Читать книгу Centratur II: Die Macht der Zeitenwanderer - Horst Neisser - Страница 5

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Ost- und Mittel- Centratur einschließlich Vespucciland

Der Kampf um Centratur

Süden

Im Süden ist die Schlacht um Hispoltai, der Hauptstadt von Equan, geschlagen. Obwohl sie weit überlegen waren, wurden die Heere des Zauberkönigs Ormor besiegt und in die Flucht geschlagen. Noch ist die Gefahr nicht gebannt, denn noch immer verfügt der Dunkle Herrscher über eine mächtige Streitmacht. Besonders in Darken sammelt sich ein großes Heer. Überall in Centratur tauchen glatzköpfige Gnome auf, die Vespucci. Sie wollen die Herrschaft über Centratur übernehmen und setzen dazu Intrigen, Verrat und Grausamkeit ein.

Die Vespucci sind mit Ormor verbündet, der nicht merkt, wie sehr sie seine Pläne bestimmen. Nur die Rutaner, die Nachbarn der Vespucci im Osten, können dieses seltsame Volk, das alles Natürliche hasst, in seine Schranken verweisen. Aber der König der Rutaner ist in einem Zauberbann gefangen. Mit dem Auftrag ihn zu befreien sind zwei Erits, Akandra und Marc, nach Osten unterwegs.

Der Zauberer Aramar, der die Verteidigung Hispoltais organisiert hatte, ist nun im Süden auf dem Weg ins Nachbarland Whyten. In dessen Hauptstadt Cantrel residiert der Hochkönig von Centratur. Aber Meliodas, der bisherige König, ist tot. Aramar will die näheren Umstände seines Todes erfahren. Auch erwartet er einen Angriff der Heere Ormors auf Cantrel und will die Witwe des Hochkönigs, Lunete, warnen. (Anm. des Übersetzers)

Whyten

Über Centratur lag der schwarze Mantel der Nacht. Unsichtbar zog sich ein dichtes Wolkenband vom Worameer bis zu den Rubur Höhen. Es verbarg den Mond und die Sterne. Still verharrten der Weiße und der Graue Wald. Im Thaurgebirge und in den Ilgaibergen lag noch Schnee. Die Bewohner der Dörfer in den oberen Tälern waren noch eingeschneit, aber sie hatten genügend Brennholz und Vorräte. Sie würden es noch eine Weile aushalten und in diesem Winter nicht mehr mit Hunger zu kämpfen haben. Die Flüsse führten zwar keine Eisschollen mehr mit sich aus den Bergen, aber sie waren auch noch nicht zum Frühjahrshochwasser angeschwollen. Ihre Furten waren passierbar. Der große Agangafluss wälzte seine grauen Fluten unermüdlich und unbeirrt vor sich hin. Ihn kümmerte es nicht, dass die Dörfer an seinem Ufer ausgestorben waren und sich nur noch selten ein Fischer auf das Wasser hinauswagte.

Um diese Zeit in der Nacht waren alle längst zur Ruhe gegangen, und so mancher hoffte, das Tageslicht möge noch etwas ausbleiben. Die Männer auf den Mauern und Türmen der Städte und Burgen, die Wachen in den Lagern im Wald oder auf dem freien Land dösten und bemühten sich, die Augen offen zu halten. Wenn sie aber über den kommenden Tag nachdachten, und was er wohl bringen würde, überfiel die meisten die Angst.

Sie hatten den Agangafluss bereits am Vortag überquert. Die alte Brücke, von den Truppen aus Darken im Großen Krieg zerstört, war wiederaufgebaut. Auf drei Bögen spannte sie sich über den mächtigen Fluss. Sie war so breit, dass drei Pferde bequem nebeneinander auf ihr gehen konnten. Der König hatte vor Jahren den Befehl gegeben, hier die größte Brücke in ganz Centratur zu errichten. Er wollte nicht nur einen Übergang über den Fluss, sondern ein steinernes Symbol der Verbundenheit zwischen Whyten und Equan setzen.

Grosskorl trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Die Hände hatte der Mann tief in die Taschen seiner pelzgefütterten Jacke gesteckt. Ihm war verdammt kalt, seine Zehen spürte er bereits nicht mehr. Langsam kroch die Taubheit weiter an seinen Beinen hoch. Obgleich er eine gestrickte Mütze trug, begannen seine Ohren zu erfrieren. Sie waren für ihn nur noch als einen dumpfen Schmerz.

Ein Nachtvogel zog als dunkler Schatten vorüber. Grosskorl zuckte bei dem unerwarteten Anblick zusammen.

Er fluchte leise: „Verdammt, ich hasse den Winter! Ausgerechnet im Winter muss ich mit diesen Verrückten durch die Gegend ziehen. Womit habe ich das verbrochen? Warum musste es mich treffen? Warum hat die Königin mich ausgewählt? Warum kann ich nicht gemütlich zu Hause in meinem Bett liegen? Sicher, diese Leute haben geholfen, Hispoltai zu retten. Aber muss man deshalb mit diesen Nomaden durch die halbe Welt ziehen? Wie lange soll dieser unsinnige Ritt eigentlich dauern?“

„Du wirst schon noch eine Weile Geduld haben müssen“, sagte eine spöttische Stimme hinter ihm. „Und wenn ich nicht so gutmütig wäre, würde ich dich jetzt mit meinem Messer kitzeln. So macht man das nämlich mit Wachen, die nicht aufpassen, sondern vor sich hin schimpfen.“

Erschrocken fuhr Grosskorl herum und fasste nach seinem Dolch, aber mit festem Griff wurde sein Handgelenk umklammert und heruntergedrückt.

„Jetzt ist es zum Kämpfen zu spät. Du solltest wenigstens so wach sein, dass du mich erkennst“, fuhr die Stimme fort. Es war Aramar, der Zauberer, der die Wache kontrollierte.

Grosskorl, ein Hüne von einem Mann, stammelte Entschuldigungen und Ausreden, die seine Geistesabwesenheit entschuldigen sollten. Der Zauberer ging nicht darauf ein, sondern wies ihn an, Feuer zu machen und die anderen Mitglieder der Reisegesellschaft zu wecken.

Zwar war es in den letzten Tagen etwas wärmer geworden, dennoch froren alle, als sie sich beim anbrechenden Morgengrauen aus den Decken schälten. Sie hatten ihre Mäntel und die dicken Wollsachen in der Nacht anbehalten, Lammfelle um sich gewickelt, und die Sängerin Galowyn durfte sogar ein warmes Pferdefell über sich ausbreiten. Einada, die junge Königin von Equan, hatte alle gut ausgestattet und ihnen so viel Ausrüstung mitgegeben, wie vier Lastpferde tragen konnten. Dennoch waren die Nächte auf dieser Reise unangenehm genug. Die Kälte drang aus dem Boden in ihre steifen Körper.

Das Feuer war heruntergebrannt und glomm nur noch. Als sich Grosskorl niederkniete, um mit trockenem Gras ein paar Flämmchen zu entfachen, stöhnte die Sängerin: „Ich bin einfach zu alt für solche Ausflüge. Was treibe ich mich hier in der Gegend herum, anstatt gemütlich in irgendeinem Palast vor einem großen Kamin zu sitzen und mir von einem Diener heißen Wein servieren zu lassen? Diese Kälte ist Gift für meine Stimme. Meine Verantwortung gegenüber allen Wesen, die Gesang lieben, gebietet mir eigentlich mich zu schonen.“

„So, du wirst alt?“ sagte ihre Dienerin, die gerade Wasser für Tee geholt hatte, zu der immer noch schönen Frau. „Das ist das erste Mal, dass ich dieses Eingeständnis aus deinem Mund höre. Bis jetzt dachte ich, du bleibst ewig jung.“

Für Smyrna war das dritte Lebensjahrzehnt ebenso wie für ihre Herrin gerade angebrochen. Sie war klein und hatte ein verschmitztes Gesicht.

Fallsta, der Goldgräber, ein hagerer Mann, der sich trotz der Kälte jeden Abend die Schuhe auszog und nun wieder hineinschlüpfte, lachte: „Jetzt reise ich mit euch beiden seit Monden und höre Tag für Tag die gleichen Sticheleien und den gleichen Streit. Werdet ihr dieses Spieles nie müde?“

„Es sind eben Frauen“, sagte Rimo, der zweite Soldat aus der Palastwache, der als Begleitung mit nach Cantrel geschickt worden war. Ein kleiner Mann mit einem schütteren Bart und Halbglatze, der jedoch größten Wert auf sein Aussehen legte und sich jeden Morgen lange bürstete. Seine Kleider waren für einen Soldaten der Palastwache recht kostbar.

„Das hat gar nichts mit Frauen zu tun“, keifte Galowyn wütend. „Das heutige Dienstpersonal taugt ganz einfach nichts und lässt es an Respekt vermissen.“

„Dienstpersonal? Dass ich nicht lache! Wie oft soll ich dir noch erklären, dass du nur dann eine Dienerin hast, wenn du sie auch bezahlst.“

Der Streit wäre sicher so wie jeden Tag noch eine Weile weitergegangen, wenn sich Aramar nicht eingemischt hätte: „Wir kommen heute in bewohnte Gebiete. Ich weiß nicht, was uns erwartet, aber über der ganzen Gegend liegt etwas Bedrohliches.“

„Was meinst du damit“, fragte Fallsta.

„Es ist nur so ein Gefühl, aber wir müssen aufmerksam sein.“

Als sie sich später zum Frühstück niederließen, denn an Verpflegung fehlte es nicht, war der Goldgräber verschwunden. Man fragte verwirrt, wo er geblieben sei, und Aramar lächelte versonnen: „Er hat etwas zu erledigen. Das sollten wir respektieren.“

Alle rätselten über den Sinn dieser geheimnisvollen Worte, warteten aber geduldig auf die Rückkehr von Fallsta. Smyrna wusch inzwischen Wäsche in einem nahen Bach, und die Männer striegelten die Pferde und besserten deren Geschirr aus. Aramar hingegen verschwand zwischen den Büschen.

Die Gestalt des Zauberers veränderte sich je nach Anlass. Einmal war er ein alter Mann, der sich nur noch mit Mühe auf den Beinen halten konnte, dann wieder ein hoch gewachsener Kämpfer, dem man besser aus dem Weg ging. Er trug lederne Hosen und hohe Stiefel und einen weiten, blauen Mantel. Über sein langes Haar hatte er eine lederne Kappe gestülpt. Ein prächtiger Bart verbarg die Lachfältchen in seinem Gesicht.

Erst gegen Mittag kehrte Fallsta zurück. Er war tropfnass und ließ sich aufseufzend vom Pferd gleiten. Alle eilten zu ihm und fragten, was geschehen sei.

Er habe den Fluss überqueren wollen, antwortete er. Aber er sei tiefer gewesen, als vermutet, deshalb sei er ins Wasser gefallen. Doch das sei nicht tragisch. Ein Bad habe er schon lange nehmen wollen.

Er rieb sich trocken und wechselte die Kleider. Doch auch nach einer Stunde waren seine Hände immer noch blau, und er zitterte am ganzen Körper. Aramar sah ihn mit sorgenvollen Augen an. Aber noch eine andere Veränderung war mit Fallsta vor sich gegangen. Der Goldgräber schien von einer schweren Last befreit. Er war beinahe beschwingt, und alle bemerkten, dass die Goldbeutel an seinem Gürtel fehlten, die er von seinem Ausflug im Ilgaigebirge mitgebracht hatte.

Am späten Nachmittag erreichten sie das erste Dorf. Als sie es aus der Ferne sahen, beschlossen sie, dort zu übernachten. Doch beim Näherkommen verwarfen sie den Plan wieder. Das Dorf war zu klein, um einen Namen zu haben und bestand nur aus verfallenen Hütten.

Zwei Kinder mit großen Köpfen und aufgequollenen Bäuchen liefen rasch über die Straße, und verschwanden in einem Haus, als sie die Reiter sahen. Sie waren spindeldürr und ihre Knochen nur noch von Haut umhüllt. Außer den Kindern ließ sich niemand sehen. Die Erde in den Gärten vor und hinter den Häusern war umgewühlt. Man sah kein Wintergemüse, und auch Vieh schien man in diesem Dorf nicht zu besitzen. Weder Gänse noch Hühner und schon gar keine Kuh liefen herum. Bittere Armut beherrschte diese Siedlung.

Die Reisenden sahen sich verwundert um und machten, dass sie weiterkamen. Nicht weit hinter dem Dorf gabelte sich der Weg. Der rechte Pfad stieg an und führte in einen Wald, während der linke einem Bach folgte. Aramar hielt sein Pferd an und sah sinnend auf den Stein an der Kreuzung. Dort war einst die Richtung eingemeißelt gewesen, doch inzwischen hatte jemand die Markierung entfernt. Man konnte erkennen, dass der Stein erst in jüngster Zeit bearbeitet worden war.

„Ich kenne mich hier nicht mehr so gut aus“, sagte der Zauberer. „Bevor wir in die Irre reiten, frage ich lieber.“

Er wandte sein Pferd und kehrte ins Dorf zurück. Vor dem ersten Haus des Ortes stieg er ab und pochte an die Tür. Zwar stieg Rauch aus dem Schornstein, aber niemand ließ sich sehen.

Wütend rief der Zauberer: „Entweder ihr zeigt euch, oder ich breche die Tür auf!“

Diese Drohung zeigte Wirkung. Die Haustür öffnete sich einen Spalt, und eine Frau lugte heraus. Obgleich sie sicher nicht älter als achtzehn Jahre war, sah sie wie eine Greisin aus. Das Haar war strähnig, Schwären bedeckten Armen und Händen, die Augen lagen in tiefen Höhlen. Wie ein Totenschädel wirkte dieses Gesicht. Nachdem sie sich vorsichtig umgesehen hatte, öffnete sie die Tür noch ein wenig weiter, und nun konnte man hinter ihr Kinder erkennen, die ängstlich ins Freie starrten. Auch sie waren halb verhungert.

„Wir haben nichts mehr, Herr! Wir können nichts geben. Bitte, tut uns nichts, “ flüsterte die Frau furchtsam.

„Ich will nichts von euch“, antwortet Aramar begütigend. „Sag mir nur, welches der kürzeste Weg nach Cantrel ist.“

„Wir haben selbst nichts! Wir können nichts hergeben.“

„Ich will von dir nur eine Auskunft!“

„Wir hungern selbst. Bitte tut uns nichts! Wenn wir etwas hätten, würde ich es Euch geben.“

„So hört doch zu! Ich will nichts von euch. Ich frage nur nach dem Weg.“

Die Frau antwortete nicht, sondern wimmerte nur noch. Der Zauberer sah sie verwirrt an, dann hakte er wortlos seinen Brotbeutel vom Sattel und hielt ihn ihr hin. Sie bewegte sich nicht und sah den Fremden furchtsam an. Da warf ihr Aramar den Beutel vor die Füße, bestieg sein Pferd und gab ihm die Sporen. Mit den Gefährten redete er nicht über den Vorfall, sondern schlug wortlos den Weg ein, der den Bach entlangführte.

An diesem Abend ging es Fallsta schlecht. Seine rote Nase tropfte, noch immer zitterte er am ganzen Körper. Seine Stimme war rau, und das Sprechen machte ihm Mühe. Aramar befahl ihm, sich völlig auszuziehen, dann rieb er ihn zusammen mit Smyrna mit trockenen Tüchern, bis die Haut rot glänzte. Anschließend wurde der Goldgräber in viele Decken eingepackt und musste heißen Tee trinken. Dennoch nahm das Fieber im Lauf der Nacht zu, und am nächsten Morgen konnte er sich kaum im Sattel halten, so dass stets jemand neben Fallsta reiten und ihn festhalten musste.

Auch an diesem Tag folgten sie dem Bach und kamen durch zwei Dörfer. Sie unterschieden sich kaum von dem ersten, das sie am Vortag gesehen hatten. Die Armut und der Hunger waren so augenfällig, dass sie all ihren Proviant verteilten. Dennoch schienen sich die Leute immer noch zu fürchten, und es war kein Wort aus ihnen herauszubringen. Aramar blickte finster, während seine Begleiter rätselten, was hier wohl vorgefallen sein konnte.

Ankunft in Cantrel

Endlich lag die weite Ebene von Cantrel vor ihnen. Mit ihren goldenen Kuppeln und blitzenden Dächer war die Stadt schon von weitem zu sehen. Über den Mauern der Stadt schwebte in strahlendem Weiß der Palast. Staunend starrten alle auf das Wunder, das in der Nachmittagssonne vor ihnen glänzte.

„Sie haben Cantrel wieder aufgebaut, schöner als je zuvor“, flüsterte der Zauberer ergriffen. „Die Stadt hatte man im Großen Krieg völlig zerstört. Die Krieger aus Darken waren zu ihr durchgestoßen. Um jedes Haus war damals gekämpft worden. Schließlich gelang es dem Feind, die ganze Stadt zu besetzen. Meliodas konnte sich nicht mehr halten und musste mit seinen Truppen abziehen. Dann hat der Feind die Stadt angezündet und geschleift. Cantrel war einst der schönste Fleck in ganz Centratur gewesen, und so mancher tapfere Mann weinte nach dem Krieg, als er die schwarzen, rauchenden Ruinen sah und sich an die ehemalige Pracht erinnerte. Doch, wie ihr seht, Cantrel ist aus der Asche auferstanden.“

„Weshalb schwebt der Palast über der Stadt?“ fragte Smyrna atemlos.

„Er schwebt nicht, er steht auf Stelzen.“

Am Nachmittag waren sie Cantrel so nahegekommen, dass sie rings um die weißen Mauern ein Zeltlager erkennen konnten. Es war groß, und die Zelte standen so lückenlos, dass Galowyn entsetzt fragte: „Wird Cantrel etwa belagert?“

„Das weiß ich nicht“, antwortete der Zauberer. „Aber wir werden es bald erfahren.“

Als sie die ersten Zelte erreichten, beugte sich Aramar von seinem Pferd herab und hielt einen der Männer an der Schulter. Der lief geschäftig mit einem Eimer in der Hand. Er schien ein Bediensteter zu sein und war über die Störung seiner Beschäftigung durch den Fremden unwillig.

„Was wollen all die Leute hier?“ fragte der Zauberer.

Der Mann starrte ihn an, als sei er von allen guten Geistern verlassen, dann antwortete er spöttisch: „Das Gleiche wie Ihr selbst, die Königin heiraten!“

Aramar wollte noch eine Frage stellen, aber der Mann riss sich los und verschwand zwischen den Zelten.

„Mir scheint, es sind Freier“, sagte der Zauberer nachdenklich.

„Freier?“ fragte Galowyn.

„Ja, diese Männer wollen Königin Lunete heiraten.“

„Schau nicht so neidisch“, wandte sich Smyrna spöttisch an ihre Herrin. „Ich weiß, es wäre dein Traum, dass sich so viele Männer um dich drängeln.“

„Was muss das für eine Frau sein!“ seufzte Fallsta.

„Ich glaube nicht, dass es diesen Leuten um Frau Lunete geht. Sie wollen vielmehr die Herrschaft über Centratur. Jeder von diesen Gesellen hofft, Hochkönig zu werden.“

Sie durchquerten auf schlammigen Wegen die Zeltstadt. Vor zusammenklappbaren Tischen saßen Männer und würfelten. Weinkrüge lagen leer auf dem Boden, ein abgenagtes Hühnchen war achtlos zwischen die Zelte geworfen.

Als die Freier die Reisenden zu Pferd sahen, lachten sie und riefen: „Ihr kommt reichlich spät. Hier ist nichts mehr zu holen. Zu viele Hunde balgen sich schon um den Knochen. Verschwindet und spart euch eure Zeit. Ihr habt doch zwei Frauen dabei, was braucht ihr da noch Königin?“

Angewidert ritten der Zauberer und seine Begleitung weiter. Sie achtete nicht auf das dröhnende Gelächter hinter ihnen.

Vier Reiter kamen hoch zu Pferd an ihnen vorüber.

Sie hörten die Würfelspieler rufen: „Wo wollt ihr hin?“

„Bei den Bauern einsammeln.“

„Die haben doch nichts mehr.“

„Macht nichts, das Einsammeln macht auch so Spaß.“

Wieder dröhnte die Luft von Gelächter.

„Die holen sich unseren Proviant, den wir geschenkt haben“, sagte Smyrna bitter.

„Das glaube ich nicht“, sagte der Zauberer. „So verhungert wie die Leute in den Dörfern waren, ist sicher kein Krümel mehr übrig. Aber dieses ‘Einsammeln’ ist auch so schlimm genug.“

Schließlich erreichten sie das Stadttor, das weit offenstand. Wachen stellten sich ihnen in den Weg. Es war verboten, so erfuhren sie, Pferde mit in die Stadt zu nehmen. Deshalb blieb ihnen nichts übrig, als abzusitzen und ihr Gepäck und die Tiere Grosskorl und Rimo anzuvertrauen. Diese führten die Pferde in einen Mietstall neben dem Tor und richteten sich auf eine längere Wartezeit ein.

Als sie die hohen, weißen Toren durchschritten hatten, wussten sie, weshalb die Stadt für Pferde verboten war. König Meliodas hatte Straßen und Gassen mit weißem Marmor pflastern lassen, der durch Pferdehufe beschädigt worden wäre. Es war eine Welt ganz aus Stein, in der sie sich nun befanden. Straßen, Plätze, alles war mit weißen Platten belegt und die Häuser bestanden aus großen Marmorblöcken. Selbst der Fluss wälzte sich unterirdisch durch die Stadt. Kein Krümel Erde war zu sehen. Für Pflanzen war in dieser steinernen Pracht kein Raum. Aber die Natur hatte sich inzwischen zu ihrem Recht verholfen. Etliche der Platten waren nämlich gesprungen und in ihren Rissen wuchsen zaghaft Gras und sogar einige Blumen. Die breiten Straßen zwischen den prächtigen Häusern waren verschmutzt. Überall lag Unrat, und auf diesem Unrat wucherten Unkraut und Brennnessel.

„Wie kommt ein alter Waldläufer dazu, sich eine Stadt zu bauen, aus der die Natur verbannt ist?“ staunte Aramar. „Mein alter Freund, König Meliodas gibt mir immer mehr Rätsel auf.“

Auf den Straßen herrschte reges Treiben. Menschen in prächtigen Gewändern schritten gewichtig mit ihrem Gefolge zu irgendwelchen Treffen. Männern und Frauen mit Bündeln auf dem Kopf hasteten vorüber. Die Reisenden standen verloren in dem Trubel.

„Was bedeuten die eisernen Ringe, die einige der Leute um den Hals tragen? Sogar Kinder habe ich mit diesem Schmuck gesehen, “ fragte Fallsta, der von Galowyn und Smyrna gestützt wurde.

„Das ist kein Schmuck“, antwortete Aramar bitter. „Der Ring ist das Sklavenzeichen. Hier in dieser Stadt werden Sklaven gehalten. Weit ist es gekommen mit der Freiheit und Gleichheit, für die Meliodas und ich einst eingetreten waren. Was für eine abscheuliche Stadt! Wir müssen zum Palast. Ich will mit Königin Lunete sprechen.“

Der Weg war nicht zu verfehlen, denn ganz gleich, wo man sich in der Stadt aufhielt, man sah den Palast hoch über der Stadt thronen und in der Sonne blitzen, so dass man geblendet die Augen Schloss. Die Reisenden drängten sich durch die Menschenmenge, wurden von Wirten und Dirnen angesprochen, liefen durch Gassen und Straßen und standen endlich vor der breiten Treppe, die zum Sitz des Hochkönigs empor führte.

Doch bevor sie sich an den Aufstieg machten, sahen sie sich erst einmal das wundersame Bauwerk an. Es stand auf hohen Säulen und war so weiträumig, dass es unter ihm dunkel war. Am Ende der breiten Treppe mit den vielen Stufen zog sich eine Plattform über die gesamte Breite hin, und erst dahinter waren die eigentlichen Eingänge.

„Ich weiß nicht, was sich Meliodas gedacht hat, als er dieses Monstrum errichten ließ?“ sagte Aramar noch immer verwundert. Diese Pracht vermittelte ihm ein anderes Bild des verstorbenen Freundes, als er es in Erinnerung hatte.

„Bevor wir hineingehen, sollten wir Quartier nehmen“, sagte Galowyn. „Fallsta kann nicht mehr.“

„Wir werden im Palast schlafen“, antwortete der Zauberer.

Ohne zu zögern schritt er die Freitreppe empor. Aber kaum hatten sie die Hälfte der Stufen zurückgelegt, da wurden sie von oben angerufen. Eine barsche Stimme befahl ihnen, sofort stehen zu bleiben und umzukehren. Aramar kümmerte sich nicht weiter darum. Nun kamen ihnen vier Männer entgegen. Sie trugen hohe Helme und hielten lange Lanzen auf die Fremden gerichtet. Man sah ihren Gesichtern an, dass sie entschlossen waren, sich Gehorsam zu verschaffen.

„Wohin wollt Ihr?“ fragte ihr Anführer streng.

„Zur Königin“, antwortete Aramar freundlich.

Einem verdutzten Schweigen folgte schallendes Gelächter.

„Zur Königin wollen viele Leute und keiner ist bisher vorgelassen worden. Was gibt Euch die Hoffnung, bei Euch werde eine Ausnahme gemacht?“

„Wir sind Freunde der Königin.“

„Habt Ihr draußen das Zeltlager um die Stadt gesehen?“

Aramar nickte.

„Das sind alles Freunde der Königin. Königin Lunete hat so viele Freunde, dass das Land daran zu Grunde geht. Sie haben alles kahl und leer gefressen, diese Freunde. Und alle diese Freunde wollen nur das eine, sie wollen zu unserer Herrin. Sie haben unsere Herrin so gern, diese Freunde, dass sie am liebsten zu ihr ins Bett kriechen möchten. So ist das mit den Freunden. Die Herrin will aber diese Freunde gar nicht sehen. Am liebsten wäre es ihr, sie würden alle verschwinden. Also verzieht Euch und zwar rasch!“

„Wir gehören nicht zu den Freiern, sondern haben eine wichtige Botschaft“, mischte sich nun Galowyn ein.

„Die Botschaft könnt Ihr mir sagen, und weitere Ausreden braucht Ihr Euch nicht auszudenken. Übrigens seid Ihr die ersten Frauen unter den so genannten Freunden. Das überrascht mich ein wenig. Sklavinnen könnt Ihr nicht sein, denn ich sehe keinen Ring. Was also wollt Ihr.“

„Ich bin Galowyn, die berühmte Sängerin. Und das ist Smyrna, meine Dienerin. Der Mann vor Euch ist Aramar, der große Zauberer. Und da ist noch Fallsta, unser Freund, der dringend ein Bett braucht. Genügt Euch diese Erklärung und macht Ihr nun endlich den Weg frei?“

„Ihr seid wirklich hartnäckig! Als Sängerin und Zauberer hat es bis jetzt noch keiner versucht. Ihr habt Euch wirklich etwas einfallen lassen. Nun aber genug! Ihr habt uns schon zu viel Zeit gestohlen. Kehrt um, oder Ihr werdet es bereuen!“

Aramar wurde langsam ungeduldig. Ärgerlich sagte er: „Mir reicht es jetzt! Ich bin nicht gewohnt, von der Wache abgefertigt zu werden. Macht Platz und haltet uns nicht länger auf! Wir haben keine Zeit zu verlieren!“

Die Worte des Zauberers wischten die letzte Freundlichkeit aus den Gesichtern der Wachleute. Die Speerspitzen wiesen nun genau auf die Herzen der Fremden. Es war klar, wenn sie nicht umkehrten, würde es zum Kampf kommen. In diesem Moment trat aus dem Palast ein Mann in einer schimmernden Uniform. Sie war silbern und schwarz, und auf dem Kopf trug er einen blitzenden Helm. Er rief den Soldaten zu, sie sollten innehalten und die Fremden zu ihm bringen. Langsam schritten die Männer rückwärts die Treppe hinauf. Sie senkten die Speere keinen Daumen breit. Die Freunde folgten ihnen.

Der Vorsteher der Garde im Palast von Cantrel war ein mächtiger Mann, wie Aramar seinen Gefährtinnen beim Emporsteigen leise erklärte. Ihm oblag nicht nur der Schutz des Königs, sondern die Verteidigung der ganzen Stadt. Der Mann, der sie auf der weiten Terrasse über den Dächern von Cantrel erwartete, war hochgewachsen und überragte Aramar. Er ließ sich Namen und Herkunft der Fremden genau nennen; bereitwillig gaben diese Auskunft. Dann fragte der Zauberer nach dem Namen des Hauptmanns.

„Ich bin Vorsteher Kuri. Von Euch, Aramar, habe ich schon gehört. Ihr wart einst mit dem König befreundet gewesen, dessen Tod ich nicht verhindern konnte.“

„Ihr seid dabei gewesen, als er starb?“ fragte der Zauberer rasch.

„Ich sah ihn in den Fluss steigen. Er ließ sich nicht zurückhalten.“

Sofort begann Aramar zu fragen, wer noch dabei war, wie viele Leute das Unglück gesehen hatten, was die letzten Wort Meliodas gewesen waren und vieles mehr.

Der Mann in der prächtigen Rüstung gab bereitwillig Auskunft: „Wir waren schon einige Tage unterwegs, und der König hatte schlechte Laune. Wahrscheinlich, weil ein paar Hofschranzen ständig um ihn waren und irgendwelche Privilegien herausschlagen wollten. Dann wurden wir auch noch überfallen. Es war nicht gefährlich, aber der König ärgerte sich maßlos, dass man es wagte, ihn selbst anzugreifen. An diesem Abend schlugen wir unser Lager am Ufer des Tessenfluss auf. Er war reißend und führte Hochwasser. Am Morgen des Unglücks war Meliodas schon früh auf und wollte ausgerechnet im Fluss baden. Ich weiß nicht, was ihn zu diesem Wahnsinn trieb. Vielleicht wollte er sich selbst beweisen, dass er noch jung und tatkräftig war. Ich warnte ihn, doch er hörte nicht auf mich. Kurze Zeit später ertrank er.“

„Wo wart Ihr, als es geschah? Wer hat die Leiche untersucht? Wo waren die anderen aus dem Gefolge zu diesem Zeitpunkt?“

„Ich bin Euch keine Rechenschaft schuldig“, unterbrach ihn Kuri unwillig. „Auch, wenn Ihr König Meliodas gekannt habt, so gibt Euch das kein Privileg. Geht nun und verlasst die Stadt!“

„Wir müssen die Königin sprechen!“

„Das wollen viele.“

Nun wurde der Zauberer ungeduldig und sagte barsch: “Entweder Ihr lasst uns vor oder wir verschaffen uns Zutritt.“

Der Vorsteher sah den Fremden vom Kopf bis zu den Füßen an, dann lächelte er: „Belohnt Ihr mir mit diesem Ton meine Freundlichkeit? Doch ich verzeihe Euch und werde Euch der Königin melden. Heute kann ich Euch jedoch nicht mehr vorlassen. Kommt morgen wieder, dann sollt Ihr die Königin sehen!“

Aramar zögerte ein wenig, dann nickte er: „Morgen früh werden wir hier sein.“

Er gab seinen Begleitern einen Wink, und sie stiegen die hohe Treppe wieder hinab.

Unterwegs sagte der Zauberer: „Wir hätten uns durchkämpfen können, aber ich will keinen Ärger. Außerdem geht es Fallsta nicht gut.“

Nun galt es, in der überfüllten Stadt ein Zimmer zu finden. Nach langem Suchen kamen sie in einem Haus nahe der Stadtmauer unter, das sich einst eine reiche Familie gebaut hatte. Es war groß und mit Treppen, Erkern und Balkonen versehen. Von außen sah es noch immer imposant aus, aber die Fassade verbarg nur das Elend im Innern. Das Gebäude war heruntergekommen, schmutzig und schäbig. Es diente als Gasthaus und alle Räume waren vermietet. In den großen Sälen, in denen einst rauschende Feste gefeiert worden waren, logierten nun bis zu dreißig Leute. Sie schliefen auf Strohsäcken auf dem Boden. Der Schmutz war unbeschreiblich. Die Menschen verrichteten ihre Notdurft einfach auf dem Gang. Da niemand da war, um den Unrat weg zu machen, stank das ganze Haus. Die einstige Pracht hatte sich in ihr Gegenteil verkehrt. Die Reisenden bekamen eine kleine Kammer zugewiesen. Sie lag im zweiten Stock und hatte früher wohl als Dienstbotenunterkunft gedient.

Der Wirt, der sie führte, kümmerte sich nicht um den Dreck und die Menschen, die überall lagen. Solange sie ihn bezahlten, schien er ganz zufrieden. Wie selbstverständlich tänzelte er zwischen Kot und Leibern. Er hielt dabei eine Kerze in der Hand und redete ununterbrochen. Mit einem Blick auf den schwankenden Fallsta, den Smyrna und Galowyn stützten, fragte er, ob er zwei Frauen zum Wärmen schicken solle.

Verwundert erkundigte sich Smyrna nach dem Sinn dieses Angebots.

„Oh, sie wärmen mit ihren Körpern Euren Freund und ziehen zugleich alle Gifte aus seinem Leib.“

„Das ist nicht nötig“, sagte Aramar mit unterdrücktem Zorn.

„Aber vielleicht macht es ihm Spaß, und Vergnügen ist der beste Arzt.“

„Nein, ich will nicht“, keuchte nun auch Fallsta.

„So hört Euch wenigstens die günstigen Preise an. Zwei Mädchen unter zwanzig Jahren kosten vierzig Dinra. Für Frauen älter als zwanzig Jahre verlange ich dreißig Dinra, und für Frauen, die schon vierzig Jahre hinter sich haben, müsst Ihr nur noch zehn Dinra zahlen. Gebt zu, dass dies günstig ist. Ich habe Euch nämlich einen Sonderpreis gemacht. Die Frauen kommen aus Muriel und sind erste Qualität. Auch Ihr anderen könnt Euch an den Frauen wärmen, wenn Ihr wollt.“

Es war schwierig, dem Wirt klar zu machen, dass sie seine Offerte ausschlugen. Aramar versuchte es sehr höflich, denn er wollte kein Aufsehen erregen. Aber der Mann blieb hartnäckig und wollte unbedingt seine Frauen schicken, so dass der Zauberer am Ende doch einige deutliche Worte sagen musste. Endlich waren sie allein und Fallsta auf einen Strohsack gebettet. Aramar hatte unterwegs Kräuter und Beeren gesammelt, mit denen er den Fiebernden versorgte. Dann schlief der Goldgräber ein.

Die Frauen waren zwar müde, hatten aber keine Lust, bis zum Schlafen in dem muffigen Zimmer zu bleiben. Deshalb liefen sie noch ein wenig durch die Straßen. Aramar blieb bei Fallsta.

Auf den Straßen drängten sich noch immer Leute. Man konnte Männer aus aller Herren Länder sehen, in den unterschiedlichsten Kleidern und Trachten. Die wenigen Frauen dagegen waren dem Aussehen nach Dienerinnen und Sklavinnen. Natürlich gab es auch Huren und Strichjungen, die nach Freiern suchten und, wie Galowyn und Smyrna bemerkten, auch fanden. Vor den Häusern standen Bänke und Tische für Zecher. Sie waren gut besetzt. Krüge mit rotem Wein und gelbem Bier wurden herumgereicht. Die Männer lachten und grölten und hoben ihre Becher. Gespannte Erwartung lag über dem bunten Treiben, denn in den Stunden vor Sonnenuntergang sollten in der Arena der Stadt Gladiatorenspiele stattfinden.

Wundervolle Standbilder, auch sie aus Marmor, zierten die Straßen. Niemand blickte sie mehr an, und so manchem waren die Nase oder gar ein Arm abgeschlagen. Waren Übermut oder Achtlosigkeit für die Zerstörung der Kunstwerke verantwortlich gewesen?

Die Sängerin und ihre Dienerin fielen in diesem geschäftigen Treiben nicht auf. Sie schlenderten zwischen den Gruppen hindurch, tranken im Stehen einen Becher Wein und gelangten schließlich vor ein geräumiges Haus, in das viele Menschen strömten. Neugierig gingen sie näher und erkannten ein Badehaus. Nach der langen Reise und dem Staub der Landstraßen hatten sie Sehnsucht nach einem Bad. Deshalb schlossen sie sich den Leuten an und drängten sich durch die mächtigen Säulen hinein. Hinter dem Eingang saß eine Sklavin. Ihr zahlten sie je einen Dinra. Dahinter öffnete sich eine weite Vorhalle. Dort legten alle ihre Kleider in steinerne Nischen, die von nackten Sklavinnen bewacht wurden.

Da wurden dicke Bäuche und schwammiges Fleisch sichtbar, aber auch straffe Muskeln und narbige Oberkörper. Behaarte Männer gingen so selbstverständlich durch den Durchlass ins Innere wie solche, deren weißes Fleisch das Auge blendete. Ungeniert sahen sich die beiden Frauen diese Parade an. Doch eine Stimme unterbrach ihre Beobachtung: „Darf ich die beiden Damen ins Innere dieses Tempels des Wohlbefindens und der Lust geleiten? Doch wollt Ihr Euch nicht zuvor dieser elenden Hüllen entledigen, durch die so viel Schönheit dem Auge des genießenden Beschauers verborgen bleibt? Ihr seid neu hier, das sieht ein Kundiger sofort. Darf ich mich anheischig machen, Euch hier einzuführen? Es wäre mir eine Ehre, wenn ich Euch mit den Gepflogenheiten dieser erquicklichen Einrichtung vertraut machen dürfte. Schon bevor Ihr die Kleider abgestreift habt, kann ich sagen, dass dieses Haus heute durch Euch eine Bereicherung erfährt.“

Galowyn und Smyrna sahen sich um. Hinter ihnen stand ein kleines Männchen mit waberndem Bauch und einem dünnen Haarkranz um seinen kahlen Schädel. Er lächelte gewinnend und redete in einem fort.

„Wenn es den Damen recht ist, würde ich sie nach den Erquickungen, die dieses Haus zu bieten vermag, noch zu den Spielen in die Arena führen. Aber zuvor wollen wir uns andren Spielen widmen.“

Bei diesen Worten stieß er ein meckerndes Gelächter aus. Die Sängerin sah ihn misstrauisch an und schritt, ohne sich weiter um den aufdringlichen Alten zu kümmern, auf den Eingang ins Innere zu und Smyrna folgte ihr.

„Halt“, hörte sie hinter sich, „Ihr müsst Euch erst entkleiden. So wie Ihr Euch befindet, ist der Eintritt nicht gestattet.“

Sie traten nicht ein, aber sie erhaschten einen Blick auf den großen Raum. An den Wänden saßen nackte Frauen und schienen zu warten. Hin und wieder trat ein Mann auf sie zu, gab ihnen ein Zeichen, und sie folgten ihm ins Wasser oder zu Räumen im Hintergrund. In dampfenden Wasserbecken und an ihren Rändern kopulierten Paare. Nackte Sklavinnen liefen zwischen ihnen hindurch und versorgten alle mit Getränken und Essen.

Die Sängerin und ihre Dienerin sahen sich wortlos an. Damit hatten sie nicht gerechnet, und die Lust auf ein Bad war ihnen gründlich vergangen. Sie wandten sich ab und verließen dieses Badehaus. Hinter sich hörten sie noch die Stimme des Alten: „Aber meine Damen, wo geht Ihr denn hin? Warum wollt Ihr Euch nicht entspannen? Ich hätte Euch mit Freuden in diese Gesellschaft eingeführt. Wollen wir uns für morgen verabreden?“

Zu einem weiteren Bummel durch die Stadt hatten sie nun keine Lust mehr. Deshalb kehrten sie zu Aramar und Fallsta zurück, packten die Reste ihrer Vorräte aus und aßen zusammen mit den beiden Männern auf dem Zimmer.

Der Anschlag

Später legten sich alle auf den Fußboden zum Schlafen, denn sie waren von der anstrengenden Reise rechtschaffen müde. Eine wirkliche Gefahr befürchteten sie hier inmitten der Stadt nicht und teilten deshalb auch keine Wachen ein.

Mitten in der Nacht öffnete sich leise die Tür und herein schlich eine dunkle Gestalt. Der Eindringling kroch zielstrebig zu Aramar und zog eine feine Schnur hervor. Sie war gewachst und hatte einen hölzernen Griff an ihren Enden. Behutsam legte er die Schnur um den Hals des Zauberers und zog sie mit einem Ruck zusammen. Die Schlinge schnitt tief ins Fleisch, und Aramar war sofort wach. Er riss die Hände hoch, und umfasste die Schnur, um sich zu schützen. Es gelang ihm auch, zwei Fingerspitzen zwischen seinen Hals und das Mordwerkzeug zu schieben. Doch die Würgeschnur durchschnitt seine Finger. Blut lief ihm über Hals und Hände. Diesen Angriff konnte der stärkste Mann nicht überleben. Dabei ging alles ganz lautlos vor sich. Man hörte nur das Keuchen von Angreifer und Opfer.

Da änderte sich auf einmal die Situation. So fest die dunkle Gestalt auch zog, die Schlinge bewegte sich nicht mehr. Der Hals des Zauberers schien plötzlich aus Eisen zu sein. Langsam drehte sich Aramar herum und sah seinem Peiniger ins Gesicht. Dann fasste er an den Hals der Gestalt und drückte zu. Nach wenigen Sekunden brach der Meuchelmörder tot zusammen.

Inzwischen waren auch die anderen erwacht. Erschüttert sahen sie auf die schwarz gekleidete Gestalt und fragten den Zauberer, was vorgefallen war. Der keuchte noch und tupfte das Blut von seinem Hals. Dann wickelte er sich einen Lappen um die verwundete Hand.

„Irgendjemand will mir ans Leben und schickte einen Meuchelmörder. Bei all dem Gesindel, das sich hier herumtreibt, war es sicher kein Problem, einen Strolch für diese schmutzige Arbeit zu finden. Das bedeutet, wir sind sogleich nach unserer Ankunft jemanden auf die Füße getreten.“

„Das war knapp“, stammelte Smyrna. „Wie habt ihr Euch denn retten können?“

„Jeder andere an meiner Stelle wäre sicher tot. Ich nehme an, der Mörder wollte einen von uns nach dem anderen erwürgen. Sein Pech, dass er zuerst auf mich traf. Der Eiserne Panzer hat mich gerettet. Es ist eine Übung, die wir in unseren Klöstern lernen. Eiserner Panzer heißt, dass unsere Körper durch die Kraft unsres Willens völlig unangreifbar und für Schmerzen unempfindlich werden. Nicht einmal kochendes Wasser könnte uns in diesem Zustand etwas anhaben. Nur eine einzige Stelle des Körpers bleibt immer angreifbar, aber die kennt der Feind nicht.“

„Kann das jeder lernen?“

„Ja, aber es bedarf langer Übungen und auch Enthaltsamkeit. Der Eiserne Panzer wird erst in einer sehr späten Stufe der Einweihung verfügbar. Ich glaube nicht, dass es heute noch viele Menschen gibt, die ihn beherrschen.“

Aramar hatte zwar den Eisernen Panzer bei diesem Angriff aktiviert, aber er war dennoch schwer verwundet worden. Die beiden Frauen verbanden ihn nun ordentlich. Der Einschnitt am Hals verlief waagerecht. Dicht neben der Wirbelsäule waren Druckstellen von den hölzernen Griffen. Die gewachste Schnur war tief ins Fleisch gedrungen und hätte beinahe die Schlagader durchtrennt. Um die Bemühungen der Frauen zu unterstützen, konzentrierte sich der Zauberer und stoppte so die Blutung. Endlich war er mit Leinenstreifen, die zuvor zum Unterrock Smyrnas gehört hatten, versorgt.

Fallsta, der alles nur im Dämmern des Fiebers mitbekommen hatte, schlief schon wieder und die anderen legten sich auch wieder hin. Doch schliefen sie in dieser Nacht nicht gut, und besonders Smyrna dachte ständig darüber nach, was dieser Überfall wohl bedeuten mochte. Am nächsten Morgen zündeten sie zwei Kerzen an und untersuchten den Toten. Er hatte ein schmales Gesicht und eine scharfe, lange Nase. Seine Kleidung war abgerissen und schmutzig. Man sah keine Todesspuren, er war unter Aramars Griff einfach entschlafen.

„Es ist ein Süchtiger!“ sagte der Zauberer, als er sich nach der Untersuchung wieder aufrichtete. „So jemand macht alles für Geld.“

„Süchtiger?“ fragte Galowyn.

„Es gibt da einen Pilz. Wenn man ihn zu Staub zerreibt und danach röstet, entsteht ein braunes Pulver. Leute, die dieses Pulver schnupfen, vergessen die Welt und erleben die schönsten Träume. Man nennt das Zeug Kir oder Schöntod und jeder, der es mehr als zweimal genommen hat, wird süchtig danach. Es sind nicht allein die Träume, nach denen man sich sehnt, der Körper will ganz einfach das Gift. Er schreit danach. Man glaubt zu sterben, wenn man seine Portion Schöntod nicht rechtzeitig bekommt. Der Preis für das Zeug ist unglaublich hoch, aber die Menschen geben alles, nur um weiter schnupfen zu können. Gleichzeitig sterben sie dabei einen langsamen Tod. Daher kommt auch der Name.“

„Habe ich diesen Pilz schon einmal gesehen? Wie heißt er? Wie sieht er denn aus?“ fragte Smyrna neugierig.

„Der Pilz selbst hat den Namen Raissi. Ich glaube nicht, dass du ihn je zu Gesicht bekommen hast. Er ist sehr selten. Der Pilz wächst auf dem Holz von lebenden Gruschibäumen. Stirbt der Baum, so stirbt auch der Pilz. Zwar sieht Raissi aus wie jeder andere Pilz mit Stiel und Kappe, aber er ist hart wie Holz und unbehandelt absolut ungenießbar. In alten Zeiten war er ausschließlich Königen vorbehalten, die ihn kochen und sich einen Tee daraus bereiten ließen. In dieser Form macht Raissi nicht süchtig, sondern erweitert den Geist und stärkt die Gesundheit. Wer einen Raissi fand und ihn dem König nicht ablieferte, wurde mit dem Tod bestraft. Die Könige kannten in diesem Fall keine Gnade und verfolgten den Raissimissbrauch unbarmherzig. Inzwischen aber achtet niemand mehr auf das Gesetz, und einige gerissene und skrupellose Menschen haben entdeckt, dass sich aus ihm ein starkes Rauschgift, eben Schöntod, gewinnen lässt. Da der Pilz so selten ist, ist auch das Gift ungeheuer teuer.

Ich dachte schon, das Problem hätte sich erledigt, weil es keine Pilze mehr gibt. Aber ich habe mich getäuscht. In Centratur ist heute wieder alles denkbar und möglich.“

„Und woher wollt Ihr wissen, dass dieser Mann ein Süchtiger ist?“

„Hier, seht die blauen Flecken um seine Nase und den feinen Ausschlag hinter dem Ohr. Dies sind untrügliche Zeichen. Ich dachte, es gäbe in Centratur keine Süchtigen mehr. Dieses Übel wäre überstanden und ausgerottet. Aber hier hat sich alles zum Schlimmen verändert. Doch nun genug davon. Der Tote muss endlich weggebracht werden.“

Auf dem Gang fand der Zauberer den Wirt und bestellte zwei Träger, die auch bald darauf kamen. Es waren Männer mit Eisenringen um den Hals. Sie waren nackt, bis auf zerrissene Tücher um ihre Lenden. An den Füßen trugen sie einfache Ledersandalen. Ihr Besitzer war auch gleich mitgekommen und verlangte Vorauszahlung. Der Preis für das Wegschaffen der Leiche war unverschämt hoch, aber Aramar feilschte nicht. Die beiden Sklaven hatten eine einfache Bahre aus zwei Holzstäben und einem festen Stoff dazwischen mitgebracht, darauf wurde der Tote geladen. Dann machten sich alle auf den Weg. Zurück blieb nur Fallsta, der noch immer vor sich hindämmerte.

Es war schwierig, die Bahre über all die Gestalten, die auf den Gängen und vor den Zimmern lagen, zu heben und alle atmeten auf, als sie vor dem Haus im Tageslicht standen. Wie eine Prozession setzen sie sich in Bewegung, ihr Ziel war der Palast. Auf der Straße erregten sie allgemeine Aufmerksamkeit, und eine große Menschenmenge folgte ihnen. Wie ein Lauffeuer sprach es sich in der Stadt herum, dass vor dem Königspalast ein Schauspiel zu erwarten sei. Keiner wollte es sich entgehen lassen. Die Neugier der Leute ist eben leicht zu erregen und erlahmt nie.

Als sie vor der großen Treppe ankamen, war ihr Kommen schon angekündigt worden. Oben auf der Terrasse stand eine dichte Mauer aus Wachen und vor ihrer Front der Vorsteher. Sie machten alle ernste Gesichter und waren sich ihrer Würde bewusst. Sie verkörperten schließlich das Recht in dieser Stadt.

„Wen bringt Ihr Uns auf dieser Bahre, Aramar?“ fragte von oben dröhnend der Befehlshaber.

„Einen Meuchelmörder“, rief der Zauberer zurück.

„Was hat er getan?“

„Er hat versucht, mich zu töten. Seht meine Wunden.“

„Wir wollen sie nicht sehen, sondern fragen Euch, weshalb Ihr gesund vor Uns steht, wenn er Euch nach dem Leben trachtete?“

„Ich konnte mich zur Wehr setzen, und er verlor den Kampf.“

„Dann ist er zumindest kein Mörder, denn er ist tot und Ihr lebt.“

„Wichtig ist nicht die Tat, sondern die Absicht. Er wollte mich töten!“

„Das behauptet Ihr. Zu Uns aber sind Zeugen gekommen, die eine ganz andere Geschichte erzählen.“

Fünf Männer traten auf aus der Menge und schritten die Treppe empor. Fünf Stufen unterhalb der Garde in ihren schimmernden Uniformen stellten sie sich in einer Reihe mit dem Gesicht nach unten zur Menge auf. Sie trugen teure Kleider und hatten die Haare sorgfältig frisiert. Sie waren allesamt noch jung.

„Was habt Ihr zu sagen, Zeugen?“ rief Kuri.

„Dieser Mann hat unsren Freund ohne Grund getötet.“

Dabei wiesen sie mit den Fingern auf Aramar.

„Woher wisst Ihr das?“

„Wir haben es gesehen.“

„Berichtet!“

Hatten sie bisher wie ein Chor im Gleichklang gesprochen, so wechselten sie sich bei dem folgenden Bericht untereinander ab.

„Wir saßen friedlich in der Taverne ‘Zum Palast’ bei einem Würfelspiel. Da kam dieser alte Mann herein. Er ging zu unserem Tisch und sprach uns an.“

Hier unterbrach sie Kuri und rief: „Kann das jemand bezeugen?“

Ein dicker Mann drängte sich nach vorn, stieg fünf Stufen hinauf und schrie aus Leibeskräften: „Ja, ich!“

„Wer seid Ihr?“

„Ich bin der Wirt und habe alles gesehen.“

„Fahrt fort!“

„Er kam also an unseren Tisch und fragte, ob wir viel Geld verdienen möchten. Dies verneinten wir, denn auf redliche Weise verdient man niemals viel Geld. Doch er gab nicht auf, lud uns zum Trinken ein und bezahlte auch noch unser Essen. Dies war uns peinlich, aber er ließ sich nicht zurückhalten.“

„Wirt, stimmt das?“

„Ja, Herr!“

„Endlich, der Abend war weit fortgeschritten, und der alte Mann hatte viel getrunken. Deshalb bat er uns, ihn nach Hause zu bringen. Wir standen zwar nur gegen unseren Willen in seiner Schuld, aber als höfliche Menschen entsprachen wir seiner Bitte. In seiner Unterkunft war es dunkel, aber wir begriffen sofort, was er von uns wollte. Er versuchte uns zu küssen und bedrängte uns, mit ihm unsittliche Dinge zu tun. Wir wiesen dies natürlich empört von uns. Da wurde er wütend und griff uns an. In der Dunkelheit konnten wir uns nicht richtig zur Wehr setzen, und plötzlich war unser Gefährte tot. Dieser Mann hat ihn umgebracht. Wir rannten aus dem Zimmer, alarmierten den Wirt des Hauses. Der riet uns, bis zum Morgen zu warten, denn mit diesem Berserker sollte man sich in der Dunkelheit besser nicht anlegen.“

„Ist auch der Wirt der Herberge hier?“ fragte der Befehlshaber mit strenger Stimme.

Der trat vor, watschelte fünf Stufen empor und stellte sich neben seinen Kollegen: „Ich kann alles bezeugen, was diese ehrenwerten Herren berichten.“

Ein Murmeln ging durch die Menge und irgendwer schrie: „Hängt das alte Schwein auf.“

Doch Kuri hob die Hand und brachte damit die Menge zum Schweigen.

„Nun Aramar, was habt Ihr zu diesen Anschuldigungen zu sagen?“

„Sie sind erstunken und erlogen“, mischte sich Galowyn ein. „Ich kann bezeugen, dass kein Wort von alledem stimmt.“

„Eine weitere Zeugin“, stellte der Vorsteher fest. „Tretet neben die Wirte und macht Eure Aussage.“

Galowyn kletterte eilig die Stufen empor und begann: „Ich bin die berühmte Sängerin Galowyn und komme aus dem Norden. Ich war die ganze Zeit mit Aramar zusammen und habe alles gesehen. Es hat sich ganz anders abgespielt.“

„Ihr seid eine herumziehende Sängerin, eine Gauklerin!“ rief nun ein Mann aus der Palastwache, der neben dem Vorsteher stand. „Vom fahrenden Volk weiß man, dass es immer lügt und betrügt. Ihr wollt gegen ehrenwerte Männer dieser Stadt aussagen? Ich beantrage, auf diese Aussage zu verzichten.“

„Ein Antrag wurde gestellt“, ergriff der Vorsteher wieder das Wort. „Wer ist für diesen Antrag?“

Viele Hände erhoben sich in der Menge.

„Und wer ist dagegen?“

Kein Arm wurde gestreckt.

„Damit ist es entschieden, Galowyn. Wir wollen Eure Aussage nicht hören. Aramar, was habt Ihr zu Eurer Verteidigung zu sagen?“

„Dies alles ist ein abgekartetes Spiel“, rief der Zauberer. „Hier werden aus Tätern Opfer und aus Opfern Täter gemacht. Das Ziel dieses Komplotts ist mir leider nicht klar.“

„Ihr erhebt eine schwere Beschuldigung gegen alle diese Zeugen hier. Doch soll Euch Gerechtigkeit widerfahren. Wir werden deshalb Eure Vorwürfe auf das genauste untersuchen. Bis zum Ende Unserer Nachforschungen müssen Wir Euch jedoch in Haft nehmen. Wir befehlen Euch und Euren Begleiterinnen, kommt zu Uns empor und ergebt Euch.“

Kuri hatte mit ruhiger Stimme gesprochen, die keinen Widerspruch duldete.

„Und was geschieht mit diesen falschen Zeugen?“ fragte Aramar.

Aber der Vorsteher unterbrach ihn: „Die Verhandlung ist vertagt. Ihr werdet noch genügend Gelegenheit zur Rechtfertigung bekommen. Begebt Euch nun in Unseren Gewahrsam.“

Seufzend zuckte der Zauberer mit den Schultern und stieg zusammen mit seinen Begleiterinnen die Stufen empor. Oben nahmen sie die Wächter gefangen. Nun konnten sie auch sehen, dass in die Terrasse eine Treppe nach unten eingelassen war, die in die Tiefen des Palastes führte. Diese steinernen Stufen mussten sie hinabsteigen. Schließlich fanden sich alle drei in einer Zelle wieder.

Die Verfemten

Fallsta hatte tief geschlafen und von den Ereignissen der Nacht nur wenig mitbekommen. Als er erwachte, ging es ihm schon viel besser. Er wartete auf die Rückkehr seiner Gefährten. Doch die Zeit verging und nichts geschah. Schließlich erhob er sich und kleidete sich an. Dann machte er sich auf den Weg, um sie zu suchen. Niemand beachtete ihn, als er das Haus verließ. Auf der Straße folgte er den Leuten, die zum Palast strömten. Ganz hinten, bei den Nachzüglern stehend erlebte er noch, wie seine Freunde verhaftet wurden.

Ohne lange zu überlegen, stahl er sich aus der Menge und suchte ein Versteck. Ein eiserner Zaun versperrte den unteren Teil des Palastes. Ihn überstieg der Goldgräber und drang in ein seltsames Reich vor. Der Palast thronte auf Stelzen über der Stadt. Der Zwischenraum zwischen ihm und dem Boden war so hoch, dass ein großer Mann aufrecht daruntergehen konnte. Es war also möglich, unter dem Gebäude zu spazieren. Doch die Erkundung dieser Unterwelt war nicht bequem. Fallsta musste den Stützen, die den Palast trugen, ausweichen und über Abflüsse steigen, durch die Schmutzwasser, Fäkalien und Abfälle in den Tessenfluss geschwemmt wurden. Hier unten war alles ungepflegt und hässlich. Keine schlanken Säulen erfreuten das Auge, sondern breite, gemauerte Stützpfeiler versperrten den Weg. Die Luft war abgestanden und es stank. Ratten und andere ekelhaften Tiere huschten in dunkle Löcher. Bald war der Goldgräber sehr tief unter dem Bauwerk, und es wurde immer dunkler. Das Tageslicht war hinter ihm zu einem schmalen Streifen geworden.

Plötzlich gaben seine Sinne Alarm, und er verbarg sich zwischen zwei senkrechten Röhren aus gemeißeltem Stein. Hinter ihnen lugte er hervor und sah zwei seltsame Männer. Der eine trug einen teuren, pelzbesetzten Umhang und der andere die abgerissenen Kleider eines Soldaten, der schon viele Schlachten überlebt hat. Der Vornehme hatte einen Spieß und der Soldat ein schartiges Schwert.

„Da ist niemand“, sagte der Soldat. „Komm wir kehren um. Den Alarm wird eine Katze oder ein streunender Hund ausgelöst haben.“

Beinahe hätte Fallsta laut geflucht. Da war er doch in eine primitive Falle gelaufen. Vor einer Weile war er über irgendeine Unebenheit im Boden gestolpert und hatte das Hindernis nicht untersucht. Er hätte sicher einen sinnreichen Mechanismus aus Schnüren entdeckt und sich darauf einstellen können.

„So schnell gebe ich nicht auf“, sagte der Vornehme. „Wir sind für das Wohl der Gemeinschaft verantwortlich.“

„Eine schöne Gemeinschaft ist das“, knurrte der Soldat. „Bürger und verdiente Soldaten, die sich wie Ratten vor dem Tageslicht verstecken.“

„Das solltest du nicht so sehen. Die Zeiten werden sich auch wieder ändern. Ich habe viel mehr verloren als du.“

Die beiden liefen noch ein wenig planlos herum und zogen sich dann zurück. Fallsta atmete auf. Er folgte den beiden vorsichtig von Säule zu Säule huschend.

Von nun an war er auf der Hut und hielt Ausschau nach weiteren Alarmschnüren. Zweimal noch musste er ausweichen. Die Luft war jetzt unerträglich stickig und feucht, und seine Erkältung machte dem Goldgräber wieder zu schaffen. Die Nase begann zu laufen, er musste niesen. Die beiden Männer waren jetzt verschwunden. Dafür tauchten wie aus dem Nichts andere Männer auf. Sie umringten ihn und eine spöttische Stimme sagte: „Gesundheit! Kompliment ihr habt alle unsre kleinen Fallen bemerkt. Es war wirklich beeindruckend, mit welchem Geschick ihr unsren beiden Lockvögeln gefolgt seid.“

„Wer seid ihr?“ stammelte Fallsta und spürte auf einmal, dass er hohes Fieber hatte.

„Wir sind die wirklichen Einwohner dieser Stadt.“

Fallsta drehte sich um sich selbst. Er sah die Leute und wunderte sich, denn sie verschwammen vor seinen Augen. Er begann zu wanken, und die Leute wankten mit. Endlich brach er zusammen und blieb ohnmächtig liegen.

Der Goldgräber erwachte auf einer Pritsche. Er war mit Decken zugedeckt und fror dennoch. Das einzige Licht in dem niederen Raum spendete ein Kerzenstummel, der mehr vor sich hin glomm, als dass er brannte. Er stand leise auf und untersuchte die Tür. Sie war verschlossen. Erschöpft legte er sich wieder aufs Bett und wartete. Schließlich traten ein Mann und eine Frau ein. Sie setzten sich zu ihm auf sein Lager.

Die Frau trug einen roten Umhang, der auch schon bessere Tage gesehen hatte. Ihr Haar war lang und verfilzt. Im Zwielicht konnte Fallsta ihr Alter nicht abschätzen. Der Mann hingegen war eindeutig alt und sein Bart weiß und lang. Seine Kleidung war aus Wolle gestrickt, aber vor langer Zeit für jemanden anderen gedacht gewesen. Alles war zu lang und zu groß. Die beiden sahen den Goldgräber misstrauisch an.

Was er hier unter dem Palast zu suchen habe, fragte die Frau.

Er suche die Königin, antwortete Fallsta sofort und ohne lange nachzudenken, und erntete Gelächter.

Da müsse er wohl besser oben nachsehen, so wie es die anderen Freier täten. Sie, die Bürger von Cantrel, würden auch gern ihre Königin sehen. Aber hier unten gefiele es Königinnen eben nicht.

Fallsta hörte die Bitterkeit in diesen Worten.

Nun wurde die Stimme der Frau scharf. Sie wollte wissen, mit wem sie es zu tun und was den Fremden in den Untergrund geführt habe. Er müsse schon recht überzeugende Gründe anführen, damit sie ihn nicht für einen Spion hielt, dem man besser den Hals durchschnitt.

Der Goldgräber wusste, dass sie es ernst meinte, aber er hatte Vertrauen gefasst und beschloss, offen zu sein. Im trüben Licht lehnte er sich zurück und verbarg dadurch sein Gesicht vor den Besuchern. Dies gab ihm die Ruhe, seine Gedanken in die Ferne schweifen zu lassen. Wie lange war es schon her, dass er Galowyn und Smyrna auf der Alten Südstraße getroffen hatte? Er war damals mit dem Meisterheiler Urial aus Nowogoro unterwegs gewesen. Später war dann Aramar, der Zauberer, einst Vorsitzender im Weißen Rat, zu ihnen gestoßen, und dann hatten sich die Ereignisse überstürzt.

All dies trug er mit knappen Worten vor und berichtete dann von der Belagerung Hispoltais, von ihrer Suche nach der Königlichen Tochter und dem Untergang Vangarts. Seine Stimme klang erst wieder freudig, als er die Rettung der Hauptstadt der Equaner schilderte und die Niederlage der Heere Ormors. Er berichtete, dass die alte Königin in Equan abgedankt war und das Nachbarland nun von zwei jungen Leuten regiert wurde. Auch das, was er von den Vespucci wusste, ließ er nicht aus, und sah nicht, wie sich der Mann und die Frau wissend anblickten. Schließlich kam er zu der großen Bedrohung, die seines Wissens über Cantrel lag. Ormor, der Zauberkönig, so führte er aus, werde bald mit seinen Truppen das Land überfallen. Nachdem er in Equan zurückgeschlagen worden war, wolle er sicher in Whyten sein Glück versuchen.

„Mir scheint, Ihr seid für diesen großen Kampf nicht gerüstet“, endete Fallsta seine lange Rede.

„Da habt Ihr recht“, stimmte die Frau zu. „Noch nie war dieses Land so wehrlos wie zurzeit.“

„Ihr müsst zumindest Cantrel sofort verteidigungsbereit machen!“

„Wir könnten höchstens für diese dumpfe, muffige Welt hier unter dem Palast Entscheidungen treffen“, war die bittere Antwort. „In der Stadt haben wir nichts zu vermelden.“

„Was geht in dieser Stadt eigentlich vor? Sie kommt mir vor wie ein Tollhaus und ich finde dafür keine Erklärung. Ich war offen zu Euch, nun schuldet Ihr mir einen Bericht.“

„Den sollt Ihr auch bekommen“, antwortete die Frau. „Nach dem Großen Krieg war unser Land nur noch eine Trümmerwüste gewesen. Das heftig umkämpfte Cantrel lag in Schutt und Asche. Obwohl ich es nicht selbst gesehen habe, weiß ich es ganz genau. Meine Mutter, ich wünsche ihrer Seele den Frieden, erzählte mir bis an ihr Lebensende immer wieder, wie ihr die Tränen in die Augen getreten waren, als sie ihre Heimat wiedersah. Tagelang hätten sie und die anderen Frauen geweint, bis schließlich die Tränen versiegten und sie sich ans Aufräumen machten. Alle Überlebenden, es waren in erster Linie Frauen gewesen, packten an. Sie wollten die Spuren des Krieges beseitigen und damit das Grauen vergessen machen. Cantrel sollte schöner wiedererstehen, als es jemals gewesen war.

Die Leute arbeiteten Tag und Nacht. Bald kam aus dem ganzen Land Hilfe, denn Cantrel war bald mehr als die Hauptstadt von Whyten. Es entwickelte sich zum Symbol des Friedens. Dann trat der neue Hochkönig auf den Plan, es war Meliodas aus dem Geschlecht der Habbas, und begann mit ordnender Hand, den Wiederaufbau zu lenken. Er hatte zuvor in den großen Wäldern des Nordens gelebt, und ich glaube nicht, dass diese kunstvolle aber auch künstliche Stadt sein Geschmack gewesen war. Aber er widersetzte sich den Wünschen seines Volkes nicht. Später kamen dann Glatzköpfe aus dem fernen Land Vespucci. Sie brachten uns so weit, dass wir die letzten Pflanzen in der Stadt beseitigten, so dass heute Cantrel nur aus weißem Marmor besteht.

Cantrel oder die Weiße Stadt erfreute bald wieder schon von weitem die Blicke eines jeden Reisenden. Zwar bauten unsere Eltern damals hohe Mauern um die Häuser und den Palast, aber sie dachten nicht, dass sie die Stadt jemals wieder würden verteidigen müssen. Der furchtbare Krieg war vergangen und der übermächtige Feind im Norden tot. Den Leuten in Whyten ging es gut. Unser Volk trieb Handel mit aller Welt und der Wohlstand mehrte sich. Es gab niemanden, dem es schlecht ging. Die Kinder wussten nicht mehr, was Armut ist. Dem Ewigen Frieden stand nichts im Weg. Das Land hatte einen König, der diesen Frieden auch garantierte, und so war die einzige Sorge unserer Eltern, dass dieser König zu mächtig werden und die Bewohner seines Landes unterdrücken könnte.“

„Du hast recht“, mischte sich nun der alte Mann ein, und Fallsta stellte fest, dass er lispelte, „Meliodas wurde immer mehr zu unserem Feind.“

„Das ist Grunema. Er stammt aus einem alten und noblen Geschlecht. Er war damals noch dabei und erinnert sich. Wir, die Vertriebenen, haben ihn zu unserem Anführer gewählt, weil wir dafür eine würdige Person brauchen. Er ist der Würdigste“, erklärte die Frau entschieden. Dann sagte sie leise: „Ich heiße übrigens Brana.“

Jetzt wusste Fallsta, dass er akzeptiert worden war.

Grunema war seinen Gedanken nachgehangen, während Brana gesprochen hatte und fuhr nun fort: „Wir hatten Angst, der König könnte uns die hart erkämpfte Freiheit beschneiden und beobachteten ihn argwöhnisch. Hinter jeder Anordnung, die er traf, vermuteten wir eine Willkür oder den Plan, unsere Rechte mit der Zeit mehr und mehr einzuschränken. So entfremdete sich der König von seinem Volk und wir misstrauten ihm. Meliodas wurde verbittert und zog sich in sich selbst zurück. Je mehr er dies jedoch tat, desto mehr vermuteten alle, er wolle sich zum Tyrannen aufschwingen.“

Brana unterbrach den alten Mann. Seine Ausführungen waren ihr sichtlich unangenehm. „Für lange Erklärungen ist jetzt keine Zeit. Fass dich kurz, der Fremde soll im Augenblick nur erfahren, wie die heutigen Zustände entstanden sind.“ Sie machte eine Pause, um sich zu sammeln. „Dann kam die Wende. König Meliodas starb. Dies erschien uns nicht besonders tragisch. Was sollte schon geschehen? Irgendwann würde ein neuer König kommen. Unter ihm konnte alles nur besser werden. Schließlich war der alte uns doch zu mächtig gewesen. Diese Machtfülle würden wir in Zukunft zu verhindern wissen.

Die Beerdigung des Königs wollten wir würdevoll begehen. Meliodas war der Hochkönig über ganz Centratur gewesen, deshalb wurden alle seine Völker eingeladen. Natürlich muss ich zugeben, dass wir bei dieser Gelegenheit auch ein wenig mit unserem Reichtum prahlen wollten. Zu den Trauerfeierlichkeiten kamen Leute von nah und fern. Wir empfingen die Gäste überaus freundlich. Bald war die Stadt überfüllt, und vor den Toren mussten Zelte aufgeschlagen werden. Es war ein ständiges Kommen und Gehen. Irgendwann blieben die Stadttore auch in der Nacht geöffnet, und niemand wunderte sich darüber.

Die Beerdigung selbst war recht feierlich. Eine Woche lang blieb König Meliodas am Fuß der Stufen des großen Palastes aufgebahrt, und die Menschen zogen täglich an ihm vorüber. Zwar blieb der Sarg geschlossen, denn sein Leib war zu sehr verstümmelt, als dass man seinen Anblick den Trauernden hätte zumuten können. Ein Künstler hatte aber eine Skulptur von ihm gefertigt, die vor dem Sarg stand. Ihr erwies man alle Ehren und sie behielt man im Gedächtnis. Die Skulptur aus den Händen eines kleinen, glatzköpfigen Bildhauers rückte an die Stelle des Königs.

Schließlich wurde der Sarg an der gleichen Stelle, an der er eine Woche lang gestanden hatte, in die Erde gesenkt. Die Grube bedeckte man mit einer Marmorplatte. Danach begannen neue Feierlichkeiten. Drei Tage lang wurde zu Ehren des toten Königs geschmaust. Darüber hinaus boten wir viel zur Unterhaltung der Gäste auf. Gaukler waren aus dem ganzen Land nach Cantrel gerufen worden und gaben dort ihr Bestes. Tänzerinnen verwöhnten die Augen der Fremden. Sie sollten sich wohl fühlen und ein Loblied der gastfreundlichen Stadt Cantrel in ganz Centratur singen. Wir legten in der Tat Ehre ein, unsere Vorräte schienen unerschöpflich und es gab keinen Fremden, der die Hauptstadt von Whyten und seine Bewohner nicht gepriesen hätte. Voller Stolz dachten wir, dass man noch lange von unserem Reichtum und unserer Gastfreundschaft reden würde. Waren diese Feierlichkeiten nicht einzigartig gewesen? Hätte sich ein anderes Volk eine solche Bewirtung leisten können?

Dann war alles vorüber. Wir bereiteten die Verabschiedung der Gäste vor, denn wir dachten, die Fremden würden nun wieder gehen. Auch dafür hatten wir uns noch eine zu Herzen gehende Zeremonie ausgedacht und viele Geschenke bereitgelegt. Doch unsere Besucher machten keine Anstalten aufzubrechen. Wir hatten Verständnis und gaben ihnen noch eine weitere Woche, um ihren Rausch auszuschlafen. Aber auch nach dieser Frist tat sich nichts. Stattdessen kamen immer neue Gäste dazu.

Dies war uns zwar nicht recht, denn die Lebensmittel begannen langsam knapp zu werden, aber wir wollten unseren gastfreundlichen Ruf nicht verscherzen. Natürlich gab es einige Stimmen, die sagten, die Fremden sollten endlich wieder verschwinden. Derartige Äußerungen galten jedoch als unfein. Auch Vespucci hatten an unserem Fest teilgenommen. Sie gingen nun im Palast nach Belieben ein und aus.

Noch immer sahen wir die Gefahr nicht, die uns drohte. Bis eines Tages alle Einwohner von Cantrel zu einer Versammlung am Fuß der Palasttreppe gerufen wurden. Kuri, der Vorsteher, leitete die Zusammenkunft. Die Gäste standen auf der einen und wir auf der anderen Seite des Platzes. Die Fremden waren ausschließlich Männer. Drei von ihnen traten vor und erklommen ein Paar Stufen der Treppe. Dann erklärten sie uns allen, man habe sie zu Sprechern der Gäste gewählt. Sie hätten uns eine Botschaft mitzuteilen.

Zuerst dankten sie uns für unsere Gastfreundschaft. Wir fanden dies höflich und freundlich und nickten einander zufrieden zu. Dann aber fuhren die Sprecher fort und erklärten, sie, die Gäste, hätten auch bemerkt, dass wir in großer Not seien. Schließlich sei unser König tot und wir wären ohne Herrscher und allen Feinden schutzlos ausgeliefert. Zum Dank für die herzliche Aufnahme, die ihnen in Cantrel widerfahren sei, hätten sich die Fremden entschlossen, uns zu helfen. Zum einen wollten sie bei uns bleiben, bis wir wieder einen König hätten, und uns beschützen. Zum anderen wäre jeder von ihnen zu dem Opfer bereit, die Last der Königswürde von Whyten auf sich zu nehmen. Unsere Königin, die edle Lunete, möge unter ihnen wählen. Aus den Gästen waren auf einmal Freier geworden.

Unsere Königin hatte sich seit den Bestattungsfeierlichkeiten nicht mehr sehen lassen. Wir vermuteten damals, der Schmerz habe sie überwältigt. Sie erschien auch jetzt nicht, nachdem sich die Lage doch so dramatisch verändert hatte, und nahm auch zu dem Vorschlag der Sprecher keine Stellung. Sehnsüchtig warteten wir auf ein befreiendes Wort von ihr. Doch sie ließ uns allein und unternahm nichts, um uns von dem Geschmeiß zu befreien. Die Freier lebten weiter in Saus und Braus, während wir, die Bewohner von Cantrel, immer mehr darbten.

Damit hatte unser Elend aber noch nicht den Höhepunkt erreicht. Die Fremden wollten schließlich auch unsere Häuser und dazu war ihnen jedes Mittel recht. Einer nach dem anderen von uns wurde vertrieben. Dies ging nach folgendem Plan vonstatten: Jeweils eine Familie wurde zu einem Tribunal vor den Palast geladen. Dort eröffnete man ihr, sie habe sich schwerer Verbrechen schuldig gemacht. Die Vorhaltungen reichten von Diebstahl über Raub bis zu Mord. Die angebliche Schandtat wurde jeweils von drei Zeugen bestätigt. Diese Zeugen kamen aus den Reihen der Fremden. Der Vorsteher leitete die Versammlungen und bemühte sich, gerecht zu sein. Aber er musste den schweren Anschuldigungen Rechnung tragen und uns schuldig sprechen. Aus Mitleid gab er uns jeweils eine Gnadenfrist von einem halben Tag, bis wir uns im Gefängnis einzufinden hatten.

Da wir alle unschuldig waren, stellten wir uns nicht der Gerichtsbarkeit, sondern verschwanden hier im Untergrund unter dem Palast. Hier unten fristen wir nun ein tristes Leben in Mauerlöchern und primitiven Hütten fernab von der Sonne, während die Freier in unseren Häusern wohnen. Natürlich werden wir von der Garde, also unseren eigenen Leuten gesucht, die uns ins Gefängnis werfen müssen. Nur bei Nacht wagen wir uns hervor, um Lebensmittel zu besorgen und das eine oder andere Nützliche zu stehlen. Damit machen wir uns aber erneut schuldig, und Kuri lässt umso schärfer nach uns fahnden.“

„Ich habe miterlebt, wie man in dieser Stadt mit falschen Zeugen Verurteilungen erreicht“, bemerkte Fallsta zornig. „Meine Freunde wurden auf diese Art verleumdet und eingesperrt. Konntet Ihr Euch denn nicht gegen das schreiende Unrecht zur Wehr setzen?“

„Zum einen hatten wir den Zeitpunkt verpasst, wo noch Widerstand möglich war. Zum anderen haben wir es schließlich mit unseren eigenen Leuten zu tun. Nicht die Freier verfolgen uns, sondern die Palastwache. Außerdem wird in dieser Stadt der Buchstabe des Gesetzes heiliggehalten. Es ist hier Tradition, auch dann das niedergeschriebene Recht einzuhalten und zu verteidigen, wenn es scheinbar unserem Gerechtigkeitsgefühl widerspricht. Freiheit kann es nur dann geben, wenn alle vor dem Gesetz gleich sind. Jede Ausnahme, und komme sie nur aus Verständnis und Mitleid, würde diese Gleichheit in Frage stellen. Kuri konnte deshalb nicht anders handeln, nachdem unsere Schuld durch falsche Zeugen nachgewiesen wurde, und kann es bis heute nicht.“

„Was nützen die höchsten Mauern und Zinnen, wenn sich die Eindringlinge innerhalb der Stadt und nicht außerhalb befinden?“ warf Grunema stöhnend ein.

„Wie soll es weitergehen?“

„Irgendwann werden die Gäste von sich aus wieder abziehen, oder unsere Königin heiratet endlich einen von ihnen. Es ist uns gleichgültig, welchen sie nimmt. Er mag ein schlechter König sein, aber schlimmer als jetzt kann es nicht kommen.“

„Habt ihr Euch Gedanken gemacht, wer diese Gäste zu Euch geschickt haben könnte? Irgendjemand muss dies alles doch in die Wege geleitet haben?“

„Es gibt unter uns Verfemten welche, die solch eine Verschwörung behaupten. Aber dafür gibt es keine Beweise. Ich glaube nicht, dass jemand mit den Fremden einen Plan verfolgt“, sagte die Frau. „Den Gästen hat es einfach gut bei uns gefallen, deshalb sind sie geblieben. Ihr angenehmes Leben hat sich dann in aller Welt herumgesprochen und die anderen angelockt.“

„Ihr könnt es doch nicht so einfach hinnehmen, dass man Euch in den Untergrund verdrängt. Ihr müsst Euch wehren, um Eure Stadt kämpfen.“

„Das ist leicht gesagt, aber schwer getan. Welchen Rat könnt Ihr uns geben?“

„Zuerst müssen meine Freunde befreit werden. Sie sitzen im Kerker des Palastes. Könnt Ihr ihnen heraushelfen?“

„Natürlich kennen wir alle geheimen Wege und Gänge um in den Palast zu kommen.“

„Dann lasst uns keine Zeit verlieren. Eine noch viel größere Gefahr droht im Norden. Denkt an das Heer in Darken. Die Schergen des Zauberkönigs werden Euch nicht vor Kuri anklagen, sondern gleich töten. Cantrel muss so rasch wie möglich verteidigungsbereit gemacht werden!“

Die Entdeckung

Die Zellen lagen neben einander. Sie waren zwar eng, aber trocken und sauber. Auch hatte man sie ausreichend mit Brot und Wasser versorgt. Wenn sie laut sprachen, konnten sich Aramar und die Frauen gut verständigen. Galowyn und Smyrna bestürmten, nachdem hinter ihnen die Tür ins Schloss gefallen war, sogleich den Zauberer. Sie wollten wissen, was er zu tun gedenke, und warum er sich so einfach hatte gefangen nehmen lassen. Es sei doch ein abgekartetes Spiel gewesen.

Aramar blieb wortkarg und wehrte ab. Sie hätten einer großen Übermacht gegenübergestanden, und er habe kein Aufsehen erregen wollen. Nun brauche er aber Zeit zum Nachdenken.

Den ganzen Tag über geschah nichts. Niemand ließ sich sehen. Auch der Vorsteher kam nicht, um sie zu verhören. Es musste schon gegen Mitternacht sein, als Aramar zu einem Entschluss gekommen war und sich erhob.

„Wir wollen gehen“, rief er in die Nebenzelle. „Heute besucht uns doch niemand mehr.“

Ob er vergessen habe, dass sie eingesperrt seien, fragte Smyrna vorsichtig zurück.

„Ihr glaubt doch nicht, dass mich eine Tür aufhalten kann?“

Er strich mit der Hand über das Schloss, und es sprang mit einem leisen Knacken auf. Dann befreite er die Frauen. Vorsichtig schlichen sie den Gang entlang, der von einer einsamen Fackel trüb erleuchtet war. Niemand war zu sehen. Man hatte nicht einmal einen Wärter für sie abgestellt, so sicher hielt man ihren Gewahrsam. Ohne zu zögern wandte sich der Zauberer nach links und lief den langen Gang entlang. Plötzlich hörten sie Schritte. Ein Verbergen war nicht möglich. Erschrocken sahen die Frauen ihren Führer an. Der beruhigte sie flüsternd: „Ich werde dafür sorgen, dass Euch nichts geschieht, und in das Gefängnis kehren wir nicht zurück.“

Die Schritte kamen zögernd näher, so als fürchteten sich auch die anderen vor der Begegnung.

„Woher wissen die Wärter, dass wir ausgebrochen sind?“ fragte nun Aramar. „Man muss sie gewarnt haben.“

Jetzt bog jemand um die Ecke des Ganges, hinter der Aramar gelauert hatte. Die Faust des Zauberers traf mit voller Wucht. Der Mann sackte stöhnend zu Boden. Wenige Augenblicke später erschien ein zweiter Mann. Aramar wollte erneut zuschlagen. Doch Smyrna fiel ihm in den Arm.

„Halt, das ist Fallsta!“ rief sie entsetzt.

Der Goldgräber erkannte seine Freunde. Sie liefen aufeinander zu und fielen sich in die Arme. Schnell hatten sie ihre jüngsten Erlebnisse ausgetauscht. Dann stellte Fallsta seine neuen Freunde vor. Sie waren die einzigen von den Verfemten, die er bisher kennen gelernt hatte. Sonst hatte er im Untergrund nur ein paar Gestalten schemenhaft wahrgenommen. Aramar und die Frauen schüttelten den Einheimischen die Hände.

„Wir müssen zur Königin“, sagte der Zauberer, „könnt Ihr uns helfen?“

„Wir kennen einen Weg“, erwiderte Brana, „aber das Eindringen in den Palast ist sehr gefährlich. Es wird mit dem Tod bestraft. Kuri, der Vorsteher und oberste Richter, ist bei diesem Vergehen unerbittlich.“

„Dieses Risiko müssen wir auf uns nehmen. Lasst uns Fremde allein gehen! Ihr braucht uns nur den Weg zu erklären.“

„Es wird Zeit, dass wir selbst mit der Königin sprechen“, mischte sich Grunema ein. „Zu lange haben wir auf ein Zeichen oder gar auf Hilfe von ihr gewartet. Ich werde mitkommen!“

„Wir gehen alle zusammen“, stellte Brana fest.

Es gab unter dem Palast einen schmalen Schacht, durch den das Wasser aus der Küche in den unterirdischen Tessenfluss geleitet wurde. Es war eine gemauerte Rinne, in der in der Nacht nur ein dünnes Rinnsal floss. Sie war rutschig und verlief schräg nach oben. Mühsam klammerten sich die Eindringlinge an ihrem Rand fest und kletterten empor. Immer wieder glitten sie aus und rutschten ein Stück zurück. Sie waren von Kopf bis Fuß nass und verschmutzt, als sie endlich ein eisernes Gitter erreichten, das ihnen den Weg versperrte. Schon wollten sie aufgeben und Aramar war bereit, seinen Zauber einzusetzen, da gelang es Fallsta das Hindernis aus seiner Verankerung zu lösen und zur Seite zu schieben.

Dann befanden sie sich in der Küche. Sie war groß wie ein Saal. Unter zehn Kaminen konnte gleichzeitig gekocht werden. Auf riesigen Tischen waren Küchengerätschaften säuberlich aufgereiht. Von der Decke hingen Schinken, und an den Wänden standen große Säcke mit Mehl, Zucker und Früchten. Im Königspalast herrschte Überfluss, während auf dem Land das Volk darbte. Aramars Lippen wurden schmal, als er sich umsah.

Leise verließen sie die Küche und folgten einem langen Gang, der sich quer durch den Palast zog. Es war totenstill, alles schlief. Die wenigen Wachen standen draußen vor dem Eingang. Hier im Innern war niemand zu sehen, und die nächtlichen Besucher mussten nicht befürchten überrascht zu werden.

„Im zerstörten Palast lagen die königlichen Gemächer im Osten. Vielleicht hat man sie dorthin wieder gebaut“, flüsterte der Zauberer und ging ohne auf Antwort zu warten voran.

Die Räume, die sie durchquerten, waren dunkel und in dem Mondlicht, das durch die Ritzen der mit Vorhängen verschlossenen Fenster fiel, konnten sie die Kostbarkeit der Möbel nur erahnen. Beinahe scheu schlichen sie über weiche Teppiche und tasteten sich über marmorne Böden. Einmal fiel der matte Lichtstrahl genau auf eine hohe Vase. Gold blitzte auf, und Figuren von überirdischer Schönheit waren zu sehen. Dies war keine Kunst aus Centratur. Nicht einmal die Zwerge hätte solche Kostbarkeiten herstellen können.

Sie kamen durch große Säle. Trotz der Finsternis spürten sie dort die von den Baumeistern geplante Weite und Großzügigkeit. Fallsta streckte sich und atmete tief durch. Nach all der Muffigkeit in der Unterwelt genoss er hier jeden Atemzug. Auch der große Speisesaal war völlig leer. Hier hatte schon Meliodas seine großen Bankette abgehalten. Aramar erinnerte sich an eine Sitte in Whyten, dass alle Gäste nur so lange essen durften, wie der König zugriff. Hörte er auf, mussten alle anderen auch die Messer aus der Hand legen. Nur die Königin hatte das Privileg weiter zu essen. Man wusste nie, ob der König viel oder wenig Appetit hatte. Deshalb beeilte sich jeder der Eingeladenen, so schnell und so viel wie möglich zu essen. Meliodas hatte dem Zauberer vor seiner Abreise lachend von diesem Brauch erzählt und ihm gestanden, dass er sich einen Spaß daraus mache, einmal ganz langsam und das andere Mal schnell zu essen. Dabei freute er sich über die gepeinigten Gesichter der Gäste, die besorgt waren, nicht genug von den Leckerbissen abzubekommen.

Noch immer waren sie keiner lebenden Seele begegnet, als sie endlich vor einer hohen Tür anlangten.

„Hier könnte das Schlafzimmer der Königin sein“, wisperte Aramar, trat vor und drückte vorsichtig auf die Klinke.

Er schien Recht zu behalten, denn in dem weiten Raum atmete jemand. Wäschestücke waren achtlos auf den Boden gestreut. Im Bett mit dem Stoffhimmel sahen sie eine Gestalt auf dem Rücken liegen. Die Decke über der Brust hob und senkte sich gleichmäßig. Auf Zehenspitzen schlichen alle näher, um die Königin behutsam zu wecken. Endlich hatten sie Lunete gefunden. Nun würden sie Aufklärung über alle Vorgänge erhalten und die Befreiung der Stadt planen können. Schon wollte Aramar die Frau an der Schulter rütteln, da schreckte er zurück.

Rasch blickte er sich um und sah das Entsetzen auf den Gesichtern seiner Begleiter. Vor ihnen lag nicht die schlanke, hohe Gestalt von Lunete, der Gattin des verstorbenen Meliodas und Königin von Whyten, sondern ein kleiner Gnom mit haarlosem Kopf. In diesem Bett schlief ein Vespucci. Nun sahen sie auch die goldenen Fingernagelschoner auf einem Stuhl neben dem Bett und die aufgerollten langen Fingernägel auf der Bettdecke. Angeekelt wichen sie zurück und eilten auf den Gang hinaus. Dort hielten sie wispernd Rat.

„Vielleicht lebt Lunete gar nicht mehr?“ befürchtete Grunema, den die Expedition außer Atem gebracht hatte.

„Wir sollten den Vespucci töten“, erklärte Galowyn entschieden.

Doch Aramar lehnte ab. Sie dürften keine Aufmerksamkeit erregen, erklärte er. Es wäre von Vorteil, wenn niemand wisse, dass sie das furchtbare Geheimnis entdeckt hatten. Die anderen stimmten ihm zu, und alle schlichen leise den Weg zurück, den sie gekommen waren. Sie bewegte jetzt nur noch die eine Frage: Wo war die Königin?

Centratur II: Die Macht der Zeitenwanderer

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