Читать книгу Centratur II: Die Macht der Zeitenwanderer - Horst Neisser - Страница 7

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Die Königin

Der Vogel war groß und hatte weite Schwingen. Er war dabei in die Luft zu steigen. Seine kraftvollen Beine waren leicht eingeknickt, man sah wie er Schwung holte, um sich abzustoßen, und gleichzeitig die Flügel ausbreitete, um mit ihnen die Kraft und Energie der Beine zu übernehmen. Der kräftige, gebogene Schnabel war leicht geöffnet. Er diente dem Vogel zum Atmen und als Waffe. Die Augen blickten kalt und unbarmherzig. Die Krallen waren lang, gebogen und scharf.

Das hölzerne Standbild ruhte auf einem hohen Stamm und stand genau in der Mitte der Strecke zwischen Cantrel und Irilith. Der kleine Reitertrupp erreichte den Wegweiser gegen Mittag des zweiten Tages. Er befand sich auf dem Weg zur weißen Festung in den Bergen. Die Burg war nur drei Tageritte entfernt und an klaren Tagen konnte man sie von Cantrel aus sogar sehen.

Sie hielten an und schauten ehrfürchtig zu dem hölzernen Andenken aus alter Zeit empor, das bisher alle Stürme überstanden hatte. War dieser Vogel, ein Symbol für die Kraft des Landes, die Verheißung für eine glückliche Zukunft? Dies mochte bisher so gewesen sein, aber bei dem kommenden Sturm war vielleicht das Ende des Vogels gekommen.

„So wie dieser Vogel wollte das Königshaus von Whyten seine Untertanen beherrschen und beschützen“, erklärte Aramar seinen Freunden, und die Begleiter aus Cantrel stimmten zu.

„Das ist ein Azúmon“, berichtete Grunema, der sich in den alten Geschichten gut auskannte. „Es geht die Sage, dass in grauer Vorzeit Muffa der Ältere in diesem Land jagte. Er und seine Brüder waren fröhliche, lebenslustige Burschen und kamen aus Muriel. Das Land Whyten war damals so gut wie unbewohnt und versprach noch Abenteuer. Hier hausten nur ein paar Jäger und Fallensteller und Nachkommen des sagenhaften Volkes der Blunts. Diese Blunts, von denen wir heute so gut wie nichts mehr wissen, gelten als die Ureinwohner Whytens. Sie waren zu Muffas Zeiten schon so gut wie ausgestorben. Nur noch zwei oder drei Familien zogen durch die großen Wälder am Fuß der Rubur Höhen. Sie waren sehr scheu und mieden jeden Kontakt mit den Menschen, die in ihr Land eindrangen.

Damals gab es auch noch Tiere, von denen wir heute nicht einmal mehr die Namen wissen. Sie sind ausgestorben und im großen Vergessen der Geschichte gelandet. Niemand weiß heute mehr, warum sie nicht überlebten, und es interessiert sich auch keiner dafür. Sie haben den Kampf verloren, das ist entscheidend. Der Azúmon ist uns jedoch im Gedächtnis geblieben. Auch seine Art war, als Muffa jagte, schon beinahe ausgestorben. Es gab damals nur noch einzelne Exemplare. Der Azúmon war größer als alle heutigen Vögel, größer auch als die Adler. Sein Flug muss ein herrlicher Anblick gewesen sein. Wie ihr seht, hatten die Tiere scharfe Klauen und Schnäbel und waren damit natürlich sehr gefährlich. Jeder ging ihnen aus dem Weg, denn sie galten als aggressiv und unberechenbar.

Es geschah damals, dass ein alter Azúmon aus welchem Grund auch immer in einen Kampf mit vier Blunts verwickelt worden war und sie getötet hatte. Aber er war nicht ungeschoren davongekommen, denn sie hatten mit ihren Keulen sein Bein gebrochen. Nun saß er wütend und hilflos auf dem Boden und konnte nicht mehr fliegen. Um sich in die Lüfte zu erheben, mussten die Azúmons ein wenig in die Luft springen, damit ihre riesigen Flügel Auftrieb bekamen. Genau dies aber, war ihm nicht mehr möglich. Sein Schicksal war ein langsamer, qualvoller Tod.

Muffa sah den Vogel und sprang sofort vom Pferd. Noch nie hatte er ein derartiges Tier gesehen. Ohne auf die Gefahr zu achten, von der er wahrscheinlich gar nichts ahnte, obgleich ihn die toten Blunts hätten warnen müssen, lief er zu dem verwundeten Vogel. Er sah sogleich das gebrochene Bein und untersuchte es. Niemand weiß heute, warum ihm der Vogel nichts antat, sondern sich sogar berühren und schließlich verbinden ließ. Widerstrebend kamen seine Brüder endlich auch näher und schlugen auf seine Anweisung hin ein Lager auf.

Drei Wochen blieben die Menschen bei dem kranken Vogel. Sie erlegten für ihn Hasen und Rehe, die er gierig verspeiste. Dann war das Bein wieder notdürftig geheilt. Es kam der Tag des Aufbruchs. Sie nahmen ihm die Verbände und Schienen ab, der Azúmon beugte die starken Füße und stieß sich vom Boden ab, dann erhob er sich mit einem Freudenkrächzer in die Luft. Nicht einmal mit einem Blick sah er auf seine Retter zurück.

Aber dennoch vergaß er sie nicht. In großer Höhe kreiste er täglich über dem Jagdtrupp und einmal, als Muffa aus dem Hinterhalt von einem Puma angefallen wurde, stürzte er aus den Lüften und verteidigte den Menschen.

Da sagte Muffa: ‘Dieses Land hat auf mich gewartet. Hier will ich ein Königreich gründen und so wie dieser Vogel werden. Alle sollen unter meinem Schutz stehen, so wie ich unter dem Schutz dieses Vogels. Und alle wollen wir in Frieden leben und glücklich werden.’

Seine Brüder zogen weiter, doch er blieb zurück. Er baute eine Hütte und legte Felder an. Dann zeichnete er den Grundriss seiner Stadt in den Boden. Sie sollte einst Cantrel heißen. Menschen kamen und siedelten sich an. Sie rodeten den Wald und nahmen damit den Azúmons den letzten Lebensraum. Auch die Blunts starben völlig aus. Aber so entstand das Königreich Whyten. Muffas Geschlecht ist schon vor vielen Generationen untergegangen. Meine Familie soll entfernt mit ihm verwandt sein, deshalb kenne ich auch die Geschichte so gut. Später kamen die Könige der Habbas und übernahmen das Land. Der letzte von ihnen war Meliodas gewesen. Nun sind auch sie vergangen.

Aber die Sehnsucht nach einem starken Vogel, der in den Lüften hoch über uns wacht, der jeden von uns persönlich beschützt, die ist uns geblieben.“

Grunema hatte schön gesprochen und alle hatten ihm mit großer Aufmerksamkeit zugehört. Nun aber mahnte Aramar zum Weiterritt. Er war unruhig und sie hatten in Cantrel viel Zeit verloren.

Zuerst war noch in der gleichen Nacht, in der sie den Vespucci entdeckt hatten, eine Versammlung der Verfemten einberufen worden. Es hatte lange gedauert, bis alle zusammengetrommelt waren. Es war eine gespenstische Runde, die bei Schein flackernder Fackeln in den Kloaken unter dem Palast miteinander debattierte. Schon allein die Kleider der Leute ließen den Gedanken an ein Theaterstück aufkommen. Phantasieuniformen waren ebenso vertreten wie zerlumpte Röcke. Einige trugen lederne Rüstungen, die sie irgendwo gestohlen hatten, andere hatten sich aus Stoffen und Lumpen selbst Kleider genäht. Keiner der Leute war wohlgenährt. Hohlwangig und dürr, viele nur noch Schatten ihrer selbst, waren die Verfemten im Kreis gesessen und hatten darauf gewartet, dass man ihnen den Sinn dieser Zusammenkunft erklärte.

Zuerst hatte Brana die jüngsten Ereignisse geschildert, und dann berichtete Grunema mit seiner lispelnden Stimme stockend von der Entdeckung, die sie im Palast gemacht hatten. Seine Erzählung stieß auf Unglauben und Ablehnung. Dies sei doch alles Unsinn, riefen einige, der Zweck dieses Theaters sei nicht einsichtig. Andere wiederum fragten, was denn so schlimm sei, wenn ein Vespucci im Bett der Königin schlafe? Vielleicht hätte er mit der Herrin nur die Zimmer getauscht? Es gab auch Verfemte, die gar nicht zuhörten, sondern nur riefen: ‘Hängt die Freier alle auf!’

Aramar war dieses Gezänk und Aneinandervorbeireden irgendwann zu viel geworden. Er hatte sich eingemischt und vom Kampf um Hispoltai berichtet. Dann war er auf die große Bedrohung durch den Zauberkönig zu sprechen gekommen. Er hatte die Heimtücke der Vespucci beschrieben und von den Eroberungsabsichten Ormors berichtet. Aber erst als der Name ‘Orokòr’ fiel, waren alle still geworden. Die Eltern der heutigen Bewohner von Cantrel hatten die schwarzen Krieger im Großen Krieg kennen gelernt und ihren Kindern oft von ihnen schreckliche Geschichten erzählt.

Das Schweigen hielt nicht lange an. Einer rief sogar: ‘Wer sagt uns, dass dies alles der Wahrheit entspricht? Ich traue keinem Fremden mehr’. Dafür erhielt er sogar beifälliges Gemurmel.

Doch immer mehr der Anwesenden erkannten die Gefahr und mahnten zur Vernunft. Brana und Grunema legten ihren ganzen Einfluss in die Waagschale, und andere besonnene Männern und Frauen stimmten ihnen zu. Endlich beschloss man, die Königin zu suchen. Bevor sie nicht gefunden war, konnten keine weiteren Pläne geschmiedet werden.

Wo konnte sie sich aufhalten? Im Palast? In einem der Häuser der Stadt? Hielt sie sich freiwillig versteckt oder wurde sie gefangen gehalten? Bei der Erörterung dieser Fragen gingen die Gemüter wieder hoch und die Stimmen wurden lauter. Man solle niemandem aus dem Königshaus trauen, schrien einige der Bürger. Herrscher hätten doch nur eine Absicht, dem Volk die Freiheit zu rauben und es gänzlich zu unterwerfen. Auch die Freierplage gehe wahrscheinlich auf einen verwerflichen Plan der Königin zurück. Es gäbe keinen Grund, diese Frau zu suchen. Vielmehr wäre es ein Segen, bekäme man sie nie wieder zu Gesicht.

Diesen Verleumdungen widersprach der andere Teil der Versammlung auf das heftigste. Die Stadt und das Land könnten nur zusammen mit Lunete gerettet werden. Nur sie bürge für Kontinuität und die Gleichheit aller. Schließlich ginge es nicht nur um die Hauptstadt. Das ganze Land sei bedroht, auch die Städte im Süden. Einzig der Königin könne es gelingen, alle Kräfte zu bündeln und die Verteidigung zu organisieren.

Der Streit hätte sicher noch die ganze Nacht und den nächsten Tag gedauert, wenn Aramar nicht gerufen hätte, er sei dieses Gezänk jetzt leid. Er gehe die Königin suchen und zwar nicht in der Stadt, sondern außerhalb der Mauern. Ihm war nämlich eine Idee gekommen, wo sich die alte Freundin aufhalten konnte. Irilith war in der Vergangenheit stets die Fluchtburg der Könige von Whyten gewesen. Warum sollte es nicht auch in diesen schlimmen Zeiten so sein? Viele der Verfemten stimmten ihm zu, und Brana und Grunema erklärten, sie würden die Fremden begleiten. Dann war die Versammlung vertagt worden.

In den frühen Morgenstunden waren sie unter dem Palast hervorgekrochen und durch die stillen Straßen geschlichen. Nur noch ein paar betrunkene Zecher waren unterwegs gewesen, denen sie leicht hatten ausweichen können. Noch war die Flucht des Zauberers aus den Verließen des Palastes nicht entdeckt worden, deshalb war das Stadttor noch immer geöffnet. Lediglich ein dösender Posten hielt Wache. Sie spielten übernächtigte Zecher, die zum Schlafen in die Zeltstadt wollten und drückten sich ungesehen an ihm vorüber. Dann kamen sie zu den Ställen, wo ihre Pferde untergebracht waren. Auch hier schlief alles. Aber so sehr sie auch suchten, die beiden Begleiter aus Equan und ihre Rösser waren verschwunden.

„Das hätte ich von Grosskorl und Rimo nicht erwartet“, sagte Fallsta verbittert, „dass sie uns in der Not im Stich lassen.“

„Verurteile sie nicht“, entgegnete ihm Smyrna. „Du weißt nicht, was hier vorgefallen ist.“

„Sie hat recht“, stimmte Aramar zu. „Vielleicht wurden sie vertrieben. In dieser Stadt ist alles möglich“

Das Verschwinden der Pferde war ein harter Schlag für die Gruppe, aber keiner ließ sich entmutigen.

„Dann laufen wir eben“, sagte die Dienerin tapfer und drückte damit aus, was alle dachten.

Sofort machten sie sich auf den Weg nach Norden. Zuerst durchquerten sie leise und kampfbereit die Zeltstadt, dann die Ebene vor der Stadt. Als man in der Weißen Stadt erwachte, hatten sie bereits eine so große Entfernung zurückgelegt, dass die Wachen auf den Mauern sie nicht mehr erkennen konnten.

In einem kleinen Wald machten sie Rast. Sie waren froh, der Gefahr entronnen zu sein, als sie Pferdehufe hörten. Es waren mehrere Rösser. Deckung konnten sie so rasch nicht mehr finden, deshalb machten sie sich auf eine unangenehme Begegnung gefasst. Doch wie überrascht waren sie, als sie die Reiter erkannten. Es waren Grosskorl und Rimo, die sich im Wald versteckt gehalten und die Wanderer schon eine Weile beobachtet hatten.

Männer der Palastwache waren am Vortag in die Ställe gekommen und hatten nach Pferden und Gepäck des Zauberers und seiner Begleiter gesucht. Die Männer aus Equan waren unerkannt geblieben. Man hielt sie für Bedienstete der Freier. Nun wurde auch klar, warum die Königin in Hispoltai gerade diese beiden Männer zur Begleitung ihrer Freunde ausgesucht hatte. Rimo und Grosskorl hatten die Situation sogleich durchschaut und sich darauf eingestellt. Beide gaben sich natürlich nicht zu erkennen, sondern fragten die Wachen vielmehr neugierig, nach wem sie suchten. Gespannt ließen sie sich erzählen, was sich in der Stadt zugetragen hatte. Als dann die Wachen erfolglos wieder abgezogen waren, hatten sie das Gepäck zusammengesammelt und die Pferde gesattelt. Der kleine Wald nördlich der Weißen Stadt hatte ihnen als Unterschlupf gedient, denn sie waren sich sicher, dass man den Zauberer nicht lange werde gefangen halten können. Ohne weiteren Aufenthalt machten sie sich nun wohl ausgestattet nach Irilith auf den Weg.

Wie im Westen der Hauptstadt so waren auch im Norden alle Dörfer geplündert. Die Leute litten Hunger.

„Wer soll dieses Land verteidigen, wenn der große Angriff aus Darken beginnt?“ dachte Aramar besorgt. „Diese verhungerten Menschen können eine Waffe nicht einmal halten. Auch auf die Bürger von Cantrel kann man nicht zählen. Die haben andere Sorgen, und die Freier schlagen sich wahrscheinlich sogar auf die Seite der Angreifer. Wenn dann Ormor auch noch seine Orokòr einsetzt, ist alles verloren.“

Am dritten Tag änderte sich das Bild. Aus den Schornsteinen in den Dörfern sahen sie Rauch aufsteigen. Kinder trieben Gänseherden über die Straße, Hühner flatterten über Gartenzäune. Erstaunt betrachteten die Reisenden diese Wandlung. Warum waren die Freier nicht bis hierhin vorgedrungen, um zu ‘sammeln’? Was hatte diese Menschen vor der Habgier der Männer aus Cantrel geschützt?

Als sie das zweite Dorf durchquert hatten, bekamen sie die Antwort auf ihre Fragen. Reiter stellten sich ihnen mit gezückten Waffen in den Weg. Sie sollten sofort umkehren, wurde ihnen befohlen. Auch sollten sie, wenn ihnen ihr Leben lieb sei, sich nie wieder in dieser Gegend blicken lassen.

Aramar stellte sich in die Steigbügel und rief: „Wir wollen nach Irilith. Wir sind keine Plünderer.“

„Das beteuern die so genannten Gäste alle. Wir aber wollen keinen von Euch hier sehen. Wir sind im Gegensatz zu den Bürgern von Cantrel nicht gastfreundlich. Verschwindet!“

„Wir sind keine von diesen Gästen“, wiederholte Aramar noch einmal. „Wir sind Reisende auf dem Weg zur Festung Irilith.“.

„Da habt Ihr erst recht nichts verloren. Was wollt Ihr dort?“

„Ich bin eine Bürgerin der Weißen Stadt und will zu meiner Königin“, mischte sich nun Brana ein.

„Die Königin sucht Ihr in Irilith vergeblich“, rief eine Frau mit weißem Haar, die nun herbei ritt. „Sie befindet sich in Cantrel. Dort bewirtet sie die Gäste.“

„In der Hauptstadt ist sie nicht.“

„Wir haben wichtige Botschaft“, fügte Grunema hinzu.

„Eure Botschaft interessiert uns nicht“, sagte der Anführer barsch. “Kehrt um oder die Waffen werden sprechen.“

Doch die Weißhaarige brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Sie hatte den alten Mann aus Cantrel erkannt: „Bist du nicht Grunema aus dem alten Geschlecht der Viskomdé?“

„Der bin ich. Woher kennt Ihr mich?“

„Weil ich deine Königin bin, mein Alter“, lachte die Frau.

Aramar streifte seine Kapuze ab und rief: „Lunete!“

Die antwortete: „Der Tag wird ja immer schöner! Ich will auf der Stelle tot umfallen, wenn das nicht der Zauberer Aramar ist, der, den man auch den Blauen nennt.“

Die alten Freunde stiegen von den Pferden und fielen sich in die Arme. Dies legte ein Trupp Reitern, der hinter Büschen auf seinen Einsatz gewartet hatte, als Angriff aus. Die Männer stürmten mit gezogenen Waffen hervor, um in den Kampf einzugreifen. Aber Lunete beruhigte ihre Leute.

Obgleich schon hoch an Jahren war die Frau schöner, als es Menschen in der Regel sind. Ihr flogen noch immer alle Blicke zu, wenn sie irgendwo auftrat. Sie war eine Frau, für die man auf der Straße das Pferd zügelt, um ihr nachzusehen. Ihr Haar hatte früher die Farbe von Ähren, wenn sie reif sind, und glänzte nun wie pures Silber. Das Gesicht war von einer Ebenmäßigkeit, wie man sie sonst nur bei Kunstwerken findet. Ihre Arme und Beine verhielten sich zu ihrem Körper in vollendeten Proportionen. Dabei bemerkte man erst sehr spät, dass sie an jeder Hand sechs Finger hatte. Sie war eine Frau, die man ansieht und bewundert, aber nicht begehrt.

Brana und Grunema knieten vor Lunete, der Königin Whytens, nieder.

„Herrin“, sagte Grunema, „wie froh bin ich, Euch zu sehen und zu wissen, dass Ihr nicht mit den Freiern gemeinsame Sache macht. Ich habe ganz vergessen, wie schön Ihr seid. Lasst Euch von Eurem Volk grüßen, dass sich nach Euch sehnt.“

„Ich danke dir“, antwortete sie ihm freundlich und fasste ihn unter dem Arm. „Ich kann dir nicht sagen, wie sehr ich euch alle vermisse.“

Rimo und Grosskorl aus Hispoltai kamen herbeigeeilt und fielen auf die Knie. Sie richteten Grüße von ihrer Königin Einada aus, die der Schwester im Nachbarland Bündnistreue und Freundschaft ausrichten ließ.

Auch ihnen wurde huldvoll auf die Beine geholfen und für ihren Gruß gedankt.

Dann war es Zeit, auch die anderen Mitglieder der Reisegesellschaft vorzustellen. Als der Zauberer die Berühmtheit und die große Kunst der Sängerin hervorhob, sagte Galowyn bescheiden: „Ihr übertreibt ein wenig. Aber ich danke Euch, dass Ihr die Königin so genau über mich unterrichtet.“

Fallsta war von der schönen Frau so angetan, dass ihm bei der Begrüßung die Worte fehlten. Sie schien derartige Verlegenheiten gewohnt zu sein, denn sie lächelte, und sagte: „Wir werden später sicher noch genügend Gelegenheit haben, um uns zu unterhalten.“

Auch Smyrna erhielt ein freundliches Wort, dann stellte Lunete ihrerseits ihre beiden Hauptleute vor. Sie waren hochgewachsen und wie ihre Herrin von großer Schönheit. Aramar fragte sich im Stillen, ob sie wohl Achajerblut in den Adern hatten. Sie hießen Adelamor und Girgolo. Man sah ihnen an, dass sie kämpfen konnten. Sie zwangen sich zu keinem freundlichen Lächeln, sondern blieben ernst und senkten bei der Vorstellung lediglich leicht die Köpfe.

Endlich fragte Aramar: „Wo lebst du, Lunete?“

„Ich wohne auf Irilith und beschütze mein Volk, so gut es geht.“

„Wie konntest du entkommen?“

„Ich bin von einem Freund aus dem fernen Vespucciland rechtzeitig gewarnt worden. Die Flucht hat mir mein treuer Vorsteher Kuri ermöglicht. Doch für weitere Erzählungen ist heute Abend vor dem Kamin Zeit.“

Damit beendete sie das Gespräch und stieg auf ihr Pferd. Sie hatte entschieden und wartete nicht auf eine zustimmende Antwort. Sofort umringten sie die Krieger und ließen ihre Königin nicht einen Moment aus den Augen. Mit Freuden hätten sie ihr Leben für sie hergegeben.

In den Dörfern, durch die sie nun kamen, herrschte Frieden und Glück. Ein kleines Mädchen, es mochte nicht älter als acht Jahre sein, trieb eine Herde Gänse. Seine Füße steckten in warmen Pelzschuhen. Es lief mit seiner Gerte an der Spitze der Herde neben dem Leittier. Die Gans war beinahe genauso groß wie das Kind. Als das Tier in eine andere Richtung wollte als das Mädchen, schlug es die Kleine ohne Scheu mit seiner vollen Kraft. Die Gans lenkte ein, dabei hätte ein Schnabelhieb von ihr genügt, um das Kind zu töten.

„Welch ein Unterschied zu den Dörfern um Cantrel“, entfuhr es Smyrna.

Lunete hatte den leisen Ausruf gehört und wandte sich an die Dienerin: „Es schmerzt mich sehr, was mein Volk erdulden muss. Aber ich kann ihm noch nicht helfen. Wir sind zu wenige Krieger und können nur einen kleinen Bereich des Reiches vor den gierigen Fremden schützen.“

Als sie das Dorf verließen, wankte Fallsta im Sattel. Sein Gesicht war rot und glühte. Es war ihm schon seit Stunden schlecht gegangen, aber er hatte die Zähne zusammengebissen. Nun war ihm die Kontrolle über seinen Körper entglitten. Er hatte wieder hohes Fieber und war dabei, das Bewusstsein zu verlieren. Kurz bevor er vom Pferd fiel wurden die anderen auf ihn aufmerksam und stützten ihn.

„Er ist noch immer krank“, stellte Aramar bestürzt fest. „In diesem Zustand schafft er es nicht bis Irilith.“

„Was hat er?“ fragte Lunete ruhig.

„Er hat sich eine schwere Erkältung zugezogen, als er etwas verbergen wollte. Durch die Umstände der letzten Tage konnte die Krankheit nicht ausheilen. Wenn ihm nicht bald geholfen wird, fürchte ich um ihn.“

Die Königin gab Adelamo und Girgolo ein Zeichen und im Nu hatten sie aus zwei Speeren und einer Decke eine Trage gebaut. Adelamor organisierte zwei Pferde, zwischen denen sie aufgehängt wurde. Sie betteten Fallsta auf die schwankende Unterlage und bedeckten ihn mit zwei Decken. Dann ging der Ritt weiter.

Irilith

Die Burg Irilith war am Ende eines Tales in die südlichen Ausläufer der Ruburhöhen gebaut. Sie glänzte wie auch die Stadt Cantrel ganz in Weiß, und nur die Abendsonne verlieh ihr einen roten Schimmer. Die Leute von Whyten hatten eine Vorliebe für weißen Marmor. Drei Mauern und drei Tore schützten die große Anlage. Jede der Mauern war durch fünf Türme geschützt, und aus dem obersten Mauerring ragte ein hoher Burgfried. Er war der älteste Teil von Irilith. Ehemals stand er allein und trutzig in den Bergen, diente als Schutz und Wohnung und warnte, sich nicht mit den Herren dieses Landes anzulegen. Die königlichen Gemächer befanden sich noch immer in seinen Mauern.

Der sanft ansteigende Hügel, an dessen Ende das erste Tor lag, hatte man kahlgeschlagen, um dem Feind bei einem Angriff keine Deckung zu geben. Nur ein einsamer Baum war stehen geblieben und bog sich im Wind.

„Warum habt Ihr den Baum stehen lassen?“ fragte Smyrna verwundert Girgolo, der neben ihr ritt.

„Warum sollen wir ihn umhauen. Dieser einzelne Baum bietet keine Deckung und kann uns nicht gefährlich werden. Es gibt keinen Grund ihn zu fällen.“

„Aber Ihr habt doch all die anderen Bäume gefällt.“

„Das war nötig, um Angreifern die Deckung zu nehmen.“

„Und warum nicht diesen Baum?“

„Ich sagte Euch schon, weil es nicht nötig war.“

Verwirrt gab die Frau ihrem Pferd die Sporen.

Die fremden Besucher dachten jeder für sich, dass Irilith schöner als Cantrel war. Es passte sich der Landschaft an und versuchte sie nicht mit Prunk zu übertreffen, wie man es bei der Stadt getan hatte. Die ganze Anlage war verteidigungsbereit. Wachen standen unsichtbar am Eingang des Tals und zeigten sich, als sie ihre Herrin wahrnahmen. Auf Felsen und hohen Bäumen tauchten überall Männer auf und hoben grüßend die Arme.

In der Burg wurden sie schon erwartet. Bedienstete nahmen ihnen die Pferde ab und kümmerten sich um das Gepäck. Fallsta wurde in eine warme Kammer gebettet und mit einem Heiltrank versorgt, dann wies man den Gästen Zimmer zu. Später aß man zusammen mit dem ganzen Hof im großen Speisesaal.

Endlich zog man sich zur Beratung zurück. Dies war der Moment, auf den Aramar so dringend gewartet hatte. Doch die Höflichkeit hatte ihm zu warten geboten, bis Lunete bereit war. Nur wenige durften teilnehmen. Das waren Girgolo und Adelamor, die beiden Hauptleute der Königin. Aramar lud Smyrna und Galowyn ein, und als Vertreter des benachbarten Königreichs erschienen Grosskorl und Rimo. Außerdem wurden noch Brana und Grunema hinzu gebeten. Als Ort wurde das Kaminzimmer des Bergfrieds gewählt. Es lag im zweiten Stock des großen Rundbaus. Aus seinen Fenstern hatte man in der Abendsonne einen weiten Blick auf das Vorfeld der Burg, und weit in der Ferne blitzte als weißer Punkt die Stadt Cantrel. Ein großes Feuer wärmte alle nach dem langen Ritt. Grunema übernahm wortlos die Aufgabe, Holz nachzulegen. Überall standen Stühle mit Lehnen und weichen Kissen. Sie tranken heißen Wein mit kräftigen Gewürzen.

„Liebe Freundin“, begann der Zauberer, „erzähle uns zuerst, wie du aus Cantrel entkommen bist. Ich muss gestehen, dass mich dein Verschwinden sehr überrascht hat.“

„Meine Flucht habe ich zwei Männern zu verdanken, meinem Vorsteher der Wache, Kuri, und Dac dem Vespucci. Dac warnte mich vor einem Anschlag auf mein Leben, und Kuri schleuste mich aus der Stadt.“

„Von welcher Gefahr sprach der Vespucci?“

„Ich wusste schon lange, dass die Bürger der Stadt gegen meinen Gemahl und mich feindlich gesinnt waren. Sie misstrauten uns, denn sie befürchteten, wir könnten sie allzu sehr beherrschen. Jedem Fremden, selbst Leuten aus Darken, hätten sie mehr Zuneigung und Vertrauen entgegengebracht als ihren Königen. Je freier die Leute sind, desto mehr kämpfen sie gegen die, die ihre Freiheit schützen.“

Sie sah bei diesen Worten Brana und Grunema an. Grunema nickte, aber Brana widersprach: „Das Zerwürfnis zwischen Euch und so manchen Bürgern will ich nicht leugnen. Doch ein Anschlag auf Euch war nie geplant.“.

Lunete ging darauf nicht weiter ein: „Eines Abends erklärte mir Dac, dass sich die Bewohner der Stadt mit den so genannten Gästen verbündet hätten, um mich in den Kerker zu werfen. Sie wollten eine neue Herrschaftsform einführen. Das Königtum wollten sie abschaffen und ihre eigenen Führer wählen. Die Fremden wären geblieben, um meinem Volk bei diesem Staatsstreich beizustehen. In dieser Nacht packte ich einige persönliche Habseligkeiten, und Kuri brachte mich vor die Tore. Nur Adelamor und Girgolo nahm ich als Begleitung mit. Mit dem Vespucci hatte ich ausgemacht, dass er meine Rolle einnehmen solle, damit mein Verschwinden so lange wie möglich geheim blieb. Ich wollte ein Heer zusammensuchen und meine Stadt befreien.“

„Ihr wolltet also doch die absolute Macht?“ sagte Brana. „Wir sollen alle unterworfen werden?“

„Natürlich nicht“, erwiderte die Königin empört.

„Aber wozu wollt Ihr dann mit einem Heer die Stadt angreifen?“

„Ich will sie nicht angreifen, sondern befreien.“

„Aber Ihr geht doch davon aus, dass wir mit den Fremden gemeinsame Sache machen und wollt uns bekämpfen?“

„Ich kann mich doch nicht einfach absetzen lassen!“

„Das hatten wir doch gar nicht vor!“

Die Stimmen der beiden Frauen wurden immer lauter, da mischte sich Aramar ein: „Die tatsächlichen Sachverhalte klären wir später. Aber, dass es nicht zum Besten steht zwischen der Königin von Whyten und ihrem Volk, das wird selbst in dieser Beratung deutlich. Sage uns Lunete, welche Rolle spielt Kuri?“

„Er ist mein Vertrauter und führt meine Befehle aus. Ich habe ihm gesagt, er soll den Vespucci unterstützen, und das tut er auch. Diesen beiden Männern vertraue ich blind.“

„Hat Euch der Vespucci eine Medizin gegeben?“ mischte sich nun Galowyn ein.

„Was kümmert Euch das?“

„Diese Medizin ist gefährlich. Auch die Königin von Equan und die Königliche Tochter wurden so in Abhängigkeit gebracht.“

„Das ist doch Unsinn! Ich will davon nichts hören! Mich macht man nicht abhängig! Ich bin Königin Lunete aus dem Volk der Achajer, das scheint Ihr zu vergessen!“

Aramar fragte leise: „Hast du noch etwas von dieser Medizin?“

„Natürlich, denn ohne sie könnte ich nicht leben.“

Lunetes Stimme war schneidend geworden und duldete keinen Widerspruch. Alle verstummten bei diesem Zornesausbruch und sahen betreten zu Boden.

Der Zauberer wechselte das Thema: „Wir wollen uns die Lage, in der sich Whyten befindet, vor Augen führen.“

Dann begann er zu erzählen, von Ormor, seiner Befreiung und seinem Wunsch, ganz Centratur in seine Gewalt zu bringen. Smyrna und Galowyn fielen ein. Sie berichteten vom Kampf um Hispoltai und den grausamen Orokòr. Diese Orokòr, so waren sich alle einig, würden in Kürze auch Whyten überfallen. Das Land musste sich dringend rüsten, um diese wilden Horden abzuwehren.

„Wer sollte unser Land verteidigen?“ fragte Brana. „Wir können doch nicht einmal dem Treiben der Freier Einhalt gebieten. Den übermächtigen Heeren des Zauberkönigs sind wir hilflos ausgeliefert.“

„Wohin sind die alten Zeiten entschwunden, als man in ganz Centratur erbleichte, wenn von den Kriegern aus Whyten die Rede war?“ jammerte Grunema. „Damals hat es noch Helden in diesem Land gegeben.“

„Der letzte der Helden war mein Gemahl und er ist tot“, beschied ihm die Königin kurz und fuhr dann fort, „wenn diese Fremden, die wir so lange Gäste genannt haben, endlich unser Land verlassen, werde ich als Königin alle Kräfte sammeln. Dann werden wir stark genug sein und uns verteidigen. Das Übel, an dem alles krankt, sind diese Freier. Sie saugen das Land aus und nehmen uns die Luft zum Atmen.“

„Wenn die Freier vertrieben sind“, sagte Aramar, „sind eure Probleme noch lange nicht gelöst. Schon jetzt verhungert ein großer Teil deines Volkes. Selbst wenn keine Gäste mehr da sind, ist der Hunger nicht gebannt. Auch in Whyten fällt keine Nahrung vom Himmel. Im nächsten Frühjahr haben die Leute kein Korn, um zu säen. Wenn sie aber nicht säen, können sie auch nicht ernten. Es gibt auch keine Hühner mehr, die Eier legen. Eier braucht man aber, um neue Hühner zu züchten. Und weil es keine Kühe mehr gibt, mangelt es nicht nur an Milch, sondern auch an Kälbchen. Dein Land, Lunete, ist so ruiniert, dass es aus eigenen Kräften nicht mehr auf die Beine kommt. Die wenigen Bauern, die du beschützt hast, werden teilen müssen. Nur wenn alle hungern, können alle überleben.

Doch du hast Recht, zunächst müssen wir tatsächlich die gefräßigen Gäste loszuwerden, diese Schmeißfliegen und Schmarotzer. Viel Zeit bleibt uns nicht. Wenn Ormors Horden hereinbrechen, werden sie die letzten Vorräte vernichten und auch diese Burg nicht verschonen. Gegen Orokòr sind die Freier harmlos. Die schwarzen Bestien fressen alles kahl, wie Heuschreckenschwärme.“

„Wie können wir uns gegen diese Gäste durchsetzen?“ fragte nun Adelmor.

„Wir haben zum Glück einen Zauberer unter uns“, antwortete ihm seine Königin. „Er wird die Eindringlinge verjagen. Von mir aus kann Aramar die halbe Stadt zum Einsturz bringen, wenn dem Gesindel dadurch der Aufenthalt in Cantrel verleitet wird.“

Aramar sah sie erstaunt an.

„Lunete, du bist aus dem Geschlecht der Achajer und kennst die Regeln. Sicher könnte ich die ganze Stadt vernichten. Doch solche Taten sind uns verboten, und das weißt du. Ich darf den Zauber nur einsetzen, um zu helfen, nicht um zu zerstören. Wenn ich das täte, was du verlangst, würde ich mich schuldig machen.“

Die Königin stutzte, dann lachte sie und sagte: „Ich habe nur Spaß gemacht. Aber sage mir, du gewaltiger Zauberer, was nutzt dir deine Zauberkunst, wenn du sie nicht anwendest?“

Die kleine Runde erörterte dann noch viele Pläne, wie Cantrel befreit werden könnte. Die Stadt im Sturm zu nehmen, verbot sich. Dazu waren die Kräfte der Königin zu schwach. Deshalb überlegten sie allerlei Finten und Tricks. Sogar das Stauen des Flusses, um die Eindringlinge zu ertränken, wurde vorgeschlagen und natürlich verworfen.

Stunden später hatten sie noch immer keinen vernünftigen Plan. Als alle schon verzweifelt aufstehen und ohne Hoffnung ins Bett gehen wollten, meldete sich Smyrna. Sie entwickelte eine Strategie besonderer Art. Zuerst waren alle skeptisch, und besonders die beiden Hauptleute machten viele Einwendungen. Aber je länger sie debattierten, desto besser gefiel ihnen die Idee. Schließlich rief Aramar begeistert: „Smyrna, du hast tatsächlich eine Lösung für unser Problem gefunden!“

Smyrnas Vorschlag war nur mit Fallstas Unterstützung zu realisieren. Deshalb besuchten sie den Goldgräber sogleich am Krankenbett. Er war bleich im Gesicht, zitterte am ganzen Körper und schnappte keuchend nach Luft. Die Diener der Königin hatten ihn mit Tonflaschen umstellt, die mit heißem Wasser gefüllt waren, um ihn zu wärmen.

Voller Mitleid ließ sich Lunete bei ihm nieder. Ohne Angst vor irgendwelcher Ansteckung legte sie ihm ihre kühle, weiße Hand, die so makellos war, wie alles an ihr, auf die Stirn und sprach zu ihm mit warmen Worten. Unter dem Druck dieser Hand wurde sein Atem ruhiger und das Zittern ließ nach, bis es endlich ganz verschwand. Ein Lächeln trat auf die Lippen des gequälten Mannes.

Aramar murmelte bewundernd: „Was der Heiltrank eines Zauberers nicht schafft, das erreicht die Hand einer schönen Königin. Sie nimmt sogar den Schüttelfrost von einem Todkranken.“

„Wie geht es dir?“ fragte Galowyn den Freund. „Wir haben uns Sorgen um dich gemacht.“

„Ein Goldgräber hält viel aus“, lächelte Fallsta gequält.

„Wir müssen mit Euch sprechen“, unterbrach die Königin. „Wir brauchen Eure Hilfe!“

„Die könnt Ihr gerne haben“, murmelte der Kranke und schloss die Augen wieder. Dann versank er in einen tiefen Schlaf, in dem er nicht mehr wahrnahm, was um ihn herum vorging.

„Es hat keinen Sinn“, sagte nun Aramar leise. „Er ist zu krank, um mit uns zu verhandeln. Wir müssen uns gedulden.“

Unwillig erhob sich Lunete und ging zur Tür. Die anderen folgten ihr.

Am nächsten Tag ging es Fallsta erheblich besser. Das Fieber war zurückgegangen und auch der Schüttelfrost verschwunden. Er war bei klarem Bewusstsein und hatte sogar eine dünne Suppe zu sich genommen. Die Schüssel stand noch neben seinem Bett, als Lunete und Aramar ihn besuchten.

Ohne sich lange nach seinem Befinden zu erkundigen, sagte die Königin wie am Vorabend: „Wir brauchen Eure Hilfe!“

„Königinnen verweigert man sich nicht“, antwortete der Kranke galant, wenn auch mit leiser Stimme. „Es ist schon schlimm, dass ich mich Euch zu Ehren nicht erheben kann.“

Die Frau unterbreitete ihm den Plan. Ihrer Stimme war anzuhören, dass sie fest mit seiner Zustimmung rechnete.

Fallsta schwieg erst eine Weile, als sie geendet hatte. Dann stöhnte er: „Schon wieder soll es eine Rettungsaktion auf meine Kosten geben. Ich bin ein armer Mann und muss für mein Gold hart arbeiten. Lasst mich zufrieden mit meinem kleinen Besitz leben.“

„Ich werde Euch entschädigen, sobald ich kann!“ versprach Lunete.

„Aramar, was ist deine Meinung?“ wandte sich der Goldgräber flehend an den Zauberer.

„Es ist der einzige Weg“, antwortete dieser, „aber ich habe großes Verständnis, wenn du dich verweigerst.“

Nach einer langen Pause stimmte Fallsta schließlich zu. Damit war der Plan besiegelt.

Waren es die heilenden Hände der Königin oder der Heiltrank des Zauberers, Fallsta wurde von Stunde zu Stunde gesünder. Bereits am Nachmittag erhob er sich von seinem Lager und machte die ersten Schritte. Smyrna begleitete ihn, als er das Krankenzimmer verließ und in warmen Kleidern durch die Festung schlenderte.

Die Anlage war weitläufig, so dass die Männer auch ihre Familien unterbringen konnten. Kinder sprangen im Sonnenschein herum und spielten auf den Mauern. Vor den Toren sah man den Burgberg, der bis auf den einen Baum gerodet war. Der Hügel sah nackt aus, beinahe ein wenig obszön. Ein Bach sprudelte aus den Bergen und durchquerte die Festung. Er quoll unter den Mauern hervor und floss in gewundenen Lauf das Tal entlang. Sein Plätschern war bis zu den Zinnen zu hören.

Während der Mann und die Frau gedankenverloren nach Süden sahen, durchbrach der Schrei einer Frau die friedliche Stille des Nachmittags. Kurz darauf schrie die Frau wieder. Smyrna und Fallsta sahen sich an und eilten in die Richtung des Schreis. Die Frau schrie nun zum dritten Mal. Smyrna und Fallsta zogen ihre Messer. Sie waren bereit, die hilflose Frau zu verteidigen. Die übrigen Bewohner der Burg ließ das Schreien gänzlich unbeeindruckt. Sie lachten, als sie die Fremden mit gezückten Waffen sahen. Eine ältere Frau trat auf sie zu und empfahl ihnen, ihre Messer wegzustecken.

„Hier wird eine Frau gequält!“ rief Fallsta. „Das mag hier so üblich sein. Aber wir lassen das nicht zu. Wir werden ihr zu Hilfe kommen.“

„Ihr werdet ihr nicht helfen können und schon gar nicht mit Euren Messer, “ sagte die Frau lächelnd.

„Das werden wir ja sehen!“

„Auch sehen werdet ihr nichts, denn man wird Euch nicht zu ihr lassen. Die Frau bekommt ein Kind.“

Entgeistert blieben die beiden Gäste stehen. Sie hatten sich zum Narren gemacht. In diesem Augenblick kam die Königin vorbei. Sie ging gemessenen Schrittes zu der Gebärenden. Als sie Fallsta und Smyrna erblickte, sagte sie: „Wir stehen vor großen Kämpfen. Es wird viel Blut fließen und viele werden sterben. Gerade jetzt wird ein Kind geboren. Das ist ein gutes Zeichen! Wir sollten fröhlich sein. Jetzt ist mir nicht mehr bang.“

Schon am nächsten Morgen verließen Reiter Irilith. Die einen, zu denen auch Fallsta und die beiden Frauen gehörte, ritten nach Westen und die anderen hatten als Ziel Cantrel. Lunete blieb vorerst in der Festung. Sie würde die Burg später verlassen, um die Kämpfe zu organisieren. Früher hatte sie die Kriege den Männern überlassen müssen, zuerst ihrem Vater und ihren Brüdern, später ihrem Gemahl, dem König Meliodas. Eine Frau kämpft nicht, hatte es geheißen. Sie sei nicht hart genug. Kämpfen wäre unweiblich und einer Frau nicht würdig. Deshalb hatte sie damals, während die Männer ins Feld ritten, zu Hause gesessen und hatte mit Bangen gewartet. Sie hatte Stickarbeiten gemacht und Teppiche geknüpft, aber mit ihrem Herzen war sie in den Schlachten gewesen, hatte sich vorgestellt, was ihrem Vater, ihrem Mann im diesem Moment zustoßen konnte, hatte sich alle Gräuel des Krieges ausgemalt und war doch hilflos geblieben. Die Nächte waren lang gewesen. Ihr Körper hatte gezittert und Übelkeit sie gequält. Dennoch durfte sie niemand davon erzählen, musste den Tag über Heiterkeit und Zuversicht verbreiten. Sie musste stark sein, obgleich man sie für zu zart zum Kämpfen hielt. Dieses Warten fand sie ihr Leben lang schlimmer, als der Gefahr ins Auge zu sehen. Einer Frau kann man den Krieg, diese Männerarbeit, nach allgemeiner Meinung nicht zumuten, wohl aber die Kälte in ihrem Kopf und in ihren Gliedern.

Seit dem Tod ihres Mannes hatte Lunete selbst die Rolle der Männer übernommen. Sie gürtete sich mit Waffen und plante Angriffe. Sie zog dies der ehemaligen Geborgenheit fernab von allen Schrecken und Gefahren bei weitem vor.

Botschaften

In Cantrel ging alles seinen gewohnten Gang. Ein Bettler fuhr auf einem vierrädrigen Karren vorüber und stieß sich dabei mit zwei Holzklötzen am Boden ab. Die Leute, die ihn sahen, fragten sich, ob er tatsächlich keine Beine mehr hatte, oder sie nur unter einer alten, speckigen Decke verborgen hielt, um Mitleid zu erregen. Betrunkene torkelten über die Straßen, und vor den Toren machten sich ein paar junge Heißsporne daran, bei den Bauern einsammeln zu gehen. Sklaven hasteten geschäftig zu irgendwelchen Zielen, stets bemüht, es ihren Herren recht zu machen, um Schläge zu vermeiden. Auch ein paar Zwerge hatten sich in die Stadt gewagt. Sie waren hier in Geschäften. Seit die Freier das Heft in der Stadt übernommen hatten, waren Zwerge selten geworden. Sie machten in der Regel einen Bogen um Cantrel, denn dort wurden sie von den ungezügelten Horden verspottet und ab und an sogar geschlagen. Für die Zwerge, die nun hier auftauchten, musste es sich um ein Geschäft mit großem Gewinn handeln.

Drei Wachsoldaten patrouillierten auf der Terrasse vor dem Palast und wurden von zwei gedrungenen Männern mit dunkler Haut und dunklen Haaren beobachtet. Sie waren sehr darum bemüht nicht aufzufallen. Dies wäre jedoch nicht nötig gewesen, denn niemand nahm von den Spähern aus Darken Notiz. Man hatte sie geschickt, um die Lage im Nachbarland zu erkunden. Dort war ein großes Heer bereit, im verhassten Whyten einzufallen. Es galt noch eine alte Rechnung aus dem Großen Krieg zu begleichen. Doch von der Gefahr aus dem Norden ahnte man in Cantrel nichts, und nicht einmal Aramar wusste, dass ein solcher Angriff unmittelbar bevorstand. Er sah Ormors Orokòr als die größte Bedrohung. Nach seiner Überlegung würde es noch eine Weile dauern, bis der Zauberkönig die Niederlage vor Hispoltai überwunden hatte. Dann allerdings war mit einem Kampf auf Leben und Tod zu rechnen.

Die Kundschafter würden ihren Vorgesetzten in Darken melden, dass Whyten mit seiner Hauptstadt Cantrel wie eine reife Frucht vor ihnen lag und nur noch eingenommen werden musste.

Noch zwei andere Gestalten drückten sich in den Schatten eines der großen Häuser. Es waren ein Mann und eine Frau. Für sie war die Gefahr, erkannt zu werden, erheblich größer, denn sie stammten aus Cantrel. Aber man hatte sie in Irilith mit neuen Kleidern versorgt, so dass sie nicht mehr das Bild der Verfemten zeigten. Wenn ihnen bekannte Leute vorübergingen, zogen sie Tücher über ihre Köpfe und vor das Gesicht. Es waren Brana und Grunema, die sich im Morgengrauen an den Wachen am Tor vorbeigedrückt hatten.

Da erschollen plötzlich Fanfaren, und die Leute machten die Straße frei. Von den drei Toren im Westen, Osten und Süden näherten sich nämlich Gruppen von Menschen. Sie schritten in der Straßenmitte und hatten als Ziel den Palast. Voraus lief jeweils ein Mann in prächtigen Kleidern.

Der erste war Freiherr Arakhan aus Muriel. Seinem Vater gehörten zwei Burgen und ein Dorf. Der Freiherr trug goldene Kleider und einen Hut in der gleichen Farbe. Er schritt langsam und war sich seiner Würde bewusst. Hinter ihm kam sein Gefolge, eine Horde wilder Kerle, die einen Menschen schon für ein paar Heller umbrachten. Sie hätten auch Hand an ihren Herren gelegt, wenn es nötig gewesen wäre. Aber so lange dessen Vater regelmäßig Geld schickte, weil er hoffte, bald mit dem Königshaus von Whyten verschwägert zu sein, waren sie treu ergeben.

Der zweite Zug wurde von Krichnar, dem Händler, angeführt. Er stammte aus Paradland. Sein Vater war noch mit der Rucke auf dem Rücken durchs Land gezogen und hatte Eier, Bindfäden und die eine oder andere verbotene Waffe verkauft. Sein Sohn hatte das Geschäft später in die Hand genommen und groß aufgezogen. War bei seinem Vater der Waffenhandel die Ausnahme, so wurde er bei seinem Sohn die Regel. Die Kunden waren recht begierig nach diesen verbotenen Waren, denn jeder ahnte, dass die friedlichen Zeiten bald vorbei sein würden. Sie zahlten jeden Preis. Krichnar vergrößerte mit der Zeit die Auswahl seiner Waffen, bis schließlich Fürsten und sogar Könige nach ihm verlangten. So kam er zu Reichtum. Noch immer besuchte er zwei Mal im Jahr seinen alten Vater, der in bitterer Armut irgendwo als Kostgänger bei einer fremden Familie in Rudia lebte. Dann brachte er ihm ein fettes Stück Fleisch und einen Laib Brot mit. Einmal schenkte er dem Alten sogar einen alten Mantel, den er unterwegs günstig erstanden hatte. Krichnar war bereits in den Vierzigern und hatte einen großen Bauch, den er vor sich herschob. An seinen Fingern blitzten zahllose Ringe, aber sein Gefolge war klein, denn der Händler sah nicht ein, dass er Mäuler unnötig durchfüttern sollte.

Der dritte, der an diesem Vormittag zum Palast schritt, war Wunsid. Er war General und hatte für den verstorbenen König Meliodas gekämpft. Dabei war er in Ehren ergraut. Wunsid war ein aufrechter Mann, der oft die Welt nicht mehr verstand. Er liebte die überschaubaren Verhältnisse einer Schlacht. Da wusste man, die Guten sind auf der eigenen und die Bösen auf der anderen Seite. Als der König überraschend starb, hatte der General das Reich in Gefahr gesehen und sich entschlossen, auf seine alten Tage noch einmal für sein Land in die Bresche zu springen. Nach heftigem Ringen mit sich selbst war er bereit gewesen, die Königswürde auf seine Schultern zu laden und sich in den großen Kreis der Freier eingereiht. Hinter ihm standen einige seiner alten Soldaten.

Das Volk sah den glänzenden Aufzügen fasziniert zu und klatschte auch das eine und andere Mal Beifall, wenn jemand aus dem Gefolge der Freier besonders elegant grüßte. Brana sah ihren Begleiter aufmerksam an. Der nickte sein Einverständnis und beide schlossen sich unauffällig der Menge an. Sie wollten wissen, was sich beim Palast zutragen würde.

Oben auf den Stufen standen die Wachen. Sie hatten von dem kommenden Schauspiel gewusst, und sich darauf vorbereitet. Nun trugen sie ihre Paradeuniformen mit silbernem Brustpanzer und hohen Helmen. Sie standen unbeweglich mit gespreizten Beinen, den Speer mit ausgestrecktem Arm haltend. Ihre Minen waren starr und hoheitsbewusst.

Die drei Züge hatten sich inzwischen vereinigt und machten nun vor der großen, weißen Treppe halt. Die Anführer schritten langsam empor. Nachdem sie den halben Weg zurückgelegt hatten, trat ihnen Kuri von oben entgegen. Auch er war herausgeputzt. Seine Rüstung glänzte in der Sonne.

„Halt!“ rief er mit herrischer Stimme. „Es ist niemand gestattet, den königlichen Palast zu betreten.“

„Wir sind die neuen Sprecher der Freier“, rief Arakhan. „Man hat uns geschickt, um der Königin mitzuteilen, dass unser aller Geduld erschöpft ist. Die Nahrungsmittel und der Wein neigen sich dem Ende zu, und auch von den Bauern im Umkreis ist nichts mehr zu holen. Wir alle haben viel Geld in diese Werbung investiert und wollen nun endlich eine Entscheidung. Entweder Ihr lasst uns in den Palast, oder alle Freier kommen mit ihrem Gefolge und fegen Euch hinweg. Wir wollen zur Königin!“

„Ja, wir wollen zur Königin, um ihr als treue Diener unsere Dienstbarkeit zu Füßen zu legen.“ Der General hatte sich eingeschaltet.

„Wir fordern Ersatz unserer Unkosten“, setzte Krichnar noch einen drauf.

Die anwesenden Männer klatschten bei diesen Worten Beifall.

In diesem Moment trat ein Vespucci aus dem großen Tor des Palastes und schritt, seine Fingernagelschoner hinter sich herziehend, zur Treppe. Verblüfftes Schweigen breitete sich auf dem Platz aus. Gebietend erhob der Glatzkopf die blitzenden Hände und rief mit fremdem Akzent und seltsam tiefer Stimme: „Volk von Cantrel!“

„Die meisten dieser Laffen stammen doch gar nicht aus unserer Stadt“, flüsterte Brana empört.

„Volk von Cantrel“, wiederholte der Gnom noch einmal. „Die Königin schickt mich.“

Verwundert sahen sich Grunema und Brana an. Sie hatten ihre Königin doch erst vor kurzem in Irilith getroffen. Wie konnte da der Vespucci im Namen von Lunete sprechen?

„Die Königin versteht Eure Ungeduld und will das Warten beenden. Sie bittet Euch aber um Verständnis für ihre Trauer und für ihre Sorgen um die Staatsräson, die ein Zögern bisher erforderlich machten und Euch zur Nachsicht zwangen. Nun hat sie sich zu einem Entschluss durchgerungen und wird ihn morgen um diese Zeit verkünden lassen.“

Am nächsten Tag strömten die Freier schon bei Morgengrauen mit ihren Leuten in die Stadt. Die Schenken waren überfüllt und bald lagen die ersten Betrunkenen auf den Straßen. Die Huren machten gute Geschäfte, denn viele der Bewerber um die Hand der Königin waren sich darüber klar, dass es wohl noch eine Weile dauern würde, bis sie ins königliche Bett steigen durften.

Dann endlich war es so weit. Dicht gedrängt, Körper an Körper standen alle auf dem großen Platz. Das Murmeln verstummte, als der Vespucci erschien. Atemlos vernahmen alle, was er zu sagen hatte: „Bürger von Cantrel! Die Königin hat mich zu ihrem Boten ausersehen, und das erfüllt mich mit Stolz. Bitte habt Verständnis, wenn die leidgeprüfte Frau nicht vor Euch tritt. Dies ist auch nicht nötig, denn ich kenne ihren Willen und werde ihn nun verkünden.“

„Da bin ich aber gespannt“, murmelte Brana.

„Die Königin lässt Euch mitteilen, dass sie sich für keinen der Freier entscheidet.“

Ein aufgeregtes Murmeln brandete auf und empörte Rufe erhoben sich, aber der Gnom hob sogleich beschwichtigend die Hand.

„Die Königin“, rief er hastig, „weist aber auch keinen der Freier ab. Sie hat eine Entscheidung getroffen, die der Stadt, dem Land und allen Gästen gerecht wird. Das Staatswohl vor Augen lässt Lunete verkünden, dass sie keinen der Freier bevorzugt, sondern einen jeden annimmt, wenn er die desolaten Staatsfinanzen des Landes unterstützt. Konkret heißt dies, für einen Betrag von fünftausend Dinra erwirbt sich jeder das Recht, die Königin einmal in der Woche zu besuchen und sich ‘Königlicher Partner’ zu nennen. Außerdem bekommt er einen Anteil an einem Dorf zugewiesen, das seiner Kontrolle unterstellt wird. Es steht jedem frei, seinen Einstand zu erhöhen. Für zehntausend Dinra sieht man die Königin zweimal und es erhöht sich der Anteil an den Dörfern. Man kann sich auch noch mit mehr Geld beteiligen. Investiert man genügend, so kann man die Königin sogar täglich sehen und eins oder zwei Dörfer allein sein Eigen nennen.

Wie Ihr seht, wird keiner von euch enttäuscht. Ein jeder erhält seine Chance, und das Warten auf die Entscheidung der Königin hat ein Ende.“

Entgeistertes Schweigen folgte dieser Eröffnung. Damit hatte niemand gerechnet.

„Sie machen unsere Königin zur Hure“, stammelte Brana entsetzt und sie schämte sich für ihr Volk, obgleich sie wusste, dass Lunete eine derartige Entscheidung niemals treffen würde.

„Dieser Gnom verkauft Lunete und unsere Bauern. Nein, wir alle werden verkauft!“ Grunema war empört.

In diesem Augenblick trat unter der Treppe eine seltsame Gestalt hervor. Das Gesicht hatte schon lange keine Sonne mehr gesehen und war bleich. Der Körper war mit Lumpen bedeckt, das Haar struppig und lang. Der Mann hatte die Fäuste geballt.

„Lüge!“ rief er. „Königin Lunete würde niemals einen solchen Entschluss fassen. Ihr alle werdet betrogen. Man verkauft euch etwas, was es gar nicht gibt. Die Königin wird niemals eure Metze sein. Verlasst diese Stadt, lasst uns endlich in Frieden und nehmt diesen Glatzkopf mit.“

Weiter kam er nicht. Der Vespucci sah ihn mit starrem Blick an. Unter diesem Blick bäumte sich der Mann mit schmerzverzerrtem Gesicht auf, der Schrei erstarb auf seinen Lippen, dann brach er vor den Stufen zusammen. Eine Weile zuckte er noch mit Armen und Beinen und dann starb er.

„Achtet nicht auf ihn“, rief der Gnom den Versammelten zu. „Er ist nur ein armer, kranker Mann, der an Fallsucht leidet. Wir werden uns seiner annehmen.“

Auf seinen Wink hin eilten Bedienstete herbei und trugen den Körper weg.

„Und nun geht nach Hause, Leute, und überlegt euch, wie viele Anteile an der Königin und ihrem Reich ihr kaufen wollt.“

Mit diesen Worten machte der Vespucci kehrt und schritt in den Palast zurück. Er ließ ein verblüfftes Publikum zurück. Kaum war er verschwunden, brach ein irrsinniger Lärm aus. Jeder redete mit jedem, jeder gab seine Einschätzung der Lage ab. Die unterschiedlichsten Meinungen waren zu hören. Die einen empfanden die Entscheidung als Zumutung, die anderen fanden den Entschluss der Königin fair, und die dritten stellten sich schon im Geist vor, was sie bei ihren monatlichen Besuchen mit der Königin anstellen würden. Schließlich wären sie dann ‘Königliche Partner’ und hätte diverse Vorrechte. Andere wieder kalkulierten den Gewinn, den sie aus den Dörfern ziehen wollten.

General Wunsid hatte seine Getreuen um sich versammelt und analysierte die Lage. Er sah nur zwei Möglichkeiten, entweder eine größere Zahl von Anteilen kaufen oder einen Militärputsch anzetteln, um das Vaterland zu retten. Archam schickte sofort Boten zu seinem Vater und forderte mehr Geld. Krichnar hingegen gedachte, viele Anteile zu kaufen, sie aber nicht selbst zu verwenden, sondern an zahlende Kunden weiterzuvermieten. Die Verfemten, die natürlich auch alles erfahren hatten, waren verzweifelt. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass ihre Königin einen derartigen Vorschlag machen konnte.

Endlich ging auch dieser Tag zu Ende und alle schliefen tief und fest, trunken vom Wein, vom vielen Reden und von der Aussicht, die der Vespucci eröffnet hatte.

Am nächsten Morgen erschien alles wie ein Traum, und nicht nur die Leute, die viel getrunken hatten, klagten über Kopfschmerzen. Wie am Vortag war strahlender Sonnenschein. Es wurde sogar noch ein wenig wärmer. Gleich nach dem Frühstück strebten alle wieder zum Palast. Keiner wollte den Fortgang der Dinge verpassen.

In der Tat wurde die Neugierde der Leute nicht enttäuscht, wenngleich andere Ereignisse eintraten, als sie erwartet hatten.

Es war gegen Mittag, da taumelte ein Mann durch das westliche Stadttor und eilte zu der Marmortreppe.

„Gold“, rief er in einem fort. „Gold! Ich habe Gold gefunden, und muss es der Königin melden.“

„Gold.“ Das magische Wort pflanzte sich wie ein Lauffeuer von Mund zu Mund.

Die Leute hielten den Mann an seinen Kleidern fest, obwohl sie sich dabei schmutzig machten, denn Hose und Jacke starrten vor Dreck und Lehm. Der Fremde hatte in der Erde gegraben, dies war unverkennbar. Er schien tagelang gelaufen zu sein und dabei nichts gegessen zu haben. Sein Gesicht war von einem ungepflegten Bart überzogen. Die rechte Hand hatte er zur Faust geballt, und wenn die Sonne darauf schien, blitzte es dort hell auf. Man vermutete zu Recht, dass er einen Goldklumpen bei sich trug. Man redete auf ihn ein, wollte wissen, wo sich das Gold befand. Doch er riss sich los, taumelte weiter. Man bot ihm Essen und Trinken an, aber er stammelte nur: „Ich muss zu meiner Königin. Ich muss es ihr sagen. Sie braucht das Gold, um das Land zu retten!“

Oben an der Treppe standen wie immer Wachen, aber als sie den Mann erblickten, verloren sie ein wenig von ihrer Würde. Unruhig stiegen sie ein paar Stufen nach unten. Sie wollten sich von den Vorgängen nichts entgehen lassen. Der Mann kroch mehr, als dass er stieg, die Stufen empor. Dabei stammelte er ständig: „Ich muss zur Königin! Sie muss von dem Gold erfahren!“

Als der Vespucci erschien, breitete sich vorübergehend in der Menge ängstliche Stille aus. Der Gnom schritt dem Fremden entgegen und fragte laut, was er wolle. Der berichtete von einem Goldfund in den Ruburhöhen. Doch der Vespucci blieb misstrauisch und verlangte Beweise. Da zeigte der Mann den Goldklumpen, den er in der Hand hielt. Langte danach in seine Taschen und zog Goldnuggets so groß wie Erbsen und Walnüsse heraus. Die sonst so ruhige Stimme des Vespucci wurde schrill. Er befahl den Fremden in den Palast. Dort solle er die genaue Stelle des Fundes erklären.

Doch der Glatzkopf hatte nicht mit der Menge gerechnet. Lautstarke Proteste hallten über den Platz. Drohend rückten die Leute gegen die Treppe vor. Sie alle wollten wissen, wo sich das Gold befand, wollten teilhaben am Reichtum.

In diesem Durcheinander winselte der Mann immer wieder: „Ich muss zu meiner Königin! Sie muss erfahren, wo das Gold liegt!“

„Die Königin kann dich jetzt nicht sprechen“, herrschte der Vespucci endlich entnervt den Goldgräber an. „Teile mir mit, was du ihr sagen willst.“

„Nein!“ war die Antwort. „Wenn ich es meiner Königin nicht allein sagen kann, dann sollen es alle wissen!“ Er drehte sich um und rief lauthals über den ganzen Platz: „Ich habe das Gold im Ruchatal in den Ruburhöhen gefunden.“

„Sei still“, zischte der Glatzkopf wütend und zerrte am Arm des Mannes. Doch der sträubte sich.

„Ich traue dem Gnom nicht“, rief er. „Helft mir, und ihr sollt alle reich werden!“

Der Aufruhr war nun unbeschreiblich. Viele wollten sich sofort auf den Weg zur Fundstelle machen. Andere zögerten noch, sie trauten der Sache nicht so recht. Der Vespucci befahl dem Mann: „Gib mir dein Gold!“

Der schrie auf und weigerte sich. Da rief der Gnom die Wachen und befahl ihnen, dem Fremden den Schatz abzunehmen. Wenn sie gehorchten, werde ein jeder reich entlohnt.

Mehr bedurfte es nicht. Die Männer der Garde fielen über den Fremden her, und bald wankte ein gebrochener Mann, der all seine Schätze verloren hatte, die Stufen des Palastes herunter. Die Menge sah dem Schauspiel gebannt zu, aber sie hatte kein Mitleid mit dem Opfer.

‚Warum ist er gekommen?’ dachte ein jeder. ‚Ich hätte den Schatz für mich behalten. Wie kann man nur so töricht sein und mit seinem Fund prahlen!’

Der Glatzkopf untersuchte die Beute und murmelte: „Es ist tatsächlich Gold!“

Dann kehrte er in den Palast zurück.

Goldrausch

Wer nun dachte, dass ein Wettrennen zu den Ruburhöhen ausbrechen werde, der sah sich getäuscht. Zwar wurde in der ganzen Stadt über nichts Anderes mehr gesprochen, aber nur wenige schwangen sich tatsächlich auf ihre Pferde und ritten nach Norden. Niemand kümmerte sich um den unglücklichen Goldgräber, und keiner bemerkte, wie er verschwand. Nachdem das Erstaunen und die erste Begeisterung verflogen waren, setzte Misstrauen ein. Die Mahner, die zur Zurückhaltung rieten, bekamen die Oberhand und fanden überall Gehör.

Dies änderte sich, als vier Tage später ein Reiter mit seinem erschöpften Tier die Wachen am Tor niederritt und in die Stadt eindrang. Sofort entstand ein Menschenauflauf, und bevor die Palastwache den Frevler von seinem Pferd ziehen konnte, rief er laut: „Es stimmt! In den Ruburhöhen liegt Gold! Unermesslich viel Gold! Wir haben große Schätze gefunden!“

Es dauert bei den meisten Menschen eine Weile bis sie eine Entscheidung treffen. Aber wenn die Massen erst einmal in Bewegung gekommen sind, dann gibt es auch für Ängstliche und Zauderer kein Halten mehr. Die Leute ließen auch diesmal alles stehen und liegen und machten sich auf den Weg. Wer ein Pferd hatte, der ritt und wer keines hatte, der lief nach Norden. Keiner wollte zu spät kommen und gar leer ausgehen, weil die Schätze schon alle verteilt waren. Die Wachen verließen den Palast, aber sie nahmen ihre Waffen mit ins Gebirge.

Manche packten nur das Notwendigste, andere verzichteten sogar auf Kleider und Decken, nur um noch schneller zu sein. Man nahm sich gegenseitig die schnellsten Pferde ab, und so mancher wurde hinterrücks erdolcht. Es gab ein Hauen und Stechen, ein Rennen und Laufen. Alle hatten nur noch eines im Sinn: Gold zu ergattern, bevor es die anderen wegschnappen. Sogar die Wirte ließen alles stehen und liegen. Der Bettler erhob sich von seinem vierrädrigen Karren und konnte plötzlich laufen. Andere, die wirklich verkrüppelt waren, humpelten zu den Toren hinaus. Die Reichen wurden vom Reichtum ebenso angezogen, wie die Armen. Viele Sklaven mussten ihren Herren folgen, manche wurden auch einfach vergessen. Händler beluden ihre Karren und setzten sich in Marsch. Sie wollten nicht nach Gold suchen, sondern es den Goldgräbern abnehmen.

Selbst die Sprecher der Freier, die sich schon in den Armen der Königin wähnten, hielt es nicht zurück. Wunsied eilte zu den Goldfunden, weil er dem Land zu den dringend benötigten Schätzen verhelfen wollte. Nur mit Gold war seiner Meinung nach das Vaterland noch zu retten. Er wollte mit dem neuen Reichtum eine große Anzahl Anteile an der Königin kaufen. Damit erhoffte er sich, den Einfluss und die Stellung zurück zu gewinnen, die ihm auf Grund seiner Erfahrung und Verdienste zukamen.

Der Kaufmann Krichnar hatte sich schon wenige Minuten, nachdem der Goldsucher den Fundort ausgerufen hatte, auf den Weg gemacht. Er gehörte nicht zu den Leuten, die sich erst zusammen mit einem Pulk Menschen in Bewegung setzen. Nur Arakhan aus Muriel, der inzwischen von seinem Vater die Zusage zum Kauf von fünfzig Anteilen hatte, scheute anfangs die Anstrengungen der Reise. Doch als dann alle zum neuen Reichtum aufbrachen, siegte auch bei ihm Neugierde und Abenteuerlust. Er kaufte reichlich Vorräte und Ausstattung und begab sich gemächlich in Richtung Norden.

„Gold ist der große Gleichmacher unter den Menschen“, sagte Aramar sehr viel später, als er mit Fallsta über die damaligen Ereignisse sprach. „Durch Gold kann ein Diener zum Herrn werden, und ein Herr alles verlieren. Gold schenkt dem hässlichen Mann eine schöne Frau, und einer klugen Frau die Freiheit, nach der sie sich immer gesehnt hat. Mit Gold kann man einen Mörder für seinen Feind kaufen und den besten Arzt für seine Krankheiten. Die schönsten Menschen stehen selbst unansehnlichen und dummen Menschen für alles zur Verfügung, wenn jemand Gold hat, wird er begehrenswert. Auch schöne Menschen wollen schließlich am Gold teilhaben. Mit Gold wird der ausgestoßene Bettler zu einem angesehenen Mann. Und zu guter Letzt kann man sich mit Gold ein Begräbnis kaufen, das für alle Zeiten im Bewusstsein der Menschen bleibt und somit Unsterblichkeit verleiht.

Deshalb ist Gold die große Sehnsucht in der Seele der Menschen. Es vereinigt in sich alle Hoffnungen. Gold ist nicht nur ein Metall, nicht nur ein Zahlungsmittel; Gold ist eine Idee, die Idee vom Glück. Hinter dem Begriff Gold verbirgt sich die Vorstellung, man kann glücklich sein auch ohne vornehme Abstammung, ohne Schönheit, ohne Klugheit, ohne Tapferkeit oder Stärke. Gold lässt Undenkbare denkbar erscheinen, rückt das Ungeheuerliche in den Bereich des Möglichen. Gold ist eine Religion, eine Religion für alle, die jedweden anderen Glauben verloren haben.“

Nachdem alle im Goldrausch abgezogen waren, bot die Stadt einen ganz ungewohnten Anblick, sie war leer. Die Straßen und Häuser waren verschmutzt und unordentlich. Da lagen noch ein paar Krücken, dort eine Tasche, die irgendjemand vergessen hatte. Vor den Wirtsstuben sah man halbvolle Weinkrüge und Becher. Körbe mit irgendwelchen Waren standen achtlos auf den weißen Straßen. Man sah aber auch all den Unrat, der bisher im Gedränge der Menschen verborgen gewesen war. Die einst so glänzende Hauptstadt hatte sehr gelitten und war heruntergekommen.

Nach und nach wagten sich die Verfemten ans Licht, liefen durch die leeren Straßen und konnten es kaum fassen, dass die Stadt wieder ihnen gehörte. Zögernd betraten sie ihre Häuser, und nicht nur die Frauen brachen in Tränen aus, als sie sahen, was man aus ihrem Besitz gemacht hatte. Die Möbel waren zerbrochen, die Wände beschmiert, überall lag Unrat. Die ‘Gäste’ hatten sich wie Vandalen aufgeführt.

„Wie soll ich das je wieder sauber bekommen?“ stöhnte eine Frau und sprach aus, was alle dachten.

Abrechnungen

Gegen Abend hielt ein Reiter vor dem Tor. Er führte sein Pferd selbst in einen der leeren Ställe. Dann betrat er aufrecht die Stadt. Er trug einen blauen Mantel und an seiner Seite hing ein Schwert. Sein Haar war weiß, und sein langer Bart reichte bis zu seinen strahlenden Augen. Während er zum Palast schritt, betrachtete Aramar aufmerksam die Straßen und Häuser. Angewidert wich er dem Unrat aus. Die Menschen, die ihm begegneten, grüßten ihn ehrerbietig, auch wenn sie nicht wussten, um wen es sich handelte.

Vor den weißen Stufen zögerte der Zauberer unmerklich, dann stieg er langsam empor. Er überquerte gerade die Terrasse, da öffnete sich das große Palasttor. Kuri, der Vorsteher, und der Vespucci Dac traten heraus.

Kuri schimpfte sogleich, als er den Zauberer sah: „Seit Eurer Ankunft in dieser Stadt, Aramar, haben wir hier nur Ärger und Schwierigkeiten.“

Der Zauberer ging nicht darauf ein, sondern sagte: „Ich will nun endlich zur Königin!“

„Die Königin vertrete ich“, antwortete der Vespucci. „Was willst du von ihr?“

„Das geht dich nichts an“, beschied ihm Aramar. „Wer hat dich beauftragt? Die Königin etwa? Das glaube ich nicht! Aus dem Weg!“

Der Glatzkopf rührte sich nicht, sondern sah den Zauberer starr an. Dieser lachte plötzlich: „Willst du mich etwa mit deinem schwachen Geist besiegen? Soll ich mich vor dir krümmen wie schwache Menschen? Es sind läppische Tricks, die zeigen, dass du nicht eingeweiht bist. Diesen Unsinn hat schon einmal einer von deiner Sorte bei mir versucht. Es war vor Hispoltai, und es ist ihm schlecht bekommen. Du kannst mich nicht mit deinem kleinen Geist in die Knie zwingen! Die Macht, die ich vertrete, ist deinen lächerlichen Künsten weit überlegen. Höre auf, in mein Gehirn eindringen zu wollen! Du hast es mit Aramar zu tun. Ich war einst Vorsitzender des Weißen Rates. Noch immer nennt man mich auch den Blauen und noch immer gehöre ich zu den Mächtigen in diesem Land.“

Der Gnom sah in böse an und fauchte: „Auch du widerstehst der Kraft von Vespucci nicht! Wir sind die wahren Herren der Welt, das wirst auch du noch begreifen!“

Aramar lachte noch immer, als er fragte: „Was würde eigentlich geschehen, wenn ich dir deine Nägel schneide, so dass du diese grässlichen Nagelschoner nicht mehr tragen musst?“

Der Vespucci erbleichte und zischte: „Wage es nicht, mich anzurühren! Die Strafe dafür ist furchtbar.“

„Ich vergehe vor Angst!“ Nun änderte sich das Gesicht des Zauberers. Das Lachen verschwand und er rief: „Verschwinde, du Wurm! Ich gebe dir zehn Atemzüge, dann will ich dich nicht mehr sehen.“

Aber der Vespucci machte keine Anstalten zu fliehen, sondern griff hinter sich und brachte eine seltsame Waffe zum Vorschein. Es war ein Stock mit einer kleinen Spitze am Ende. Damit ging er auf Aramar los. Der ergriff sein Schwert und hieb den Stock in der Mitte entzwei. Mit einem zweiten Streich streckte er den Vespucci nieder.

„Schade“, sagte er daraufhin zu Kuri, „nun ist er tot, und ich hätte noch so viele Fragen an ihn gehabt. Aber dies war ein Queu, eine bösartige Zauberwaffe. Hier in Centratur hat man ihr im Allgemeinen nichts entgegen zu setzen. Zwar kann man ein Mitglied des Weißen Rates damit nicht bezwingen, aber der Queu ist doch so gefährlich, dass ich handeln musste.“

Der Vorsteher der Palastwache hatte den ungleichen Kampf staunend verfolgt. Er war sich so sicher gewesen, dass der fremde Zauberer unterliegen würde.

Aramar fuhr mit Drohen in der Stimme fort: „Jetzt sind wir unter uns und können uns in Ruhe unterhalten. Du wirst mir viel zu erzählen haben. Natürlich weiß ich, dass die Königin nicht im Palast ist. Von dir aber möchte ich wissen, warum du sie verraten hast?“

„Ich habe sie nicht verraten. Ich bin der treueste Diener des Königshauses.“

„Eine seltsame Treue! Aber du wirst mir alles erklären.“

Mit diesen Worten schob Aramar den Widerstrebenden durch die prächtige Pforte, deren Flügel golden in der Sonne glänzten, in den Palast.

Die Straßen bevölkerten sich langsam und das Leben in Cantrel nahm wieder seinen Lauf. Irgendwann brach die Nacht an. Die Tore der Weißen Stadt wurden geschlossen, Wachen besetzten die Mauern. Cantrel machte sich verteidigungsbereit. Eine weitere Invasion wollten seine geplagten Bürger nicht zulassen.

Gegen Mitternacht trat Aramar wieder aus dem Palast. Er war erschöpft und verwirrt. Von der Terrasse aus blickte er auf die schlafende Stadt. Dann kehrte er zurück in das große Gebäude und suchte sich einen Platz zum Schlafen. Von Kuri war am nächsten Tag keine Spur mehr zu entdecken.

Gegen Mittag des übernächsten Tages traf die Königin ein. Sie ritt an der Spitze ihrer Männer, die sie aus Irilith mitgebracht hatte. Jubelnd öffneten ihr die Bürger die Tore und geleiteten sie zum großen Platz. Dort stieg sie vom Pferd und schritt langsam die Marmorstufen empor. Auf halber Höhe hielt sie inne und sprach zu ihrem Volk.

„Bürger von Cantrel ihr habt eine schlimme Zeit mitgemacht. Ich, eure Königin, konnte euch nicht beschützen. Unrecht und Willkür haben in diesen Mauern geherrscht. Nun verspreche ich euch feierlich, nie wieder soll so etwas hier geschehen. Ich verbürge mich, dass ich stets das Recht wahren werde, und dieses Recht gilt für alle ohne Ausnahme.

Meliodas der König ist tot. Doch noch lebt die Königin. Ich Lunete, aus dem Geschlecht der Achajer, werde nun die Herrschaft übernehmen. Im Geist meines toten Gemahls werde ich regieren. Aber eines gebiete ich euch: Ein jeder, der kommt, um mich zu freien, soll bis an die Grenzen unseres Landes gejagt werden.

Von den Freiern habt ihr Übles erduldet. Nun verkünde ich euch: ihr seid gerächt. Es hat eine Schlacht am Fuß der Ruburhöhen stattgefunden. Viele Männer sind unter den Schwertern meiner tapferen Krieger gestorben und nur wenige konnten entkommen. Wir haben die Fremden überrascht, wie sie gierig in der Erde unseres Landes nach Gold gegraben haben. Sie wussten nicht, dass die Kunde vom Gold eine Falle war. Sie hatten ihre Waffen beiseitegelegt und keine Wachen aufgestellt. Blind und taub für alles, was um sie herum vorging, wühlten sie in der Erde. Wir haben sie bestraft. Von diesem Gesindel droht Cantrel keine Gefahr mehr. Die Fremden haben für alles bezahlt, was sie diesem Land angetan haben.

Nun wollen wir den Blick nach vorn richten. Es gilt, die Stadt zu säubern und alles wiederaufzubauen. Zunächst aber soll der Palast nach Vorräten durchsucht werden, die ich an euch verteilen lasse. Von nun an wollen wir gemeinsam essen und auch gemeinsam hungern.

Wenn Königin und Volk zusammenstehen, werden wir alle Probleme und Gefahren meistern. Seid mir so treu, wie ich euch treu bin!“

An diesem Abend wurde in allen Häusern gefeiert. Auch Lunete hatte zu einem Festmahl eingeladen. Die gleichen Leute, die in der Burg Irilith den Plan zur Befreiung Cantrels geschmiedet hatten, waren wieder versammelt. Fallsta und die beiden Frauen waren zusammen mit den Gefolgsleuten aus Equan am Nachmittag eingetroffen. Die Bürger der Stadt waren durch Brana und Grunema vertreten. Man hatte Kerzen angezündet und roten Wein aufgetragen.

Brana trank und setzte ihr Glas vorsichtig ab, dann sagte sie zu Fallsta: „Euch gebührt eine besondere Anerkennung dafür, wie Ihr den dämlichen Goldgräber gespielt habt, der sich von dem Vespucci sein Gold hat abnehmen lassen und den Fundort seiner Schätze verraten hat.“

„Dies war keine besondere Kunst“, antwortete der Angesprochene bescheiden und fuhr dann bitter fort, „ich habe nur mich selbst gespielt. War es nicht mein eigenes Gold, das ich hergegeben habe? War ich nicht tatsächlich töricht?“

„Nein“, sagte die Königin, die zugehört hatte, „Ihr seid kein Tor. Ihr seid ein großherziger Mann von edlem Gemüt. Sobald ich kann, werde ich Euch den Schaden ersetzen.“

„Rimo war als Bote, der den Fund bestätigte, auch nicht schlecht“, kicherte Grunema.

„War es denn notwendig, dass Ihr mein ganzes Gold in den Ruburhöhen vergraben habt?“ fragte Fallsta leise.

„Ohne all das Gold hätten die Freier die Falle sofort gemerkt“, erklärte Smyrna. Sie hatte sich schließlich den Plan ausgedacht. „Viele von ihnen mussten zumindest ein Nugget finden und sich in Sicherheit wiegen. Nur so konnte Lunete sie mit ihren wenigen Männern besiegen.“

„Der Kampf war hart genug“, ergänzte Adelmar. „Wir haben viel Blut gezahlt und beinahe hätten wir ihn noch verloren.“

„Besonders General Wunsiel hat wie ein Berserker gekämpft“, fügte Girgolo hinzu. „Immerzu brüllte er: ‘Ich kämpfe für meine Königin.’ Dies schrie er selbst dann noch, als er ihr Angesicht zu Angesicht gegenüberstand und sie ihn mit einem Schwertstreich niederstreckte.“

Botschaft aus Quantam

Noch viele Tage nach der Befreiung herrschte in Cantrel Trubel. Menschen liefen geschäftig durcheinander, überall wurde aufgeräumt, geputzt, man besserte Schäden aus und begutachtete die noch vorhandenen Vorräte. Da stand an einem Vormittag ein Mann in verstaubter Kleidung vor den Toren. Er rief die Wachen und begehrte Einlass. Doch er wurde abgewiesen. Man lasse zurzeit keine Fremden in die Stadt, hieß es. Er möge in ein paar Wochen wiederkommen.

So lange habe er nicht Zeit. Er bringe dringende Botschaft, antwortete der Reiter, dessen Pferd erschöpft hinter ihm stand. Auf seinem Fell sah man weiße Flocken und seine Flanken zeigten deutliche Spuren von Sporen und der Peitsche. Der Reiter hatte das Äußerste aus dem Tier herausgeholt.

Doch dies kümmerte die Männer auf der Mauer nicht. Auf diesen Trick fielen sie nicht herein, lachten sie. Sie wären froh, ihre ‘Gäste’ los zu sein und wollten keine neuen. Die vorhandene Nahrung reiche kaum für die Bürger der Stadt, da könne man sich keine fremden Esser leisten.

Der Disput ging noch lange hin und her und erst als der Fremde den Namen Aramar erwähnte, zu dem er dringend vorgelassen werden müsse, gaben die endlich Wachen zögernd nach. Sie öffneten vorsichtig das Tor und während zwei von ihnen den Mann zum Palast führten, gaben andere seinem Reittier, das draußen bleiben musste, Wasser.

Aramar war gerade dabei, die Hinterlassenschaft des Vespucci zu untersuchen und fand seltsame Gerätschaften, deren Zweck sich ihm nicht so recht erschließen wollte. Ganz in Gedanken war unwillig über die Störung, als ihm ein Diener den Fremden meldete. Während er noch überlegte, wie er den Besucher abwimmeln konnte, stürmte der schon herein. Er hatte den einen Wächter weggestoßen und den anderen niedergeschlagen. Vor dem Zauberer fiel er auf die Knie und rief: „Ich bin Feltina und komme aus Quantam.“

Bei diesem Namen wurde Aramar sehr aufmerksam.

„Woher kennst du diesen Namen“, herrschte er den Mann an.

„Ich sagte doch, ich komme von dort. Abramawar und Gronolor schicken mich zu Euch. Ich soll eine Botschaft überbringen.“

Der Zauberer zog zu Mann an den Schultern auf die Beine und sagte: „Auf diese Botschaft bin ich gespannt.“

Mit einer Handbewegung scheuchte er den Diener und die Wachen hinaus. Dann fragte er eindringlich: „Wie lautet die Botschaft?“

„Man lässt Euch ausrichten: Der Schild steht vor dem Zusammenbruch. Der Turm kann nicht mehr lange gehalten werden.“

Das Gesicht des Zauberers war weiß wie Schnee geworden. Die Wucht der Nachricht hatte ihn so getroffen, dass er taumelte. Dann straffte sich seine Gestalt und er sagte: „Was weißt du genau?“

„Ich kann Euch nur erzählen, was ich selbst gesehen habe. Ich nehme an, Ihr wisst um das Geheimnis von Quantam. In den Räumen der Geschichten erblickt man, was in der Welt vor sich geht.“

Aramar nickte: „Ich habe dort selbst so manche Seite in dem Blaue Buch geschrieben.“

„Mein Auftrag lautet, ich soll Euch schildern, was im Tal Rotamin vor sich geht.“

Rotamin

Sie setzten sich in eine Ecke des Saales und Feltina begann: „Orokòr hatten sich zu einem großen Kreis an den Rändern des Tals versammelt. Es waren Tausende, die dastanden, saßen oder auf einem Bein knieten. Ihre Waffen hatten sie griffbereit neben sich liegen. Sie bildeten ein Rad um eine Nabe und alle starrten auf diesen Mittelpunkt, den Turm Loron. Die Gesichter waren hart und die Reißzähne blitzten im Sonnenlicht. Und doch war diesen grausamen Männern unheimlich zu Mute. Unbehaglich verfolgten sie, was dort vor sich ging. So weit wie möglich hatten sie sich schon von dem furchtbaren Geschehen zurückgezogen. Der Gedanke da hineingezogen zu werden, ließ sie erschauern.

Dabei waren es Männer, die sich sonst vor nichts fürchteten, die keinen Kampf scheuten und vor keinem Feind davonliefen. Sie waren die Macht des Zauberkönigs, die er sich selbst gezüchtet hatte. Sie dienten ihm in bedingungslosem Gehorsam. Zwar hatten sie vor noch nicht langer Zeit in Equan eine vernichtende Niederlage einstecken müssen, aber nun waren ihre gelichteten Reihen aufgefüllt und sie dürsteten danach, die empfangene Schlappe wieder wett zu machen. Doch statt in eine Schlacht hatte sie ihr Anführer hierher geführt in dieses Tal mit dem seltsamen Turm. Der Befehl lautete, den Turm zu erobern, zu zerstören und alles zu vernichten, was sich in ihm aufhielt.

Doch obgleich sie jeden Befehl ausführten und in der Regel nur darüber nachdachten, wie sie den Gegnern auf möglichst schlimme Art den Garaus machen konnten, waren in ihren dumpfen Köpfen Fragen entstanden: Weshalb brauchte man, um einen einzelnen Turm zu erobern, solch ein mächtiges Heer? Was trieb ihren Herrn, seine Kräfte für solch ein Bauwerk zu verschwenden? Am meisten aber wunderten sie sich über den Führer, dem sie der Zauberkönig unterstellt hatte. Es war ein alter, schmächtiger Mann mit struppigem, weißem Haar. Er trug keine prächtige Rüstung, sondern nur ein sackähnliches Gewand in das eine Öffnung für den Kopf geschnitten war. Selbst der grausame Kan, der auch diesmal das Heer befehligte, war ihm untertan und begegnete ihm mit Respekt, oder vielmehr mit Vorsicht und Unterwürfigkeit.

Das Tal war vor Zeiten durch ein großes Feuer gegangen. Der Boden war schwarz und an seinen Rändern zeigten die Felswände immer noch Spuren der Flammen. Aber das Leben hatte von diesem Land wieder Besitz ergriffen. Grünes Gras bedeckte schon an vielen Stellen den gemarterten Boden, die ersten Triebe von Bäumen langten zum blauen Himmel. Blumen, deren Samen der Wind hierhergetragen hatte, brachten bunte Farben in die Einöde. Der Turm aber war schwarz und unnahbar.

Der seltsame Mann hatte sie hierhergeführt und ihnen befohlen, sich im Kreise aufzustellen. Sie hatten gelacht und waren gespannt gewesen, was nun geschehen sollte. Dann war er ganz allein in den großen Kreis getreten und hatte sich dem Turm genähert. Er trug einen hohen Stab in seiner rechten Hand und mit diesem Stab stieß er direkt vor dem Turm dreimal auf den Boden. Dabei rief er Worte, die keiner verstand, die aber allen das Blut in den Adern gerinnen ließen. Im Turm selbst rührte sich nichts. Keine lebende Seele ließ sich dort sehen. Aber er war bewohnt, das wussten alle, und auch die Leute im Turm mussten diese schrecklichen Worte hören. Und die grausamen Orokòr, diese Schrecken von Centratur, hatten auf einmal Mitleid mit den Bewohnern des Turms.

Nachdem der geheimnisvolle Alte mit seinem Stab aufgestampft und die Worte gerufen hatte, wurde es totenstill im Tal der Is. Die Orokòr und ihre Führer hielten den Atem an. Der Alte aber stand unbeweglich, als sei er wie sein Stab zu leblosem Holz erstarrt. Minutenlang geschah nichts und selbst der Wind schien einen Bogen um das verfluchte Tal zu machen.

Dann brach der Boden auf und ein Gebilde erhob sich in die Luft, wie es die Orokòr noch nie gesehen hatten. Es war so dick wie ein Baumstamm und verjüngte sich bis zu seiner Spitze. Dieses Ungeheuer schlängelte sich und tastete um sich und schob sich immer weiter aus dem Boden. Bald war es so groß wie der Turm. Nun erschienen ein zweiter Arm und dann ein dritter. Die Orokòr, weit von dem Geschehen entfernt, duckten sich und drückten sich an die Felswände, die das Tal begrenzten. Der Alte aber stand direkt neben den furchtbaren Armen und rührte sich nicht. Angst schien ihm fremd zu sein. Wie sollte auch jemand Angst kennen, der Ungeheuer der Urzeit aus den Tiefen der Erde ans Licht rufen konnte!

Die Arme tasteten sich nach dem Turm, schlangen sich um ihn und zerrten an seinen Mauern. Doch mächtige Zauberer hatten vor langer Zeit ihre ganze Kunst in dieses Bauwerk geflochten. Seine runden schwarzen Mauern waren glatt und unzerstörbar. Keine Macht dieser Erde konnte sie aufbrechen. Und wenn das Wesen aus den Tiefen der Erde auch noch so mächtig war, an diesem Turm des Weißen Rates versagte seine Kraft.

Gespannt verfolgten die Krieger diesen Kampf zwischen roher Urgewalt und dem Meisterwerk des Geistes. Immer mehr Arme schossen aus dem Boden und rollten sich um den Turm, dessen Mauern hinter den zuckenden und in allen Farben schimmerten Fängen ganz verschwanden. Der Alte, der dies alles ausgelöst hatte, stand noch immer auf seinen Stab gelehnt, starr und unbeweglich. Er wartete ab und man sah, dass er Zeit hatte.

Das Untier, von dem man nur die Arme sah, wurde wütend. Seine Fänge peitschten durch die Luft, trommelten gegen den Turm und schlugen schließlich auf den Boden. Dort, wo sie auftrafen, vernichteten sie alles Leben und hinterließen tiefe Löcher im Boden. Dann griffen die mächtigen Fangarme den Turm aufs Neue an, wieder und immer wieder. Aber das Bauwerk widerstand der rohen Gewalt und reckte sich nach jedem neuen Gewaltakt stolz und unnahbar in den Himmel.

Gegen Abend wurden die Attacken schwächer und schließlich zogen sich die Arme in die Erde zurück. Das Tal lag in der Abendsonne, als wäre nichts geschehen. Nur die aufgewühlte Erde um den Turm herum kündete von dem denkwürdigen Kampf, der dort stattgefunden hatte. Nun kam Leben in die Gestalt des Alten. Er richtete sich auf, zuckte die Schultern und schritt zum Ausgang des Tals, so als wäre nichts geschehen. Er schien nicht enttäuscht und auch nicht entmutigt. Der Misserfolg ließ ihn gleichgültig. Nachlässig winkte er dem Kan zu, der auf seinem Pferd am Ufer der Is im Eingang zum Tal saß. Dieser wiederum gab den Orokòr ein Zeichen und das mächtige Heer zog sich zu seinen Zelten auf den grünen Wiesen vor dem Rotamin zurück.

Hier hatte vor Zeiten ein anderes Heer kampiert und versucht, den Turm zu bezwingen. Vespucci hatten die Soldaten damals angeführt und ihren Zauber am Turm erprobt. Doch sie waren zusammen mit allen Soldaten aus Ammyl in einem Feuersturm untergegangen, den Aramar entfesselt hatte. Bald züngelte der Rauch von Lagerfeuern empor und die Orokòr kochten sich Mahlzeiten, die andere Wesen in Centratur nur mit Ekel angefasst hätten.

Der Alte hatte sich in ein kleines, unscheinbares Zelt zurückgezogen. Dort lagen auf der nackten Erde nur seine Decke und ein Bündel. Er setzte sich auf die Decke, als der Kan, prächtig gekleidet und mit einem Zauberschwert an seiner Seite, hereintrat. Der große Mann musste sich dabei bücken und den schwarzen Helm mit den grausamen roten Zeichen abnehmen, so nieder war die Unterkunft.

„Habt Ihr diese Niederlage erwartet“, fragte er, und der Alte vermeinte ein wenig Triumph in seiner Stimme zu hören.

„Ich erwarte nichts, weder Sieg noch Niederlage. Aber ich gebe nicht so schnell auf und meine Möglichkeiten sind noch lange nicht am Ende.“

„Was werdet Ihr morgen unternehmen, Willmar?“

„Das weiß ich noch nicht. Aber morgen früh werde ich es wissen. Lasst Eure Leute so wie heute antreten. Und nun wünsche ich Euch eine gute Nacht. Bitte geht! Ich möchte allein sein!“

Gehorsam verließ der mächtige Kan rückwärts das Zelt und zog sich zurück. Die Wachen machten einen weiten Bogen um die Unterkunft von Willmar dem Buddler und nur der Mond, der in das Zelt schien, sah, ob der Zauberer schlief oder wachte.

Nicht nur außerhalb des Turms, sondern auch in seinem Innern hatte den ganzen Tag über lähmendes Entsetzen geherrscht. Der Angriff des Ungeheuers hatte seine Bewohner in Angst und Schrecken versetzt. Die Turmwache des jungen Meisterheiler aus Nowogoro war zum Alptraum geworden. Zum Glück hatte ihm Aramar die alte Axylia aus dem Paradland an die Seite gestellt. Die Frau, die so viele Generationen hatten kommen und gehen sehen, behielt auch in größter Not die Nerven.

Als das schwarze Heer abgezogen war, ließ sich Urial erleichtert in einen der weichen Sessel fallen. Er bebte noch immer am ganzen Körper. Axylia strich ihm beruhigend über die feuchte Stirn und das nasse Haar. Doch auch ihre Hände zitterten. Fahrig nestelte sie an ihrem Kleid, dann ging sie in den Nebenraum und kochte Tee. Dieser Tag war für beide endlos gewesen. Immer und immer wieder hatte das Untier versucht, ihren Turm zu zerquetschen oder auszureißen, und sie mussten jede Sekunde fürchten, dass ihm dies auch endlich gelingen würde. Hilflos waren sie dem Toben dieses urzeitlichen Wesens ausgeliefert.

„Nur einer ist mutig und skrupellos genug um solch ein Geschöpf ans Tageslicht zu zerren“, hatte Axylia gerufen, als der Kampf begann. „Dort draußen steht Willmar der Buddler. Wenn uns Aramar nicht zu Hilfe kommt, wird er uns vernichten.“

Eintönig waren zuvor die Wochen und Monate vergangen, seit Urial und Axylia die Wache im Loron im Tal Rotamin begonnen hatten. Nur einmal hatte es zwischen ihnen Streit gegeben, als Axylia verhinderte, dass Urial einen Zauberbär in den Turm holte. Damals war der junge Zauberer so wütend gewesen, dass er wochenlang nicht mehr mit der Frau sprach. Doch eines nachts, sie stand oben auf der Plattform des Turmes und schaute zu den Sternen empor, dort wo der ihr vor langer Zeit versprochene Mann weilte, war er zu ihr getreten und wieder hatte seinen jungen Arm schützend um die alte, zerbrechliche Frau gelegt.

An Nahrung hatte es ihnen nicht gemangelt, denn der Turm war gut ausgestattet. Und mit Freude hatten sie gesehen, dass aus der verbrannten Erde wieder Pflanzen gesprossen waren. Als eines Morgens der erste grüne Teppich den Loron umgeben hatte, jubelte der junge Mann und die Frau sang mit ihrer dünnen Greisenstimme ein fröhliches Lied.

Gerade als sie geglaubt hatten, die Welt habe ihr abgelegenes Tal vergessen, waren die Orokòr ins Tal marschiert.

„Wann werden sie alle es lernen, dass der Turm uneinnehmbar ist?“ hatte Urial hochmütig gefragt und ein wenig hatten sie sich sogar über die Abwechslung gefreut. Erst als der alte Mann allein in die Mitte des Kreises getreten war und seine furchtbaren Worte ausgesprochen hatte, war die Angst in ihre Glieder gekrochen. Nun wussten sie, dass ihr Leben bedroht war. Dann kamen die Stunden, in denen das Untier seine Kräfte an dem Turm erprobte, und endlich seine Niederlage und der Rückzug der Angreifer. Doch sie konnten sich nicht freuen.

„Morgen geht es weiter“, sagte Axylia. „“Willmar gibt so schnell nicht auf und er kennt viele Teufeleien. Ich weiß nicht einmal, wer aus einem Zweikampf zwischen ihm und Aramar als Sieger hervorginge.“

„Was können wir tun?“ fragte Urial.

„Nichts! Nur hoffen und auf die Macht der Alten, die diesen Turm schufen, vertrauen!“

„Das gefällt mir nicht. Ich bin ein Mann der Tat. Ich will nicht abwarten und mich einem Geschehen, das andere bestimmen, ausliefern. Ich habe das Zaubern erlernt, um dem Schicksal in den Arm fallen zu können.“

„Das Zaubern ist eine Kraft, die dir die Mächte des Schicksals schenken. Du kannst dieses Geschenk nicht dazu verwenden, um sie selbst zu bezwingen. Sie können diese Kraft übrigens jederzeit von dir nehmen. Hat man dir das bei deiner Ausbildung nicht gesagt?“

War es die Anspannung des Tages, die Ausweglosigkeit ihrer Situation oder sein jugendliches Ungestüm? Urial verlor die Kontrolle über sich und sprang auf. Er schrie die überraschte Frau an: „Natürlich kann man das Schicksal mit Mut und Selbstbewusstsein bezwingen. Du aber bist feige! Ich will nicht so werden wie du und alles hinnehmen. Ich will auch nicht warten, bis dieser Wahnsinnige da draußen uns vernichtet hat. Nur wenn wir handeln, sind wir mutig und verdienen den Namen Menschen. Es gibt Tiere, die stellen sich in auswegloser Lage tot oder fliehen. Manche sterben sogar auf der Flucht an Herzschlag. Von uns, die wir uns den Tieren überlegen dünken, wird verlangt, dass wir mutig vorangehen und den Gefahren die Stirn bieten. Ich werde morgen hinaustreten und meine Kräfte mit Willmar messen.“

Urial hatte die Gefährtin beleidigt. Vielleicht wollte er mit diesen Reden seine eigene Angst vergessen und sich selbst zu beweisen, wie tapfer er war. Was immer ihn auch zu diesem Angriff bewogen haben mochte, Axylia war verletzt.

„Du Tor, du Tölpel!“ Sie schrie die Worte. „Du größenwahnsinniger Idiot! Wer glaubst du eigentlich, wer du bist und wer da draußen auf dich wartet? Es ist Willmar der Buddler, in den Klöstern des Weißen Rates erzogen. Er ist einer der mächtigsten Zauberer von Centratur. Und du bist ein Anfänger, ein Eleve in der Kunst des Zauberns. Er würde dich im Bruchteil einer Sekunde zermalmen und dann in den Turm eindringen.

Du weißt, wenn der Loron fällt, dann bricht der Schutzschild, der über Centratur liegt, zusammen. Dann kann Ormor mit seiner Zauberkraft die Welt erobern und braucht dazu nicht einmal mehr seine Orokòr und verbündeten Krieger. Wir sind verantwortlich für die Sicherheit der Welt. Von mir aus könntest du dich von Willmar umbringen lassen. Ich würde ein wenig um dich trauern, aber das wäre auch schon alles. Doch ich lasse nicht zu, dass du um deiner Eitelkeit willen, Centratur gefährdest. Du bleibst hier und überlässt das Handeln anderen. Unsere Aufgabe ist Warten und Dulden. Dies ist ein schweres Los, und erfordert mehr Kraft und Mut als Kämpfen. Durch Ausharren gestalten wir die Geschicke der Welt ein. Hast du das noch immer nicht begriffen?“

„Ihr alten Leute schickt euch in so vieles drein“, gab er störrisch zurück. „Und weil ihr die Gefahren meiden wollt, kommt ihr schließlich um. Die Angst selbst ist die Ursache eures Untergangs. Vielleicht muss man nicht einmal alt werden und sterben, wenn man nicht will, wenn man sich gegen den Tod zur Wehr setzt? Vielleicht ist das Alter nur eine Kapitulation vor den Unbilden des Lebens.

Ich bin sicher, dass die Menschen nur deshalb alt werden, weil sie vom Leben zermürbt sind und in ihrem tiefsten Innern, mit diesem Leben abschließen wollen und auf den Tod hoffen. Sie setzen dem Alter nichts mehr entgegen und lassen es über sich ergehen. Wer nicht aufgibt, wird auch nicht alt. Mich wird man nicht unterkriegen. Ich werde das Alter bei mir nicht zulassen. Du wirst sehen, ich gewinne. Weil ich nicht sterben will, gehe ich Gefahren nicht aus dem Weg. Ob dieser Willmar besser ist als ich, weiß ich erst, wenn ich mich ihm gestellt habe.“

„Wenn du es dann weißt, kannst du mit diesem Wissen nichts mehr anfangen. Ach, hör’ doch auf mit dem Geschwätz! Was interessiert mich deine Eitelkeit? Lass ab von ihr, unterwirf dich deiner Aufgabe, und die heißt warten, dulden, harren!“

„So seid ihr Alten immer! Wenn ihr nicht weiterwisst, wenn man euch eure wunden Punkte, euer Versagen aufzeigt, dann verbietet ihr den Jungen den Mund. Aber ich lasse mich nicht mundtot machen, und ich lasse mich nicht abbringen von meiner Lebensart und die heißt nun einmal: Handeln und nicht wimmerndes Ausharren!“

Mit diesen Worten stand Urial auf und ging in seine Schlafkammer. Zurück blieb eine verwirrte, nachdenkliche und besorgte Axylia.

Auch der nächste Morgen brachte herrlichen Sonnenschein. Und wieder marschierten die Orokòr in Reih und Glied in das Tal Rotamin. Wie am Vortag bildeten sie ein Rad in dessen Mitte der Loron als Nabe stand. Und wieder trat Willmar allein vor den Turm, stieß seinen Stab drei Mal auf den Boden und rief Worte, die den Zuhörern das Blut in den Adern gefrieren ließen. Sie erwarteten nach den Geschehnissen des Vortags Furchtbares. Doch stattdessen öffnete sich die Tür auf einem kleinen Balkon über dem Eingangstor zum Turm. Heraus trat ein junger Mann. Zwei Hände versuchten ihn zurückzuhalten, aber er schüttelte sie unwillig ab.

Urial trat an die Brüstung und rief Willmar etwas zu. Doch der antwortete nicht. Und wieder rief der Junge. Die weit entfernten Orokòr konnten zwar das Schauspiel beobachten, aber nicht verstehen, was gesagt wurde. Die beiden Männer, der eine am Boden und der andere in der Höhe, maßen sich mit Blicken. Die wilden Horden beobachteten mit wachsendem Staunen diesen Kampf.

Plötzlich drehte sich der Alte um und lachte. Noch nie hatte jemand aus dem Heer auch nur einen Hauch von Fröhlichkeit auf seinem Gesicht gesehen, und nun stand er da und lachte aus voller Kehle. Das ganze Tal hallte von diesem Lachen wider. Dann verließ der Buddler das Rotamin, ohne sich noch einmal umzusehen. Der Kan gab seinen Männern ein Zeichen. Alle folgten ihm zurück in das Lager. Triumphierend sah ihnen der junge Mann nach, bevor er sich umdrehte und ins Innere des Loron zurücktrat.

„Ich habe recht behalten“, rief Urial Axylia zu. „Man muss sich zum Kampf stellen. Ich bin stärker als er. Meine Jugend hat über ihn gesiegt. Sie sind abgezogen, und wir sind gerettet.“

Sie wusste, dass er von ihr Lob erwartete, stattdessen entgegnete sie kalt: „Du Narr! Er hat mit dir gespielt. Du hast dich ihm gezeigt, und jetzt er kennt seinen Gegner. Bei einem Zauberer wie Willmar kann dies die entscheidende Blöße sein.“

„Du gönnst mir meinen Sieg nicht! Sind sie nicht alle abgezogen? Hat er sich bei unserem stummen Zweikampf nicht als erster abgewendet? Welche Beweise willst du noch, dass ich ihm überlegen bin?“

„Du bist es nicht, deshalb kann es dafür auch keine Beweise geben. Täusche dich nicht, der Kampf ist nicht gewonnen. Sie werden wiederkommen, und wir werden schlimme Stunden erleben. Ich weiß nicht warum Willmar abgezogen ist, aber er hatte einen Grund. Willmar hat noch niemals verloren. Er siegt immer, obwohl ich beinahe annehme, dass es ihm gleichgültig ist.“

„Ihr Alten müsst eben zusammenhalten. Dabei solltest du auf meiner Seite stehen und nicht auf der unserer Gegner. Mache mir Mut für den nächsten Kampf, anstatt dem Feind mehr Stärke zuzuschreiben, als er hat. Du lässt mich bei der Verteidigung des Loron ganz allein.“

Sieg der Schwachen

Willmar war in sein Zelt zurückgekehrt und hatte sich wie am Vortag auf seine Decke gesetzt. Bei der kurzen Begegnung mit dem jungen Zauberer war ihm eine Idee gekommen. Zögernd trat der Kan herein. Er sagte kein Wort, aber seinem fragenden Blick war die Verwirrung anzumerken.

„Sieh mich nicht so an“, sagte der Alte freundlich. „Ich werde euch diesen Turm übergeben, aber wann dies sein wird, ist meine Sache.“

Der dunkle Feldherr drehte er sich um und verließ das Zelt.

Unter den Orokòr rumorte es. Jeder hatte eine andere Deutung des Vorfalls. Die einen meinten in dem Turm müsse ein Teufel hausen, der mächtiger sei als ihr Führer. Die anderen glaubten an den alten Willmar und verteidigten ihn. Sein Handeln aber verstand keiner der beiden Gruppen.

Am nächsten Tag verließ Willmar seine Behausung nicht und auch am übernächsten Tag ließ er sich nicht sehen. Nun wurde die Gruppe, die behauptete, er sei besiegt, immer größer. Die verwegenen Soldaten blickten böse und verächtlich auf das verschlossene Zelt. Auch der Kan besuchte Willmar nicht mehr. Am vierten Tag wurde bereits kräftig gelästert und das böse Wort „Feigheit“ fiel. Am fünften Tag endlich verließ der Alte seine Behausung, schritt durch das Lager und dann hinaus in die weite Ebene, wo das Gras hochstand und Pferde weideten.

„Den sehen wir nie wieder“, sagten die Orokòr. „Der ergreift das Hasenpanier, und wir Orokòr dürfen wieder die ganze Arbeit allein machen. Der Kan wird uns von nun an so lange zum Angriff auf den Turm treiben, bis dieser gefallen ist.“

Aber sie hatten Unrecht, denn am nächsten Morgen, am sechsten Tag, kehrte Willmar zurück. Ihm folgte ein großer schwarzer, zuckender, in einander verknäulter Teppich. Mit ihm im Gefolge schritt er am Lager vorbei und auf das Tal zu. Der Kan befahl seinen Männern zu folgen. Als sie näherkamen, konnten alle das Wesen dieses Teppichs erkennen. Es waren Abertausende von Feldmäusen, Maulwürfen, Erdhörnchen und Wühlmäusen. Sie waren so zahlreich, dass man ihre Zahl nicht einmal abschätzen konnte.

Willmar deutete auf den Turm und alle Tiere stürzten sich auf das Fundament des Bauwerks und begannen im Boden zu graben. So unbeweglich wie er das Wüten des mächtigen Urwesens verfolgt hatte, so sah er jetzt den kleinen Wühlern zu. Der Kan ritt zu ihm und stieg von seinem Pferd.

„Ziehe deine Männer zurück und kommt wieder, wenn der Turm fällt“, befahl ihm der gebeugte Mann leise. „Ich werde euch rechtzeitig rufen. Dann verrichtet eure Arbeit, für die ihr mitgekommen seid.“

Gehorsam verbeugte sich der strenge Feldherr und ritt zurück zu seinen Unterführern, denen er Anweisungen gab.

Axylia sah den Teppich aus Tieren zuerst und alarmierte ihren Begleiter. Urial blickte aus dem Fenster und wandte er sich beruhigt um.

„Von ihnen droht uns keine Gefahr“, sagte er beruhigend zu der Frau. „Welchen Schaden sollte dieses kleine Getier unserem mächtigen Turm wohl zufügen?“

„Es wird ihn zu Fall bringen“, antwortete Axylia bitter.

Die Tiere gruben Tag und Nacht und am achten Tag ging ein Zittern durch das mächtige Bauwerk. Dann begann sich die Spitze des Loron unmerklich zu neigen. Am nächsten Tag wurde die Neigung schon deutlicher. Im Turm rutschten die Möbel durch die Räume, und es wurde für die beiden Bewohner schwer, von einem Zimmer in das andere zu gehen. Doch die Tiere gaben keine Ruhe. Sie gruben sich weiter durch den Boden. Viele Tage später stand der Turm ganz schief, aber noch immer hielten ihn seine starken Grundmauern, die von den Alten sehr tief in die Erde eingelassen worden waren.

Axylia und Urial waren verzweifelt und wussten sich keine Rettung. Der Turm war dem Untergang preisgegeben, und sie konnten dies nicht verhindern. Wenn der Loron aber fiel, so würde er ganz Centratur mit sich in die Tiefe reißen. Sie waren gescheitert. Urial trat noch mehrmals auf den Balkon hinaus und forderte Willmar zum Kampf auf. Der beachtete ihn gar nicht. Irgendwann stand der Turm so schief, dass der junge Mann den Balkon nicht mehr betreten konnte. Das Werk der kleinen, schwachen Tiere näherte sich der Vollendung.

„Das Ende ist nahe“, sagte die alte Frau leise. „Wir haben versagt. Niemand wird erfahren, wie und warum man uns besiegt hat, aber man wird uns nicht rühmen.“

Mit diesen Worten legte sie sich schlafen, so gut es eben ging.

Willmar hatte all die Tage nicht geschlafen, und ob sich einige von seinen Tieren ausruhten, war nicht auszumachen. Das Graben hörte auf jeden Fall nie auf. Das Gemäuer aus alter Zeit ächzte und zitterte. Irgendwann gab der alte Zauberer dem Boten, den der Kan bereitgestellt hatte, ein Zeichen. Der rannte los, um seine Gefährten zu holen. Bald darauf marschierten die Orokòr ins Tal und stellten sich wieder an seinen Rändern auf. Die Zeit für das letzte Gefecht näherte sich. Es würde kurz sein und blutig. Die Orokòr wussten nicht, wie stark die Besatzung des Turmes war, aber niemand würde überleben. Dafür wollten sie sorgen. Auch die Tiere schienen das Ende ihrer Arbeit zu ahnen, denn das Fiepen und Pfeifen und Schnattern nahm zu.

Der Kan saß wieder auf seinem schwarzen Ross. Sein Gesicht war unbeweglich, aber seine Augen strahlten voller Triumph. Mit dem Fall dieses Turmes machte er einen Teil der Schlappe wieder wett, die er vor Hispoltai hatte einstecken müssen. Sein Herr war ihm gnädig gewesen, und er hatte sich mit diesem Sieg dieser Gnade würdig erwiesen. Sobald das Mauerwerk gefallen war, würde er den Loron samt seinen Insassen total vernichten. Selbst die Mauerbrocken wollte er in alle Winde zerstreuen lassen. Nichts sollte in Zukunft mehr an dieses Bollwerk des Weißen Rates erinnern. Mit dem Fall des Loron waren sein Herr, und damit auch er, der Eroberung Centraturs ein gutes Stück nähergekommen.“

Hier endete der Edle Feltina. Aramar hatte ihm atemlos zugehört. Jetzt stand er auf und rief: „Ich muss sofort los. Es geht um Stunden. Aber so ist es immer, wenn sich die Weisen von Quantam einmischen und Botschaft schicken, dann brennt die Welt, und es ist meist zu spät.“

Aramar eilte zur Königin und teilte ihr mit, dass er sogleich abreisen müsse. Sie war entsetzt: „Du kannst uns doch jetzt nicht verlassen. Wenn deine Botschaft stimmt und uns ein Kampf bevorsteht. Ohne deine Hilfe können wir ihn niemals bestehen. Wir brauchen dich hier in Whyten.“

„Ihr müsst ohne mich zurecht kommen“, beschied ihr Aramar kurz. „Weit entfernt wird ein ganz anderer Kampf gefochten. Wenn ich nicht rechtzeitig komme, dann braucht Ihr euch gar nicht erst die Mühe zu machen und eure Stadt verteidigen, dann ist ganz Centratur verloren.“

Flehentlich rief Lunete: „Lass uns nicht im Stich, Freund! Überlege es dir noch einmal und gehe nicht!“

„Da gibt es nichts zu überlegen. Weil ich euch retten will, muss ich euch verlassen.“

„Was kann es wichtigeres gegen als die Rettung der wichtigsten Stadt in Centratur?“

Aramar wandte sich ohne ein weiteres Wort ab. Gerade als er den Palast verließ, traf er Smyrna und erklärte ihr, dass er die Weiße Stadt verlassen müsse. Es gäbe dringende Angelegenheiten zu erledigen. Was auch immer geschehe, die Freunde sollten nicht auf ihn warten. Er würde sie zum rechten Zeitpunkt wiederfinden.

Dann hastete er weiter und rief Feltina: „Lasst Euch ein frisches Pferd geben. Ihr werdet mich begleiten.“

Ein wahnsinniger Ritt

Der Edle Feltina schlief und träumte. Er träumte davon, er sei wieder Kind und läge in den Armen seiner Amme. Sie schaukelte ihn sanft, und er schmiegte sich an ihre Brust. Doch die Brust entzog sich ihm. Die Amme verschwand und an ihrer Stelle trat der Freund, den er vor Jahren geliebt hatte. Auch er wiegte ihn sanft und griff ihm dann zwischen die Beine. Gerade wollte er sich der Erregung hingeben, als er unsanft an der Schulter gerüttelt wurde und eine Stimme sagte: „Genug geruht! Wir müssen sehen, dass wir vorwärtskommen!“

Feltina schreckte zusammen und wäre beinahe aus dem Sattel gefallen, in dem er zusammengesunken gedöst hatte. Sie waren nun schon seit Tagen unterwegs und Aramar hatte nur Halt gemacht, um die Pferde zu wechseln. Jeder von ihnen hatte drei zur Verfügung, und sie bestiegen alle zwei Stunden ein frisches. Die Pferde hatte er sich in Cantrel einfach genommen und nicht auf das Geschrei der Pferdeknechte geachtet. Es war ein wilder Ritt, über Stock und Stein, durch Tag und Nacht, von dem Feltina bis an sein Lebensende nur mit Schaudern erzählte. Gegessen wurde im Sattel und geschlafen wurde im Sattel. Aramar schien nie müde zu werden.

Zuerst waren sie der Straße in den Süden gefolgt, aber kurz vor der Furt durch den Tessenfluss schwenkte der Zauberer nach Osten ab. Sie ritten über das saftige Grün der Frühlingswiesen und dann in den Grauen Wald hinein. Aramar schien die Gegend wie seine Westentasche zu kennen, denn er fand in dem unwegsamen Gelände immer wieder einen Pfad, der sie weiterbrachte. Einmal trafen sie auf Bauern, die sich vor den Kriegswirren hierher geflüchtet und auf einer Lichtung Hütten gebaut hatten. Sie versperrten den Reitern den Weg und machten Anstalten, sie anzugreifen. Doch Aramar beeindruckten die drohenden Äxte und die scharfen Spieße nicht. Er machte eine ungeduldige Handbewegung und rief einen barschen Befehl. Als dies keine Wirkung zeigte, weil die Bauern zu langsam begriffen, ritt er vor und schlug dem nächsten seine Reitpeitsche ins Gesicht. Danach wichen alle so überstürzt beiseite, dass sie sich gegenseitig traten und übereinander fielen.

Durch den Grauen Fluss fanden sie noch eine Furt, aber am Aganga war ihr Ritt zu Ende. Es gab weit und breit keine Brücke.

„Verdammt“, knurrte Aramar, „hätte denn nicht einer von den Königen ein paar Brücken bauen können?“

Verzweifelt ritten sie am Ufer nach Norden, bis sie eine Fähre fanden. Eine schäbige, kleine Hütte duckte sich an die Uferböschung. Ihr Dach war zerbrochen und notdürftig mit Moos geflickt. Hinter dem Haus war ein kleines Gärtchen. Die Fähre lag am Ufer. Man hatte sie aufs Trockene gezogen. Sie war groß und konnte sogar zwei Pferde aufnehmen.

Aramar ritt zur Hütte und rief: „Holla! Ich brauche einen Fährmann.“

Doch niemand antwortete.

„Verdammt! Macht schon! Ich habe keine Zeit und zahle gut!“

Als sich immer noch nichts rührte, stieg der Zauberer ab, und der Edle folgte ihm. Sie traten in den kleinen Raum und prallten vor dem Gestank, der sie dort erwartete zurück. Die ganze erbärmliche Einrichtung war zerbrochen. Hier hatte ein Kampf stattgefunden. Mitten in den Trümmern lagen die halbverwesten Körper des Fährmanns und seiner Frau. Aramar zog sich seinen Mantel vor die Nase und ging zurück ins Freie.

„Wir werden uns wohl selbst helfen müssen“, stellte er fest und befahl seinem Begleiter, die Fähre ins Wasser zu schieben. Sie war zu schwer und der Edle mühte sich vergeblich. Erst als ihm Aramar half, glitt der Kahn in den Aganga. Nun wurden zwei der Pferde von Feltina auf die schwankenden Planken geführt. Sie sträubten sich und wieherten empört, doch der Zauberer achtete nicht darauf. Gemeinsam ruderten sie die Fähre durch den Strom. Sie wurden dabei abgetrieben, aber dies war vorgesehen, denn die Anlegestelle lag weiter flussab. Dort luden sie die Pferde aus. Der Weg zurück war noch schwerer, denn nun mussten sie gegen die Strömung ankämpfen. Als sie endlich alle Pferde wohlbehalten auf der westlichen Seite des Flusses hatten, waren sie durchschwitzt und atmeten schwer. Doch Aramar gönnte ihnen keine Pause. Die Tiere wurden sofort wieder bestiegen und der wilde Ritt ging weiter.

Endlich überquerten sie die Grenze von Whyten und erreichten die weite Ebene von Equan. Das Land war geschändet, die meisten Dörfer verlassen und verbrannt. Wenn ihnen Leute begegneten, so flohen sie voller Angst. Hirten trieben ihre Pferdeherden fort, sobald sie in Sichtweite kamen. Der Krieg hatte Equan gezeichnet und in der Seele seiner Bewohner Spuren hinterlassen, die zu ihren Lebzeiten nicht mehr getilgt werden würden.

Der Überfall kam ganz überraschend. Seit Stunden waren sie in dumpfem Trott geritten und hatten es den Pferden überlassen, sich selbst ihren Weg zu suchen. Aramars Gesicht war eingefallen, die Strapazen hatten auch ihn gezeichnet. Gerade durchquerten sie eine Senke, in der sich ein kleiner Bach schlängelte, als sich ein Pfeil in die Schulter des Zauberers bohrte. Links und rechts vor und über ihnen tauchten bewaffnete Gestalten auf. Sie trugen Rüstungen. Aramar, der sofort hell wach war, erkannte, dass es sich um versprengte Soldaten aus Mykontex handelte.

Sie stürmten mit Gebrüll auf ihre Opfer zu, die blanken Waffen in den Händen. Gnade war von diesen entwurzelten Männern nicht zu erhoffen. Doch statt zu fliehen, wie es die Angreifer erwartet hatten, riss sich der Zauberer mit einem Fluch und ohne auf den Schmerz zu achten, den Pfeil heraus. Dann zog er sein Schwert und der Edle Feltina tat es ihm nach. Gemeinsam griffen sie an und ihre Wut war so groß, dass sie die Soldaten trotz ihrer Übermacht in die Flucht schlugen. Als diese davonliefen war Aramar so zornig, dass er ihnen einen Blitz hinterher schleuderte, der zwei von ihnen verbrannte. Später, als alles vorbei war, ärgerte sich der Zauberer, dass er sich hatte so gehen lassen.

Sie saßen ab und verbanden die Wunde. Sie war tief und blutete heftig. Feltina legte einen Druckverband an und empfahl seinem Begleiter, sich ein wenig auszuruhen. Aber der winkte nur unwirsch ab und bestieg ein frisches Pferd. Weiter ging die wilde Jagd vom Osten in den Westen.

Es mochten Tage, Wochen oder Monate vergangen sein, Feltina hatte jedes Zeitgefühl bei diesem Ritt verloren. Wieder einmal war er eingenickt und wurde unsanft geweckt.

„Wir erreichen bald die ersten Ausläufer des Thaurgebirge“, sagte Aramar. „In das Rotamin können wir nicht direkt reiten, denn wir wissen nicht, was uns dort erwartet. Deshalb nehmen wir verborgene Pfade durch die Berge. Es sind gefährliche und beschwerliche Wege, denn sie werden schon lange nicht mehr instandgehalten. Zwar kostet uns dieser Umweg Zeit und Zeit ist etwas, was wir nicht haben. Aber uns bleibt keine Wahl. Hoffentlich kommen wir nicht zu spät!“

Kampf um den Loron

Die Neigung des Turms war inzwischen so stark, dass er jede Sekunde umfallen musste. Die Orokòr waren alle aufgesprungen und sahen dem gewaltigen Schauspiel begeistert zu. Sie jubelten aus heiseren Kehlen und feuerte die kleinen Tiere bei ihrem Werk an. Willmar stand noch immer regungslos, als ginge ihn das ganze Geschehen nichts an. Auch die beiden Wächter des Loron wussten, dass nun das Ende bevorstand. Sie waren die Treppen ganz nach unten geklettert, um durch den Fall nicht allzu sehr verletzt zu werden. Die Einrichtung des Turmes, viele Generationen alt und von erlesener Schönheit, lag zerbrochen in den Ecken. So verging die Kunst der Alten durch den Fleiß und die Ausdauer kleiner, unscheinbarer Tiere.

Dann endlich war es so weit. Der Boden um die Fundamente war in seiner ganzen Tiefe ausgehöhlt. Der Turm hing in einem riesigen Loch. Und als die fleißigen Pelztiere die letzten Stützen weg gegraben hatten, krachte der mächtige Loron auf die Erde. Erdbrocken flogen viele Fuß hoch in die Luft. Tief bohrte sich der schwarze Stein in den Boden. Aber dennoch zerbarst das Bauwerk nicht. Der Zauber der Alten hielt den Turm noch immer zusammen. Wie ein gefällter Riese lag er im Tal Rotamin. Seine oberste Plattform mit den Zinnen, die bisher nur die Sterne gesehen hatten, und die der Welt der Geister so nahe gewesen war, lag entblößt auf der Erde, bereit von den Händen der Orokòr befleckt zu werden.

Die schwarzen Krieger stürmten auf das geheimnisvolle Bauwerk zu, als Erde und Gestein sich beruhigt, und der Staub sich verzogen hatten. Jeder wollte beim Plündern und Morden der Erste sein. Dass sich Schätze in diesem Gemäuer befanden, daran zweifelte keiner. Die Tiere aber, die bisher so unermüdlich gegraben hatten, stoben nach allen Seiten davon. Ihr Werk war vollendet. Der Wille, der sie zusammengehalten hatte, ließ sie nun los. Sie waren frei und mit der Freiheit kam die Furcht vor Feinden, und sich erinnerten sich an die Feindschaft, die es zwischen ihren Arten gab. Nachdem kein gemeinsames Ziel sie mehr vereinte, bissen die einen die anderen und alle hetzten zum Ausgang des Tals. Sie hatten jetzt nur noch ein Streben, fort von den trampelnden, eisenbeschlagenen Stiefeln der Orokòr, die auf den Loron zustürmten. Ein großer, schwarzer Teppich aus Tieren drängte dem Ausgang des Rotamin zu.

Willmar richtete sich auf und strich sich mit der Hand über die Stirn. Er merkte nun, wie müde und erschöpft er war. Seine Glieder schmerzten, aber seine Augen leuchteten im Triumph. Der Turm interessierte ihn nicht mehr. Mochten die Schergen Ormors das Werk vollenden. Seine Arbeit war getan. Er hatte gesiegt. Er hatte das größte Zauberwerk, das aus alter Zeit in Centratur stand, gefällt. Wer immer es wagte, sich ihm entgegen zu stellen, dessen Untergang war besiegelt. Das Wichtigste für ihn aber war, dass er mit dem Fall des Loron Aramar eine empfindliche Schlappe beigebracht hatte, die dieser so rasch nicht überwinden würde. Auf die Idee mit den kleinen Tieren war Willmar besonders stolz. Aber dieser Anflug von Eitelkeit verflog rasch. Ein paar Gedanken später war ihm sein Sieg schon gleichgültig geworden, kümmerte ihn nicht mehr. Er wollte nur noch zurück in sein Zelt und sich schlafen legen. Was in diesem Tal weiter geschah, ging ihn nichts mehr an. Langsamen Schrittes, mit hängenden Schultern und gesenktem Blick, beinahe wie ein Verlierer, verließ er das Rotamin.

Deshalb sah er auch zu spät, dass die Tiere nicht länger vor den Stiefeln der schwarzen Krieger flohen, sondern sich umwanden und sie angriffen. Auf jeden Orokòr kletterten viele hundert der Nager hinauf. Diese schüttelten die lästigen Angreifer ab und zerquetschten sie zu Dutzenden. Es blieben aber noch immer genügend übrig, um den Orokòr die Augen auszukratzen und die Nasen abzubeißen. Die kleinen Biester krochen unter die Uniformen und in die Hosen und nagten an den Geschlechtsteilen. Die wilden Männer heulten auf und schlugen um sich. Aber sie hatten es mit Gegnern zu tun, bei denen Kraft und Kampfesmut nichts ausrichteten. Die schwarzen Gestalten taumelten blind durch die Gegend, Blut lief ihnen über das Gesicht. Die gezogenen Waffen hatten sie weggeworfen, damit sie die Hände frei hatten, um sich gegen die Quälgeister zu wehren. Der schwarze Teppich aus Tieren hatte sich über das ganze Heer verteilt.

Die Schreie der Krieger wurden immer verzweifelter, und durch diese Schreie wurde Willmar, der schon am Ausgang des Tals war, aufmerken. Er sah sich um und erkannte sogleich die Lage. Sein Geist versuchte wieder Macht über die kleinen, nützlichen Helfer zu gewinnen, aber es war schon zu spät. Die Orokòr rannten, wie von tausend Teufeln getrieben, an ihm vorbei aus dem Tal. Nicht einmal ihr Kan konnte sie mit Drohungen zurückhalten. Es dauerte nicht lange und Tiere und Krieger hatten sich in der Ebene verstreut.

Das Tal der Is war leer. Dennoch war zu erkennen, wer diese Panik ausgelöst hatte. Reglos lag der umgestürzte Turm im Licht des Tages. Oben aber, über dem Tal, standen im Schein der Sonne zwei Gestalten. Willmar erblickte sie und wusste, wer ihm seinen Sieg streitig gemacht hatte.

Er rief: „Aramar ich mag es nicht, wenn du mir in die Quere kommst.“ So weit und so hoch die Berghänge auch waren, die Stimme von Willmar war im Tal und auch auf den Bergen zu hören. „Aramar, in Centratur ist kein Platz für uns zwei.“

„Mein alter Freund“, antwortete dieser, und auch seine Stimme drang bis in den letzten Winkel, „warum hast du dich mit dem Bösen verbündet? Waren wir nicht vor langer Zeit beide angetreten, um mit Zauberkraft die Welt zu retten? Haben wir uns nicht den Zeitenwanderern überantwortet, weil wir das Böse verabscheuten? Und nun unterwirfst du dich Ormor!“

„Ich unterwerfe mich nicht! Noch immer bestimme ich selbst über mich. Das Bündnis ist von mir geplant und stets unter meiner Kontrolle. Es gibt nur einen Feind in Centratur, der alles, woran ich geglaubt habe, verraten hat. Ihn muss ich vernichten. Dieser Feind bist du!“

„Freund Willmar, wir sollten die Gelegenheit nutzen und uns zusammensetzen. Es wird Zeit, dass wir zusammen sprechen. Viele Generationen der Menschen wurden geboren und sind gestorben, seid wir beide miteinander geredet haben. Zwischen uns beiden gibt es viel aufzuklären.“

„Das glaube ich nicht“, entgegnete der Alte im Tal und schlug ohne Vorwarnung zu.

Der mächtige Schatten hatte sich im Bruchteil einer Sekunde gebildet, war aus dem Tal die Felswand emporgestiegen und hatte Aramar und seinen Begleiter eingehüllt. Feltina brach bewusstlos zusammen, aber Aramar trotzte dem Angriff, obgleich auch er taumelte.

„Das war heimtückisch“, rief er. „Seit wann greifst du zu solchen Mitteln?“

„Ich kann noch ganz andere Waffen einsetzen.“

Und wieder schlug Willmar mit all seiner Kraft zu. Aramar ging in die Knie. Doch er war jetzt auf den Angriff vorbereitet und schlug zurück. Ein heller Blitz kam aus der Höhe und hüllte den Buddler ein.

Der ächzte: „Nicht schlecht! Du hast dich seit unseren Jugendtagen erheblich gesteigert.“

„Und du bist hinterhältiger geworden!“

„Es gibt nur keinen Grund viel zu reden. Du willst die Auseinandersetzung und du sollst sie haben!“

Mit diesen Worten startete Willmar den nächsten Angriff. Diesmal war Aramar vorbereitet und konnte parieren. Doch sein Gegner hatte schon einen neuen Schlag vorbereitet. Der Vorsprung, auf dem Aramar und sein Begleiter standen, splitterte und krachte in die Tiefe. Beide konnten sich nur durch einen raschen Sprung retten.

Nun war der Blaue Zauberer an der Reihe. Er nahm all seine Kraft zusammen und der Buddler fiel auf die Knie. Aus Nase und Mund rann ihm Blut. Doch er lachte: „Langsam macht die kleine Auseinandersetzung mit dir Spaß. Es ist langweilig, wenn man im Vorhinein weiß, dass man gewinnt.“

Es war ein Kampf, wie ihn mit wenigen Ausnahmen in Centratur niemand hätte bestehen können. Hier wurden Kräfte eingesetzt, die Sterblichen nicht zur Verfügung standen. Noch nie waren bisher zwei so mächtige Zauberer gegen einander angetreten. Beide waren bereit, den anderen zu vernichten. Noch war unklar, wer als Sieger hervorgehen würde.

Da zogen auf einmal dunkle Schatten über den Himmel und kreisten über dem Tal. Willmar und Aramar waren so in ihre Auseinandersetzung vertieft, dass sie nichts wahrnahmen. Erst als eine Stimme in ihren Köpfen donnerte: „Jetzt ist keine Zeit für törichte Zweikämpfe eitler, alter Männer“, blickten sie auf.

Es waren fünf Adler, die sich auf dem Berg und in dem Tal niederließen. Obwohl Aramar sie noch nie gesehen hatte, erkannte er sie sofort.

„Es sind die Adler des Alten vom Berg“, rief er erstaunt.

Auch Willmar stutzte und nun bebte seine Stimme, als er fragte: „Wer ist dieser Alte?“

„Ich habe ihn nie getroffen, aber ich ahne wer es sein könnte.“

„So kläre mich auf!“ In der Stimme des unnahbaren Buddler lag ein Hauch von Flehen.

„Ich glaube, wir beide kennen ihn gut.“

„Ist es unser alter Meister Simonarum?“

„Du sagst es!“

„Wo kann ich ihn finden?“

Nun war Aramar mit dem Lachen an der Reihe: „Eben hast Du mich noch auf Leben und Tod bekämpft und nun verlangst du von mir Auskunft.“

Weiter kamen die Männer in ihrem Streit nicht. Die Stimme war wieder in ihren Köpfen zu vernehmen: „Eure alte Feindschaft könnt ihr ein andermal austragen. Von dir aber. Willmar, verlange ich einen Schwur. Du sollst diesem Tal Frieden geloben und es nie wieder betreten. Auch sollst du jetzt gehen, ohne dich umzusehen. Meine Adler werden darüber wachen.“

Der Buddler sprach wie zu sich selbst: „Wann kann ich dich endlich sehen und mit dir sprechen?“

„Wenn es Zeit ist!“

„Und wieder bist du auf seiner Seite, obwohl ich besser bin als er. Du hast noch immer keine Gerechtigkeit gelernt.“

„Für Gericht und Gerechtigkeit ist die Zeit noch nicht gekommen.“

Da lachte Willmar wieder sein bitteres Lachen und ging ohne noch einmal zurückzublicken.

Der Zusammenbruch des großen Gebäudes hatte Urial und Axylia arg gebeutelt. Aber sie waren auf den Sturz vorbereitet gewesen und deshalb unverletzt geblieben. Nun krochen sie durch ein Fenster ins Freie. Sie erwarteten den Anblick der schwarzen Gestalten mit den Reißzähnen und wollten um ihr Leben kämpfen, doch alles war ruhig. Sie standen allein neben dem Loron. Selbst die Zauberkunst der Alten hatte sich als vergänglich erwiesen. Der Loron war noch immer schön. Seine schwarzblauen Mauern glänzten und seine Rundung war von vollkommenem Ebenmaß. Den Wächtern war zum Weinen zumute, als sie ihren Turm gefällt vor sich sahen.

Nach langer Zeit erreichte Aramar die Talsohle und den Loron. Stumm umarmte er Axylia und reichte Urial die Hand. Es lag keine Freude über diesem Wiedersehen, sondern nur Trauer. Sie starrten schweigend auf den mächtigen Turm, der so hilflos vor ihnen lag.

Nicht lange und Aramar mahnte zum Aufbruch: „Zwar hat Willmar diesem Tal Frieden geschworen. Aber sein Schwur gilt nicht für die Orokòr und ihren Dunklen Feldherrn. Sie werden das Zerstörungswerk hier vollenden, denn die Tiere werden bald von den Kriegern ablassen, und dann kehren die Orokòr mit Wut und Hass im Herzen zurück. Wir müssen diesen traurigen Ort, so rasch es geht, verlassen. Doch zuvor muss ich noch etwas holen.“

Er kroch durch ein Fenster in den liegenden Turm und blieb lange verschwunden. Schließlich kehrte er zurück und hielt In der Hand ein kleines Bündel.

„Das Wichtigste ist gerettet“, sagte er. „Noch etwas gilt es zu erledigen. Die Klauen der schwarzen Bestien sollen den Loron nicht beflecken. Dieser Ort war stets rein und er soll auch rein bleiben. Er war eine Stätte des Denkens und des Glaubens. Hier war das ganz Andere stets nahe. Wenn wir den Loron nicht schützen können, so muss er untergehen.“

Aramar trat zurück und breitete die Arme vor dem gefällten Turm aus. Dann sprach er Worte der Macht. Kaum hatte er geendet, da brach im Turm ein Feuersturm aus. Wie die Flammen der Hölle durchfuhr er die alten, verzauberten Mauern und verbrannte alles in ihrem Innern. Dann war der einst so mächtige Loron nur noch eine leere Hülse, die mit rußgeschwärzten Fenstern klagend in den Himmel sah. Wortlos wandte sich der Zauberer ab und schritt zum hinteren Ende des Tals. Die anderen folgten ihm.

Im hinteren Teil des Tals war eine alte Steintreppe. Sie führte steil hinauf ins Thaurgebirge und diente einst den Zwergen, um die Bewohner des Turms zu versorgen. Ihr hölzernes Geländer war längst weggefault und ihre Stufen von Regen und Hitze im Sommer und Schnee und Eis im Winter gesplittert und gebrochen. Sie konnte nur unter Lebensgefahr benutzt werden.

Damals, als Axylia und Urial ihre Wache antraten, hatten sie diese Treppe schon einmal unter großen Mühen passiert. Sie waren damals in großer Begleitung gewesen. Galowyn, Smyrna und Fallsta, aber auch Aramar und der Zwerg Glaxca hatten zu ihrer Reisegesellschaft gehört. Fallsta hatte damals die rettende Idee gehabt und empfohlen, ihre Decken in Streifen zu schneiden, um daraus Seile zu drehen. Nun mussten sie ohne jedes Hilfsmittel hinaufklettern, stets von einem Absturz in mehrere hundert Fuß Tiefe bedroht.

Voraus kletterte Aramar. Das Bündel aus dem Turm trug er wie einen kostbaren Schatz unter seinem Mantel. Sie halfen sich über gefährliche Stellen hinweg und Axylia wäre beinah einmal abgestürzt. Steine flogen in die Tiefe und es dauerte lange, bis sie unten aufschlugen. Die alte Frau keuchte: „Aramar, warum konntest du mich nicht in meinem gemütlichen Haus in Olifo lassen. Für Abenteuer bin ich einfach zu alt.“

„Weil ich dich brauche“, antwortete der schlicht.

Der Edlen Feltina wartete oben auf dem Zmànuk. So nannten die Zwerge ihre Wege quer durchs Gebirge. Aramar hatte ihn zurückgelassen, weil der Mann aus Quantam doch nicht mit ihm beim Abstieg Schritt hätte halten können. Als sie ins Tal zurückblickten, sahen sie Ströme von Orokòr, die das Rotamin überfluteten und zum toten Loron strömten. Als die schwarzen Krieger den Turm erreichten und sahen, dass er völlig ausgebrannt war, fühlten sie sich um ihre wohlverdiente Beute betrogen. Ihr Wutgeschrei war so laut, dass es bis in die Berge gellte. Nach einem letzten Blick wandten sie sich ab und marschierten auf dem Zwergenweg nach Norden.

Sie waren schon tief ins Thaurgebirge vorgedrungen, Urial endlich die Sprache wiederfand.

„Ich habe versagt“, sagte er. „Meine Oberen haben mir einen Auftrag gegeben, und ich habe versagt. Warum wurde ich mit der Kunst des Zauberns beschenkt, wenn ich doch nichts Vernünftiges damit anzufangen weiß?“

„Du musst dir keine Vorwürfe machen“, tröstete ihn Axylia und nahm ihn zärtlich in den Arm. Aber er schüttelte sie unwillig ab. Er wollte keinen Trost und gefiel sich in seinen Selbstvorwürfen.

„Niemand wäre diesem gemeinen Angriff gewachsen gewesen“, versuchte auch Aramar den jungen Meisterheiler zu beruhigen. „Willmar hat die Kunst der Alten überlistet. Zumindest fiel der Loron durch die Hand eines würdigen Gegners.“


Centratur II: Die Macht der Zeitenwanderer

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