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Kindheit und Jugend in Linz und Wien Helga Bock, Utes Schwester Ute Bock in Zitaten
Оглавление„Wenn draußen auf der Straße ein Kind schreit, steh ich auf und schau nach. Und dabei denk ich mir: Was geht dich das überhaupt an? Aber so bin ich eben, so bin ich geworden. Daran ist sicher schuld, dass ich die Älteste von uns drei Geschwistern war. Und als Älteste war ich für alles verantwortlich. Wenn meinem kleinen Bruder was passiert ist, hat’s geheißen: Warum hast nicht auf ihn aufgepasst? Immer auf wen aufpassen – das hab ich gelernt und nie wieder abgelegt.“
„Die Schwester meines Großvaters mütterlicherseits hat Haftentlassene bei sich wohnen lassen. Die ganze Familie machte sich lustig über sie, wenn sie von denen bestohlen wurde. Jetzt hab halt ich deren Rolle übernommen.“
„Tausend Jahre will ich werden, damit sich alle ärgern.“
(Ausruf beim Tortenkerzen-Ausblasen anlässlich ihrer Feier zum 70er.)
Ich bin seit über 20 Jahren von Helga, meiner ersten Frau, geschieden, doch der Kontakt zu ihr riss nie ab, wir blieben immer in loser Verbindung. Vor allem wegen und über unsere drei Kinder. Helga und ich haben, wann immer es wegen eines unserer Kinder etwas zu besprechen gab, miteinander telefoniert und uns ausgetauscht. So kamen wir stets zu Lösungen, es gab eigentlich nie Streit.
Nachdem ihre Schwester Ute einen Schlaganfall erlitten hatte, wurde der Kontakt zwischen Helga und mir intensiver. Wir trafen uns und unterhielten uns über sie. Wenn es Ute zwischendurch schlechter ging, es in ihrem Krankheitsverlauf eine Krise oder einen Absturz gab, rief Helga mich als Ersten an. Ich fuhr dann in die Zohmanngasse, wo Ute in ihrem Zimmer lag, und versuchte, sie als Mensch und als Arzt zu unterstützen.
Im Gespräch mit Helga, Ute Bocks Schwester
Trotz ihrer schweren Krankheit, von der sie sich teilweise temporär erholte, wobei es aber auch wieder Rückschläge gab und ab einem gewissen Zeitpunkt nur noch abwärts ging, behielt sie ihren trockenen, manchmal ruppigen Humor. Vor allem wenn es um sie selbst ging, war sie nicht geduldig. Sie ging mit sich hart ins Gericht und verlangte von sich hart und forsch, wieder zu »funktionieren«. Ich sagte nicht einmal, sondern häufig zu ihr: »Ute, du musst nicht funktionieren, du musst gesund werden.«
Helga fragte mich jedes Mal in einem Krisenfall, ob ein Spitalsaufenthalt notwendig sei. Sie vertraute meiner Einschätzung voll und ganz. Na ja, schließlich bin ich Arzt.
Nach Utes Tod, als die Idee zu diesem Buch langsam Gestalt annahm, hatte ich den Einfall, Helga zu bitten, etwas über ihre gemeinsame Kindheit und Jugend mit Ute zu erzählen. Ich war sehr gespannt und neugierig, Dinge über Ute zu hören, von denen ich vielleicht bisher keine Ahnung gehabt hatte. Und ich muss sagen, dass ich manchmal das Gefühl hatte, einen neuen Menschen kennenzulernen. Viel mehr zu erfahren als über den allseits bekannten Menschen »Ute Bock« bisher bekannt war.
Helga wohnt in Wien-Liesing in einem schönen Haus und ist glücklich verheiratet. Ich besuchte sie dort und wurde von Helga und ihrem Mann sehr freundlich empfangen. Wir setzten uns im Wohnzimmer zusammen. Es dauerte nicht lange, bis wir zum Grund meines Besuchs, dem Interview, kamen. Ich erklärte, es sei meine Absicht, vor allem Utes Kindheit und Jugend auszuleuchten, und machte klar, dass ich nicht als Arzt oder Psychiater, sondern als Schwager und als Freund an die Sache herangehen wollte.
Helga und Ute
Meine erste Frage war: »Wie war die Beziehung zwischen euch dreien?« Sie waren ja zu dritt: Ute die Älteste, dann Helga, und der Jüngste war ihr Bruder, Michael.
Helga antwortete wie aus der Pistole geschossen: »Wir haben sehr viel gestritten. Dauernd haben wir gestritten.«
Ich musste schmunzeln. »Worüber habt ihr gestritten?
»Ute war sehr selbstbewusst, auch schon als Kind. Sie war sehr gescheit und dominant. Als Mädchen hat sie damals versucht, mich immer wieder zu provozieren. Was ihr gut gelungen ist. Sie hat mit mir gespielt, mit mir Spiele aufgeführt, die mir Angst gemacht haben. Abgesehen davon war sie als Ältere auch meine Lehrerin. Sie hat mir viel beigebracht, aber manchmal fürchtete ich mich vor ihr, manchmal war sie angsteinflößend. Wie Lehrerinnen damals eben waren – oder vielleicht immer noch sind.«
Ich verstand nicht ganz, was sie damit meinte: »Was für Ängste waren das? Wovor hast du dich gefürchtet?«
»Ich war Linkshänderin, aber sie wollte nicht, dass ich links schrieb und zeichnete. Sie hat mir Angst gemacht und gesagt, die Lehrerin in der Schule würde mir den linken Arm auf den Rücken binden. Diese Angst ist mir eine Zeit lang geblieben. Mein Vater war zu uns allen dreien, gelinde ausgedrückt, nicht gerade freundlich. Er hat uns allen Ernstes für deppert gehalten, also für zurückgeblieben. Aber mich hat er am liebsten gehabt, ich war sein Lieblingskind. Das hat er jedenfalls häufig betont. Warum, weiß ich nicht. Es kann schon sein, dass er damit eine gewisse Eifersucht bei Ute und bei Michael geschürt hat. Wer weiß, vielleicht wollte er gerade das, vielleicht war es seine Absicht, Eifersucht unter seinen Kindern zu erzeugen. Vielleicht hatte er sich selbst irgendwie damit aufgewertet.
Ich kann mich erinnern, dass Ute und ein paar Nachbarskinder eines schönen Sommertages von mir verlangten, auf einen Baum zu klettern. Sie stellten mir sogar eine lange Leiter hin. Ich kletterte hinauf und setzte mich, wie von Ute und den anderen Kindern gefordert, auf einen dicken Ast. Da entfernten sie unter grölendem Lachen die Leiter, liefen davon und ließen mich da oben schmoren. Ich hatte große Angst, nie wieder hinunterzukommen, sondern auf immer und ewig auf dem Baum sitzen bleiben zu müssen. Schreckensbilder kamen mir in den Sinn, wie ich abmagerte, verdurstete und schließlich von selbst vom Baum herunterfallen würde wie ein verdorrtes Stück Obst oder ein dürres Stück Zweig. Ich weinte Rotz und Wasser. Aber mit meinen Eltern gesprochen habe ich nie darüber.
Ich habe meiner Schwester alles verziehen. Ich verstand zwar nicht, warum sie das gemacht hatte, das mit dem Baum zum Beispiel, aber ich verzieh ihr. Vielleicht weil sie mir trotz allem viel beibrachte, weil ich viel von ihr lernen konnte. Unser Vater hatte Ute für die Dümmste von uns gehalten. Michael wurde als letztgeborenes Kind und Bub sehr verwöhnt. In erster Linie hat unsere Mutter Michael, wo es nur ging, verzärtelt. Er war so eine Art Prinz für sie.«
Ute, Michael, die Mutter und Helga
Helga, Michael und Ute
Helga und Ute
Ich lenkte das Gespräch wieder auf Ute, und Helga erzählte weiter: »Ute und ich waren ab meinem Eintritt in die Schule jeden Sommer in einem Kinderheim, weil wir daheim zu laut waren. Zwei Monate in den Ferien zu Hause, das war meinen Eltern zu viel des Lärms. Ich war bei meinem ersten Aufenthalt in einem Sommerkinderheim tatsächlich erst sechs Jahre alt. Unser Bruder Michael ist im Sommer mit der Mutter weggefahren, er war halt ihr kleiner Liebling. Ich war unglücklich in den Heimen, zumindest am Anfang. Das erste Mal war ich in Kärnten. Das nächste Mal in Fuschl. Aber da war ich allein, Ute war in einem Heim in Admont, glaube ich. Dann waren wir gemeinsam in Königstetten. An die weiteren Orte kann ich mich nicht mehr erinnern. Auf alle Fälle waren wir Jahr für Jahr über die großen Schulferien in Kinderheimen. Ute hat sich dort immer wohler gefühlt als ich. Sie ist auf einmal, ohne spürbaren Übergang für mich, zur Kinderheimtante mutiert. Das war kurios, sie war ja selbst noch ein Kind, höchstens 14, eher sogar jünger.«
»Und wie war sie körperlich entwickelt? War sie schon …«
»Sie wollte immer älter erscheinen. Erwachsen wirken. Wenn man die Ute mit der Mutti von hinten über den Dannebergplatz gehen gesehen hat, wo wir gewohnt haben, hat man geglaubt, Ute sei die ältere der beiden Frauen. Weil die Mutti immer so jugendlich gewirkt hat, und die Ute … Ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll, nicht nur vom Aussehen, auch von der Haltung her … Sie wollte immer älter sein. Warum, weiß ich nicht.«
Helga machte eine Pause und fuhr dann fort: »Meine Schwester wurde mit den Jahren immer hilfsbereiter und verantwortungsbewusster. Sie hat sich zusehends mehr in die Hausarbeit eingebracht und sich um uns Geschwister gekümmert. Ich kann mich noch gut erinnern, wie gut sie auf einmal für uns, Michael und mich, sorgte, wie toll es plötzlich für mich war, eine große Schwester wie Ute zu haben. So als wollte sie den Eltern die ganze Erziehungsarbeit abnehmen. Und nicht nur das, es schien, als wollte sie ihnen damit zeigen, wie es wirklich ging. Der Mutter war das recht. Dem Vater fiel diese Veränderung ohnehin gar nicht auf, jedenfalls machte er keine dahingehende Äußerung. Ute entwickelte so etwas wie einen Aufpasserinstinkt für Michael und mich.«
Ute Bock mit ihrer Mutter Barbara
»Und der Vater«, fragte ich nach, »hat er selbst eine Veränderung durchgemacht, oder ist er geblieben, wie er war?«
»Es war bekannt, dass er das Gedankengut der Nazis teilte. Unser Vater hatte keine Volksschule besucht, sondern zu Hause von seiner Mutter Unterricht erhalten. Sie war der Meinung, ihr Sohn sei zu schwach gebaut für den öffentlichen Schulunterricht in einer Klasse mit vielen anderen Kindern. Als er dann später ein öffentliches Gymnasium besuchte, war er in derselben Schule wie Adolf Hitler, in Braunau. Dort legte er auch die Matura ab.
Engelbert Bock, Utes Vater
Jahre danach, als wir Kinder heranwuchsen, rühmte sich unser Vater damit, immer die besten Schulnoten erhalten zu haben. Er holte seine alten Zeugnisse hervor und hielt sie uns unter die Nase. Natürlich hatte er recht, in jedem Zeugnis waren lauter Einser zu sehen. Und wir, seine dummen Kinder, wie er uns bei jeder Gelegenheit nannte, hatten große Probleme mit dem Lernen, wir wären zu dumm, zu beschränkt für die Sonderschule. Triefend vor Eigenlob schrie er uns an, wir kämen nicht einmal in die Nähe von lauter Einsern im Zeugnis. Es war so lächerlich, wie er mit seinen alten Zeugnissen vor uns herumfuchtelte. Dieser Mann musste uns Kinder ständig abwerten und heruntermachen, weil er offenbar keinen eigenen Selbstwert spürte. Anders kann ich mir das nicht erklären. Was soll sonst für ein Grund dahinterstecken, Kinder permanent kleinmachen zu müssen. Ich war nie gut in der Schule, aber Ute war eigentlich eh immer gut.«
Barbara Bock, Utes Mutter
Barbara Bock mit ihrer Tochter Ute
Barbara und Engelbert Bock
»Wie war das Leben nach dem Zweiten Weltkrieg für euch?«
Helga dachte lange nach, ehe sie antwortete: »Also … viel zu essen hatten wir nicht. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass wir hungerten. Damals mussten die Lehrer in der Schule die Körperentwicklung und körperliche Verfassung der Schüler benoten, also unserem Körperbau eine Note geben. Ute, Michael und ich bekamen einen Dreier für unsere Körper. Nicht gerade gut. Wir mussten dann in der Schule täglich Lebertrantabletten schlucken. Die waren furchtbar grauslich.«
Wir beschlossen, eine Erzählpause einzulegen, aber nicht wegen der Lebertranerinnerung, sondern weil wir ein bisschen Tee trinken wollten. Als ihr etwas einfiel, brach Helga umgehend die Pause ab: »Mit vier oder fünf Jahren lag ich wegen einer Blinddarmoperation im Krankenhaus. Ich kann mich noch ganz genau an das Tier erinnern, das mir unsere Nachbarn bei einem Besuch im Krankenhaus schenkten, weil ich so tapfer war: Es war ein gelbes kleines Küken. Ich liebte es sofort. Ich freute mich total darauf, nach der Operation mit dem Huhn spielen zu können. Als das Personal im Spital das mitbekam, gab mir eine Krankenschwester ein gekochtes Ei. Sie sagte, das hätte mein Huhn gelegt, und ich müsse es jetzt essen. Ich war extrem verwirrt, das war für mich schrecklich. Die Schwester befahl mir, das Ei zu essen, aber ich weigerte mich. Seitdem habe ich nie wieder Hühnerfleisch gegessen.«
Ich fragte Helga, ob sie Erinnerungen an andere Verwandte habe.
Helga: »Ja, an unsere Oma mütterlicherseits, also die Mutter unserer Mutter. Sie war eine interessante Person, großzügig und für ihre Zeit modern. Auf ungewöhnliche Weise modern: Sie nahm entlassene Männer aus dem Gefängnis bei sich auf, vertraute ihnen. Mit einem Wort, eine hilfsbereite Frau, die einem gestrauchelten Menschen mit einem Vertrauensvorschuss begegnete. Außergewöhnlich für die damalige Zeit.
Eine zweite Verwandte ist erwähnenswert, unsere Tante Paula, die Schwester unseres Vaters. Sie war die beste Freundin der Schwester von Adolf Hitler, die übrigens auch Paula geheißen hat. Hitlers Schwester änderte nach dem Krieg ihren Namen auf ›Frau Wolf‹, um sich von ihrem ›berühmten‹ Bruder zu distanzieren. Bis zum Schluss waren die beiden Paulas eng befreundet.«
Barbara Bock, die Mutter von Helga, Ute und Michael, kam aus Ostdeutschland. Sie hatte dort eine Mittelschule bis zur mittleren Reife (das ist der Abschluss der 6. Klasse) besucht. Helga erzählte, dass ihre Mutter als Mädchen, besser gesagt als junge Frau, im Bund Deutscher Mädchen, kurz BDM, der Naziorganisation für Mädchen, gewesen war. Sie hatte dort gelernt, wie sich ein deutsches Mädchen auf die Zukunft als treudeutsche Frau vorzubereiten hatte. Sie pflückten Blumen und banden Kränze, die auf blonde, strahlende Köpfe mit blauen Augen gesteckt wurden. Sie schrien Naziparolen auf Paradeplätzen, machten Ausflüge und turnten im Übrigen sehr viel. Ständig mussten sie herumhüpfen und ihre Treue zur deutschen Nation besiegeln, indem sie versprachen, sich fit zu halten und für ganz viel deutschen Nachwuchs zu sorgen, der von Stärke, Mut und Treue nur so zu strotzen habe.
Die junge Barbara Bock war eine elegant-sportliche Frau, die Eleganz behielt sie ihr Leben lang. Später arbeitete sie in einer Munitionsfabrik. Sie war ein introvertierter Mensch, was ihr ebenfalls ein Leben lang blieb. Introvertierte Eleganz oder elegante Introvertiertheit – damit war sie eine einsame Frau. Selbst in Gruppen und unter anderen Menschen legte sie das Flair der Einsamen nicht ab.
Ich habe sie als Helgas Mutter, also als meine Schwiegermutter in spe, kennengelernt. Nie hörte ich von ihr auch nur ein Wort über ihre Nazivergangenheit. Helga erzählte mir, dass sie auch gegenüber ihren Kindern darüber geschwiegen habe. Kaltes Schweigen über diese finstere Zeit sei ohnehin üblich gewesen in den Familien der Nachkriegszeit.
Als die junge Barbara nach Oberösterreich übersiedelte, um einen Linzer Ingenieur zu heiraten, wurde sie von vielen Einheimischen als Zugereiste abgelehnt und angefeindet. Mich, den aus dem Iran eingewanderten Ausländer, hat sie immer respekt- und würdevoll behandelt. Ihr Umgang mit mir war stets von einer gewissen Noblesse gefärbt. Vielleicht weil ich Medizin studierte und Arzt werden wollte. Jedenfalls unterstützte sie mich, wo es nur ging. Hatte ich irgendein Problem mit einer Behörde wegen meiner iranischen Herkunft, setzte sie sich für mich ein.
Zu Helgas frühen Familienerinnerungen gehörte, dass sich ihre Mutter vom politischen Gedankengut ihres Mannes strikt distanzierte, ja sie griff ihn sogar verbal an, wenn er sich innerhalb der Familie dahingehend äußerte. Danach herrschte immer ein spannungsgeladenes Schweigen zwischen den Elternteilen – eine schwer erträgliche Atmosphäre, erinnerte sich Helga. Vielleicht fühlte sich der Vater dadurch von seiner Frau erniedrigt. Und vielleicht musste er deshalb seine Kinder, insbesondere die Mädchen, heruntermachen.
Helga lieferte einige Jahreszahlen nach: 1941 hatten die Eltern in Linz geheiratet. 1949 waren sie samt ihren drei Kindern nach Wien gezogen, da die Baufirma, für die der Vater gearbeitet hatte, bankrottgegangen war. In Wien versuchte er, als Selbstständiger mit einem eigenen Planungsbüro in der Baubranche Fuß zu fassen.
»Utes Mädchenjahre in Wien. Was fällt dir dazu ein?«
»Ute ging in die Mittelschule, sie war sehr gescheit und entwickelte sich rasant zu einer intelligenten, geistig gewandten Jugendlichen. Man merkte es daran, wie sie plötzlich auftrat und redete. Zwischen ihr und mir gab es ab der Übersiedlung nach Wien keinen Streit mehr. Was auch auffällig war: Ute hatte bereits damals einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Sie setzte sich für Schwächere ein, jene, die sich nicht selbst helfen oder wehren konnten. Ob Schüler aus unterprivilegierten Familien, Ausgestoßene oder Einzelgänger, die wegen irgendeiner Art von Handicap keinen Anschluss fanden, sie half ihnen, sah einen Sinn darin, brachte die Kraft und den Mut dafür auf. Man muss bedenken: Sie war selbst noch gar keine Erwachsene, hatte aber bereits Ideen für ein sozial ausgewogenes, auf Gleichwertigkeit beruhendes Zusammenleben.
Bei unserem Vater hatte sie dennoch keine Chance. Von ihm wurde sie nach wie vor als nicht begabt bezeichnet. Und das war noch ein milder Ausdruck. Manchmal sagte er sogar, Ute sei ›naturdeppert‹. Bei vielen Gelegenheiten meinte er über uns Kinder, wir gehörten alle in die Sonderschule. Die Realität sah freilich ganz anders aus. Ute war die Schlaueste von uns, die, die am schnellsten begriff. Sie half uns, wo sie nur konnte, und das trug Früchte. Wir waren schon während der Schulzeit eine kleine, verschworene ›Widerstandsgruppe‹ und straften den Vater Lügen. Als unsere Mutter starb, kümmerte sich Ute aufopfernd um unseren Bruder. Sie fuhr zu ihm und bügelte seine Hemden. Sie war nicht nur gerecht, sondern auch in jeder Hinsicht und ohne Grenzen hilfsbereit.«
Als ihr Schwager habe ich Ute Bock auch genau so kennengelernt: grenzenlos hilfsbereit. Das ist sie bis zu ihrem Tod geblieben. Ich will keineswegs einen Mythos um sie aufbauen, sie hatte ihre dunklen Seiten, konnte grob und aggressiv werden. Aber das gehört zum umfassenden Spektrum eines Menschseins dazu. Sie war keine Heilige. Wodurch sie jedoch so außerordentlich herausragte, war ihre bedingungslose Philosophie: Jeder Benachteiligte verdient Unterstützung. Und zwar nicht nur, wenn er besonders lieb zu den Unterstützern ist, sondern weil es ein prinzipielles Menschenrecht ist – in einer Gleichheitsgesellschaft, in der die Bedingungen für gerecht verteilten Wohlstand geschaffen werden müssen.
Ich fragte Helga nach weiteren Erinnerungen an Ute während der Schulzeit, und nach einer kurzen Nachdenkpause erzählte sie: »Ja, da ist noch was. Ich erinnere mich an Utes Angst vor dem Schulweg, weil der durch einen Friedhof führte, wenn man nicht einen großen Umweg in Kauf nehmen wollte. Und da gab es einen seltsamen Friedhofswärter, der ihr die Angst offenbar ansah und sie dafür auch noch verspottete. Ute hat mir erzählt, dass sie ein paar Mal vor ihm davongelaufen ist, weil er ungut geworden sei. Ich wusste nicht, was sie damit meinte. Was bedeutete das: ungut? Ich traute mich nicht nachzufragen, wusste nicht, ob ich ihr das überhaupt glauben sollte. Zu unserem Vater konnte sie damit nicht gehen, weil der sich garantiert lustig über sie gemacht hätte. ›Angst auf dem Friedhof – unsere schlaue Ute!‹, hätte er wahrscheinlich höhnisch gerufen. Aber, darüber hat sie mir später manchmal berichtet, diese Angst hat sie nie ganz abgelegt. Die ist ihr bis zum Schluss geblieben.«
Der alte Herr Bock, der Vater der Bock-Geschwister, starb 1966, eine Woche vor unserer, Helgas und meiner, Hochzeit. Die Mutter lebte bis 1998.
Helga war nach dem schweren Schlaganfall ihrer Schwester sehr besorgt um sie. Ute war linksseitig gelähmt. Helga versuchte ihr klarzumachen, dass sie jetzt vor allen Dingen weniger arbeiten müsse, um wieder gesund zu werden. Ute schlug ihren Rat reflexartig in den Wind. Sie meinte, Krankheiten seien dazu da, um wieder zu verschwinden, sie würden nur stören.
Helga bat andere Familienmitglieder um Hilfe, auch mich, wir sollten auf sie einwirken. Aber es half nichts. Ute war, wie bereits erwähnt, linksseitig gelähmt, doch sie reduzierte ihr Arbeitspensum nicht. Sie tat das Gleiche wie vorher, in vollem Ausmaß, nur dass sie jetzt dabei ausschließlich saß und nur einen Arm einsetzen konnte. Sogar die Katze musste gleich viel wie vorher gestreichelt werden. Jetzt eben mit rechts. Ute meinte spaßhalber zur Katze: »Du warst eh schon immer meine rechte Hand.«
Als Ute mitbekam, dass ihre Umgebung in der Arbeit, die Leute im Verein, sich abgesprochen hatten, sie zu schonen, wurde sie wütend und schimpfte, was sie sich einbildeten.
Ute war nicht mehr voll einsatzfähig, aber sie tat so. Das ging natürlich nicht lange gut. Sie musste drei Mal ins Spital, einmal ins Franz-Josefs-Spital und zwei Mal auf den Rosenhügel. Danach wurde ein Zimmer im Flüchtlingshaus in der Zohmanngasse für sie hergerichtet, mit allen Möglichkeiten für die Pflege, der ganzen Infrastruktur, und eine rumänische Pflegerin kümmerte sich um Ute. Sie hieß Mariana und war Tag und Nacht für sie da. Immer wenn sie es für nötig hielt, trat sie mit uns in Kontakt, um uns zu berichten, wie es um Ute stand, beziehungsweise um uns etwas von ihr auszurichten. Ute behielt ihren Witz auch als es ihr schon sehr schlecht ging.
Meine Aufgabe war es unter anderem, ihre Medikation im Auge zu behalten und den Verlauf ihrer Behandlungen zu kontrollieren. In ihren letzten Lebensjahren setzten sich zusätzlich Leute von der Caritas für sie ein. Ute war sehr froh und dankbar, dass sie nicht in ein Heim gesteckt wurde, das betonte sie immer wieder. Sie sah es wie ein Geschenk, das man ihr jeden Tag aufs Neue machte, dass sie in »ihrem« Haus in der Zohmanngasse bleiben durfte. Sie freute sich wie ein kleines Kind, dass sie, nach eigenen Worten, »wie ein Erste-Klasse-Patient« behandelt wurde. Ohne Herrn Haselsteiner wäre das finanziell nicht machbar gewesen, das darf nicht unerwähnt bleiben.
Ute Bock erhielt in dieser Zeit der schweren Krankheit unglaublich viel Post, Genesungswünsche und emotionale Nachrichten. Das war für sie mit ein Grund, bis zuletzt nicht aufzugeben, durchzuhalten, und sei es nur deswegen, um zu zeigen, dass man ohne Durchhaltevermögen kein Ziel erreichen könne. Obwohl bettlägerig, las sie immer noch Zeitungen und telefonierte herum. Natürlich nur, wenn es ihr dementsprechend gut ging. Als sie eines Tages in einem Inserat eine freie Wohnung entdeckte, rief sie sofort eine Mitarbeiterin an, und es gelang, diese Wohnung für ihren Flüchtlingsverein zu bekommen. Sie war darauf unglaublich stolz. »Siehst du«, sagte sie zu mir, schelmisch funkelnd, »ich kann es noch.«