten, und fuhr mit dem Unterricht fort. Als sie die Schrift endlich beherrschten, ließ Loromino sie allein mit dem Auftrag den ganzen Raum zu lesen.

Akandra protestierte. Für so etwas Unnötiges hätten sie keine Zeit. Sie müssten auf dem schnellsten Weg nach Rutan. Es gelte Centratur zu retten. Wenn ihre Aufgabe erledigt wäre, würden sie gern wiederkommen und in diesem Raum ein wenig lesen.

Dieser Raum sei ihre Aufgabe, war die einzige Antwort.

Marc hatte sich mit der Entwicklung der Dinge abgefunden. Er kniete auf dem Boden und glitt mit seinem Finger über die Schriftzeichen. Das Mädchen gab ihm einen Stoß, dass er umfiel.

„So tue doch etwas“, rief sie wütend. „Sei nicht so feige und gehorsam! Wir werden hier gegen unseren Willen festgehalten. Wir müssen uns befreien! Hilf mir, anstatt faul auf dem Boden zu sitzen!“

Doch es war schon zu spät. Die schwere Tür war zugefallen und der Raum wurde nur noch von den Flammen der seltsamen Lampen erhellt. Der Junge sah die wütende Freundin an, zuckte die Schultern und machte sich ans Weiterlesen. Erregt ging Akandra auf und ab, bis sie sich schließlich auch auf dem Boden niederließ und die Schrift zu entziffern begann.

Sie aßen und schliefen und wussten nicht mehr, wie lange sie schon in der Pyramide waren. Als sie den ersten Raum ausgelesen hatten, führte ihr Lehrer sie in den darunterliegenden. Die Räume unterschieden sich voneinander nur durch den Inhalt der Texte. Nach diesem Raum kam der nächste und danach wieder einer.

Akandra wurde immer ungeduldiger. Sie wollte nicht mehr in dunklen Kammern bei seltsamem Licht irgendwelche Geschichten von Königen und das Schicksal der Welt lesen. Sie wollte nach Rutan und ihre Mutter rächen. Ihr Sinn stand nach Abenteuern und nicht nach Schriften im Steinen.

Als sie wieder einmal in einen neuen Raum geführt wurden, fragte sie unwirsch: „Was soll das Ganze? Wer hat das alles eigentlich geschrieben?“

„Der Zeitenwanderer“, antwortete ihr Lehrer. „Die ganze Pyramide besteht aus Kammern, die der Wanderer beschrieben hat. Hier findet ihr die Weisheit von Jahrtausenden, was sage ich, die Weisheit der Welt.“

„Lebt der Zeitenwanderer noch?“ mischte sich Marc ein.

„Natürlich! Und er wird euch empfangen, wenn ihr reif dafür seid. Ihr könnt eure Mission nur mit Hilfe des Zeitenwanderers bestehen. Es ist eine große Gnade, von ihm empfangen zu werden. Aber dafür seid ihr noch nicht würdig!“

Akandra überließ das Lesen von nun an Marc. Sie hing stattdessen ihren Gedanken nach, träumte und wartete. Der Junge aber gewann Interesse an den Texten. Er begann, die Weisheit in sich aufzusaugen. Hier standen Antworten auf viele seiner Fragen. Er fand auch Antworten auf Fragen, die er noch gar nicht gedacht hatte.

Als Loromino wiederkam, fragte das Mädchen: „Seid Ihr der Zeitenwanderer?“

Der lachte und sagte: „Oh nein! Wir bunt Gewandeten sind nur seine Diener.“

Eines Tages führte er sie in keinen neuen Raum, sondern stellte fest: „Nun müsst euren Weg allein finden. Ich hoffe ihr habt richtig gelesen, damit ihr den Fallen und Gefahren begegnen könnt.“

Er brachte sie an den Anfang eines langen, sehr dunklen schmalen Ganges. Schob sie dort sanft hinein und blieb zurück.

Er rief ihnen noch nach: „Ihr erreicht das Ziel nur, wenn ihr den Weg erfühlt und erahnt!“

Dann war er verschwunden.

Vorsichtig setzten die beiden Erits einen Fuß vor den anderen und tasteten sich mit den Händen die Wand entlang. Als der Gang einen Knick machte, war selbst der helle Fleck hinter ihnen verschwunden.

Furcht umkrampfte ihre Herzen so wie damals, als sie die endlose Treppe zu den Älteren hinuntergestiegen waren. Akandra umklammerte den Arm von Marc so fest, dass sich ihre Nägel in sein Fleisch bohrten. Sie zitterte am ganzen Leib. Auch dem jungen Erit war es schlecht vor Angst. Aber plötzlich riss er sich zusammen und blieb stehen.

„Wieso haben wir Furcht vor der Finsternis?“ fragte er. „Wir haben doch die Dunkelheit der Treppe ausgehalten. Nacht kann uns nicht mehr schrecken!“

Seine Gestalt straffte sich und der Griff des Mädchens wurde lockerer.

Dann fuhr er nachdenklich fort: „Wir sollen Prüfungen bestehen, aber keiner hat uns gesagt, wie sie aussehen. Lediglich zum Abschied hat uns Loromino etwas nachgerufen. Er sprach vom Weg erfühlen. Ich glaube, diese Bemerkung ist wichtig.“

Er legte beide Hände an seine Stirn und konzentrierte sich. Nach einer Weile konnte er die Wände wahrnehmen, auch wenn er sie nicht sah. Vor sich im Boden spürte er etwas Dunkles, Unergründliches. Er ließ sich auf alle Viere nieder und kroch vorsichtig vorwärts. Plötzlich griffen seine Hände ins Leere. Vor ihnen tat sich ein Abgrund auf, in den sie beinahe hineingestolpert wären.

In diesem Augenblick hörte er Akandra rufen: „Marc wo bist du?“ und ihre suchenden Schritte.

Entsetzt brüllte er, sie solle sofort stehen bleiben. Sie sei in höchster Gefahr.

Das Mädchen verharrte schreckensstarr, während der Junge versuchte, einen Weg über den Abgrund zu finden. Doch seine tastenden Hände griffen überall ins Leere. Da hockte er sich in seiner Verzweiflung auf den Steinboden und nahm noch einmal seine Stirn in beide Hände. Er atmete tief und versuchte sich zu entspannen. Er brauchte eine Weile, aber dann spürte er, dass rechts an der Wand die tiefe Schwärze unterbrochen war. Als er dorthin kroch und mit den Händen nachfühlte, fand er einen Steg. Er kehrte zu seiner Freundin zurück, tastete nach ihrer Hand und führte sie sicher auf die andere Seite. Sie mussten noch zwei weitere Abgründe überwinden. Bei dem einen war der Steg auf der linken Seite und beim anderen in der Mitte.

Dann gelangten sie zu einem dicken, schweren Vorhang. Als sie ihn beiseiteschoben, schlossen sie geblendet die Augen. Der Gang war hier mit vielen kleinen Lichtern erleuchtet. Jedes der Lichter beleuchtete einen modellierten Kopf, der in einer Wandnische stand. Es waren viele tausend Lichter und viele tausend Köpfe, die sich auf wundersame Weise ihnen zuwandten. Bewegten sich die Erits, so bewegten sich auch die Köpfe. Jede dieser Skulpturen hatte ein anderes Gesicht. Da gab es welche mit Bart, und welche mit Glatze. Frauen sahen sie an und Kinder und Männer.

Zuerst prallten Akandra und Marc voller Furcht zurück. Sie erwarteten eine erneute Heimtücke. Bis sich der Junge daranmachte, diese Köpfe näher zu untersuchen. Da entdeckte er ihr Geheimnis. Sie waren als Relief in den Felsen gemeißelt und von unten mit diesen seltsamen Lampen beleuchtet.

Gerade diese Lampen, die er in den Pyramiden nun schon so oft gesehen hatte, interessierten Marc. Er machte sich daran, sie genauer zu untersuchen. Es waren kleine Glaskugeln. Aus der oberen tropfe Wasser in das darunterliegende Gefäß und dort auf kleine Steinbrocken. Dadurch entwickelte sich ein Gas, das mit heller Flamme verbrannte und seltsam roch. Es wurde durch sinnreiche Vorrichtungen in irgendwelchen Luftschächten abgezogen wurde.3

Die modellierten Köpfe wirkten in dem Licht wie lebendig und schienen sich zu bewegen.

„Was sind das für seltsame Gesichter?“ fragte Akandra ängstlich.

„Ich weiß es nicht. Vielleicht sind dies alles Gestalten, die dem Zeitenwanderer auf seinem langen Weg durch die Jahrtausende begegnet sind. Er hat sie hier verewigt. Die Personen sind zu Staub zerfallen, aber ihre Ebenbilder sehen den Wanderer noch immer an und richten sich nach ihm. Jeder dieser Köpfe wendet alle Aufmerksamkeit seinem Betrachter zu.“

„Aber es sind doch Tausende Skulpturen.“

„Der Zeitenwanderer hat sicher so oft Abschied nehmen müssen.“

Obgleich sie das Geheimnis der lebenden Köpfe im Stein entdeckt hatten, war ihnen diese Halle unheimlich und sie beeilten sich, sie rasch zu durchqueren. Doch sie waren von all den Aufregungen müde geworden. Deshalb legten sie sich in dem anschließenden Gang auf dem nackten Boden schlafen. Akandra kuschelte sich ganz nah an Marc. Sie waren so erschöpft, dass sie trotz Furcht und Erregung sogleich in einen tiefen Schlummer fielen.

Als die Erits erwachten, hatten sie großen Durst. Zwar gab es nichts zu essen, aber zum Trinken fanden neben sich einem Krug, der gefüllt mit Wasser an der Wand lehnte.

Die nächste Halle, die sie betraten, war kreisrund. In ihrer Mitte brannte ein großes Feuer. Auch sein Rauch zog auf geheimnisvolle Weise durch irgendwelche Schächte ab. Der Schein der Flammen spiegelte sich an den Wänden wieder. Dort waren Städte mit Mauern und Türmen gemalt. Prachtvolle Gebäude mit goldenen Dächern zuckten und flackerten im Lichtschein. Mal gingen sie in Flammen auf, dann wieder glänzten sie in ruhiger Pracht.

„So vergeht die Werke der Sterblichen“, sagte Marc. „Wir bauen, und das was wir bauen vergeht. Es wird ein Raub der Flammen. Ich frage mich, warum wir bauen?“

Dieses Gerede machte Akandra wütend: „Du fragst solchen törichten Unsinn nur, weil du noch nie etwas wirklich Wertvolles besessen hast und weil du es auch nie zu etwas bringen wirst.

Die Frage, warum wir Häuser bauen und unseren Besitz vermehren, ist unsinnig. Den eigenen Reichtum mehren, etwas Bleibendes schaffen und damit Ansehen gewinnen, hat einen Zweck in sich. Dies zu tun, ist in uns angelegt. Wir handeln entsprechend und stellen all unser Streben darauf ab, weil es unserer Natur entspricht. Es geht uns nicht ums Überleben, nicht darum, dass wir satt werden und es im Winter schön warm haben. Wenn dies unsere einzigen Sorgen wären, könnten wir uns die meiste Zeit des Tages unter Bäume legen und träumen. Doch dieses Faulenzen und sich nur um Essen, Trinken und Wohnen zu mühen, wäre ein schlechtes Leben. Niemand könnte es lange ertragen. Natürlich wissen wir, dass alles, was wir geschaffen haben, wieder vergeht. Aber ist das so wichtig? Nach etwas Schönem und Wertvollen zu streben ist nicht eitel. Der Sinn liegt darin, dass man etwas tut, statt es nicht zu tun.“

„Aber muss denn unser Bemühen stets darin bestehen, dass wir unseren Besitz mehren?“ fragte Marc verwundert. „Gibt es denn nichts Anderes, wonach wir streben können. Zwischen dem bauen von irgendwelchen Bauwerken, dem Anhäufen von Reichtümern, und dem Träumen unter Bäumen muss es doch noch eine andere Alternative geben?“

„Gärtner sehen dies eben anders als Grafentöchter“, antwortete Akandra schnippisch. „Alles, was ich gesagt habe, gilt natürlich nur für edle und vornehme Leute und nicht für das breite Volk.“

Sie kamen an Nischen vorbei mit Löchern im Boden, wo sie ihre Notdurft verrichten konnten, durchquerten Räume in völliger Finsternis und Hallen voller Licht. Einmal durchschnitt vor ihnen ein Lichtstrahl den Gang. Er war im Staub, der in der Luft hing, zu sehen und so hell, dass er ihnen wie eine scharfe Klinge erschien. Sie wagten es nur zögernd sich ihm zu nähern. Selbst der grelle Fleck auf dem Boden blendete ihre an die Dunkelheit gewöhnten Augen.

Sie schliefen noch oft auf dem harten Boden, und Akandra jetzt nicht mehr so nahe an ihren Gefährten heran. Aber zwischen ihnen beiden war unausgesprochen klar, dass Marc hier in der Pyramide die Führung übernommen hatte. Er entschied, wenn sich der Weg gabelte, welche Richtung einzuschlagen war, achtete auf Gefahren und bestimmte die Pausen. Als er jedoch einmal vor dem Einschlafen zögernd nach ihrer Brust tastete, schob sie seine Hand sanft zur Seite. Beide verloren über die Annäherung nie wieder ein Wort.

Immer wenn sie erwachten, fanden sie mit Wasser gefüllte Krüge, die sie mit sich nahmen und während der Wanderung daraus tranken. Hin und wieder lagen auch zwei Fladenbrote daneben, die sie gierig verschlangen.

Obgleich sie sich schon lange im Labyrinth der Pyramide aufhielten, warteten stets neue Überraschungen auf sie. Die Schrecken wollten kein Ende nehmen. Einmal waren es übergroße Gestalten, die den Weg versperrten, ein andermal tat sich vor ihnen eine Grube mit wimmelnden Schlangen auf. Sie hatten jedes Zeitgefühl verloren, wussten nicht mehr, wie lange sie schon unterwegs waren.

Irgendwann rief Marc einer plötzlichen Eingebung folgend aus: „Ich bin sicher, wir sind umgeben von vielen Leuten. Irgendjemand muss schließlich all die Lampen betreuen, die Feuer unterhalten und uns das Wasser hinstellen. Man treibt ein Spiel mit uns!“

Das Eritmädchen nickte, legte aber gebieterisch den Finger auf die Lippen und bedeutete ihm zu schweigen. Doch ihr Begleiter hielt sich nicht daran.

„Jetzt ist es genug“, rief er laut. „Macht ein Ende und holt uns hier heraus!“

Doch die schwersten Prüfungen warteten noch auf sie. Als sie nämlich wieder einmal einen schwarzen Gang hinter sich gebracht hatten, gelangten sie in einen wunderschönen Raum. Die Wände waren mit gewebten Teppichen behangen. Von der Decke hing ein Leuchter aus Kristall, dessen Kerzen den Raum milde beleuchteten. Darunter stand ein Tisch mit zwei Stühlen. Er war gedeckt mit silbernen Schüsseln und Tellern. Es roch herrlich nach Gebratenem und Gekochtem. Die ausgehungerten Erits rannten zu der reich gedeckten Tafel, hoben die Deckeln von den Schüsseln und fanden gebratene Täubchen, Fisch und knuspriges Fleisch. Es war so verlockend, dass Akandra hier in der Pyramide die Führung übernommen den Teller hoch aufhäufte. Bevor sie jedoch den ersten Bissen zum Mund führen konnte, rief Marc: „Halt! Das kann eine Falle sein.“

Sie schüttelte missbilligend den Kopf und meinte, er sei überängstlich und würde überall Gefahren und Feinde sehen. Es fehle ihm an Größe und Mut. Nun solle er sie in Ruhe essen lassen. Er könne ihr zusehen, wie es ihr munde, wenn er freiwillig auf dieses köstliche Mahl verzichten wolle.

Für Marc waren ihre Worte wie Schlägen. Doch als sie erneut zugreifen wollte, ergriff er ihren Arm, zog sie hoch und zerrte die Schimpfende und Widerstrebende weg von dem verführerischen Tisch. Außerhalb des Lichtscheins sahen sie jetzt einen kleinen, unscheinbaren Tisch. Darauf stand der ihnen schon bekannte Krug Wasser und daneben lagen zwei Fladenbrote. Dies raffte der Erit zusammen und drängte das Mädchen aus dem Raum.

Nach einer Weile, Akandra hatte das Schimpfen inzwischen aufgegeben, bemerkte der Marc: „Dies war offensichtliche eine Falle. Wir sollten geprüft werden, ob wir Versuchungen widerstehen können.“

„Von mir aus war es eine Prüfung. Du hast auf jeden Fall versagt, denn wir sollen doch unseren Mut unter Beweis stellen.“

Der nächste Saal war weit und hoch. Dicke Säulen mussten die Decke stützen. Auf hohen eisernen Ständern waren Schalen angebracht, unter denen Kerzen brannten. Ein seltsamer Geruch hing im Raum. Schwaden von Rauch zogen durch die Luft. All dies ängstigte die Erits sehr und sie wagten sich nur zögernd vorwärts. Da erhob sich plötzlich ein riesiges Monster vor Marc, und Akandra sah von oben ein geflügeltes Untier auf sich zu schweben. Beide rissen abwehrend die Hände vor ihre Gesichter und schrien vor Schreck auf. Von allen Seiten stürmten nun Riesen mit hässlichen Fratzen auf sie ein und Dämonen griffen nach ihnen. Der Boden war auf einmal bedeckt mit allerlei ekelhaftem Gewürm. Schlangen und Insekten krochen an ihren Beinen empor, aber sie spürten keinen Biss und keinen Stich.

Entsetzt drehte Marc sich um und wollte fliehen. Nun war es Akandra, die die Nerven bewahrte. Sie hielt den Gefährten zurück und rief: „Das sind alles nur Visionen und Halluzinationen. Es besteht keine wirkliche Gefahr. Gib nicht auf! Wir müssen durch diesen Raum hindurch!“

„Ich kann nicht“, wimmerte der Junge. „Das halte ich nicht aus!“

Wie damals am Eingang in die Unterwelt, bei ihrer Reise zu den Älteren, nahm Akandra den hilflosen Marc an der Hand und zog ihn mit sich. Auch ihr war übel vor Angst, denn das, was sie als Visionen bezeichnet hatte, war gar zu real. Ihr Herz schlug bis zum Hals und ihre Zähne klapperten. Willenlos ließ sich der Erit mitziehen. Er hatte die Augen geschlossen, denn er konnte den furchtbaren Anblick nicht ertragen. Auch das Mädchen hätte gern den Blick abgewendet, aber einer musste auf den Weg achten, und diese Aufgabe übernahm sie. Je weiter sie kamen, desto grässlicher wurden die Figuren, die sie angriffen. Irgendwann war die Angst so groß, dass sie in die Knie sanken. Marc streckte sich auf dem Boden aus, verschränkte die Arme im Genick und wartete auf das Ende. Doch die tapfere Akandra gab nicht auf. Sie kroch auf den Knien weiter und zerrte ihn mit sich. Zwischen den hohen Säulen, die plötzlich lebendig wurden, wanden sie sich hindurch, sahen vor sich den Ausgang aus dem Saal, sprangen auf und rannten los und waren gerettet.

Der Zeitenwanderer

Es dauerte lange, bis ihre Herzen wieder normal schlugen und ihr Atem ruhig ging. Sie waren von Schweiß völlig durchnässt. Aber langsam lichtete sich der Nebel um ihre Köpfe. Nun endlich war es ihnen möglich, sich umzusehen. Sie saßen auf dem Boden eines kreisrunden Ganges. Die Mauer hinter ihnen war schwarz und die vor ihnen ganz aus Gold. In die schwarze Mauer waren viele der seltsamen Lampen eingelassen und brachten das Gold zum Glänzen.

Mühsam erhoben sie sich und folgten dem Gang. Als sie ihn umrundeten, fanden sie auf der entgegen gesetzten Seite einen Durchgang in den runden Innenraum. Dieses Tor war reich geschmückt und mit Ornamenten verziert. Zögernd schritten sie hindurch. Der runde Raum, den sie nun betraten, war hell erleuchtet. Auch seine Wände glänzten golden.

Mitten im Raum stand ein Stuhl aus schwarzem Ebenholz. Darauf saß eine junge Frau. Sie hatte langes, schwarzes Haar, leuchtende Augen und ein weißes, ebenmäßiges Gesicht. Ihre schmalen, langfingrigen Hände lagen unbeweglich auf den Lehnen des Stuhls. Ihr Körper war in ein goldenes Gewand gehüllt. Sie sah die beiden Eindringlinge freundlich an.

„da bist du endlich“, sagte sie mit gleichförmiger Stimme ohne Betonung. „ich habe dich erwartet.“ Es war nicht klar, wen von beiden sie ansprach.

Dann deutete sie auf zwei Schemel zu ihren Füßen und fügte hinzu: „nimm platz!“

„Wer seid Ihr“, fragte Marc voller Staunen.

„ich bin der zeitenwanderer, von dem man dir erzählt hat.“

„Ihr? Eine junge Frau?“ Akandra war fassungslos.

„so jung bin ich nicht mehr“, antwortete die Frau. „ich bin beinahe so alt wie die welt.“

„Wie heißt Ihr?“

„mein name ist inzwischen so lang, dass es wochen dauern würde, ihn auszusprechen. es genügt, wenn du mich einfach ma nennst.“

„Ich habe so viele Fragen“, sagte Marc begierig. „Darf ich sie stellen?“

„du bist zum fragen gekommen.“

„Ich wollte nicht von mir aus kommen. Man hat uns geschickt.“

„man hätte dich nicht geschickt, wenn du nicht gewollt hättest. du wusstest nur noch nicht, dass du es wolltest. doch nun frage.“

„Was ist das Geheimnis der Pyramide?“

„was sich in ihrem zentrum aufhält, vergeht nicht. hier ist das zentrum. in dieser pyramide habe ich meine erinnerungen aufbewahrt.“

„Warum lebt Ihr hier im Dunkel?“ mischte sich Akandra ein. „Draußen scheint die helle Sonne und alle Lebewesen lieben doch das Licht.“

„ich habe in meinem leben so viel licht gesehen, dass ein wenig dunkelheit gut tut.“

„Aber hier im Innern der Pyramide erlebt Ihr nichts von der Welt. Das Leben geht an Euch vorüber.“

„die welt ist in mir, und ich bin in der welt. ich sehe mit meinem geist mehr von der welt, als du mit deinen augen.“

„Gibt es noch andere Zeitenwanderer?“

„ich kenne noch einige, aber es sind nicht sehr viele.“

„Warum schließt Ihr Euch nicht zusammen?“

„wer so viel erlebt hat wie wir, schätzt die einsamkeit.“

„Habt Ihr Kinder?“ fragte das Eritmädchen.

Centratur II: Die Macht der Zeitenwanderer

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