Читать книгу Lebenswendepunkte: Orientieren - Fokussieren - Dranbleiben - Hrsg. Peter Buchenau - Страница 9
ОглавлениеMariella Heyd - Vor oder zurück? Eine neue Perspektive auf Wendepunkte
„Ein Wendepunkt im Leben, demonstriert keine Sackgasse, sondern einen Neubeginn.“ (Mariella Heyd)
Mariella Heyd ist im Rahmen ihrer akademischen Laufbahn in den Sektoren Gesundheits-, Sozialwissenschaften sowie Management aktiv. Ihr Tätigkeitsfeld ist das Zentrale Qualitätsmanagement einer deutschlandweit agierenden Unternehmensgruppe. Dort ist sie unter anderem als Dozentin für Führungskräfte tätig und verantwortet organisatorisch sowie konzeptionell Traineeprogramme für Nachwuchsführungskräfte in der Pflegebranche. Ein weiteres Arbeitsfeld ist die Marketing-Schnittstelle hinsichtlich des digitalen Wissenstransfers.
Als intrinsisch motivierte Schwerpunktthemen benennt sie u. a. seelische Gesundheit, Resilienz und Work-Life-Balance. Diese Fachexpertise kombiniert sie mit ihrem Wissensspektrum aus den Bereichen präkolumbianischtoltekischer Psychologie sowie Ethnomedizin. Ihre Freizeit widmet die in der Nähe von Frankreich lebende Autorin ihren Katzen, der Kunst sowie der Mythologie.
Seit 2016 publiziert Mariella Heyd belletristische Werke für verschiedene Publikumsverlage. Ihre originäre Tätigkeit als examinierte Gesundheits- und Krankenpflegerin half ihr stets dabei, über den Tellerrand der perzipierten Realität hinaus zu blicken und dabei das Sonder- und Wunderbare des Lebens zu erkennen sowie dieses in eigenen Geschichten zu manifestieren. 2017 wurde sie für ihre Expression im Kontext der Fantasyliteratur im Hinblick auf die Sensibilisierung der Gesellschaft mit der menschlichen Sterblichkeit, Trauerprozessen und weiteren existenziellen Erfahrungen auf der Leipziger Buchmesse mit dem Indie Autor Preis ausgezeichnet.
Mariellas Wendepunkt
Was sind Wendepunkte? Wenn Sie im Auto unterwegs sind und Ihr Navigationssystem mit vertrauter Stimme „Bitte wenden“ intoniert, dann wissen Sie, Sie müssen umkehren. Die Route auf dem Display zeigt Ihnen an, dass Sie dieselbe Strecke noch einmal zurücklegen müssen. Sie suchen eine Möglichkeit, um wieder umzudrehen; zurückzukehren zu dem Punkt, an dem Sie schon einmal waren, damit Sie von dort aus, den richtigen Weg einschlagen können.
Meine alte Sicht auf Wendepunkte
Wendepunkte waren deshalb für mich persönlich lange Zeit eine Art Misserfolg. Wer möchte schon umdrehen? Zurückkehren? Wir alle wollen schließlich immer weiter vorankommen und nicht zwei Schritte vor und drei zurückgehen. Zurückgehen bedeutet, dass wir einen Schritt in Richtung Vergangenheit tun und nicht Richtung Zukunft.
Das Leben durch die Augen der anderen – Mein Perspektivenwechsel
In meiner originären Profession als Gesundheits- und Krankenpflegerin, unter anderem in einer stationären Langzeitpflegeeinrichtung für Menschen höheren Lebensalters, hatte ich viele Berührungspunkte mit der Vergangenheit meiner mir anvertrauten Bewohnerinnen und Bewohner. Neben der „Biografiearbeit“ für die Pflegeplanung, gab es auch die wesentlich wertvollere und durch zwischenmenschliche Interaktion geprägte „Biografiearbeit“. Manche dieser intimen Gespräche bahnten sich während der Körperpflege am Waschbecken an, andere bei einer Tasse Kaffee mitten in der Nacht, während der Rest der Welt schlief – oder am Sterbebett.
Menschen, die bereits einen Großteil ihrer Lebenszeit hinter sich haben und deren Zukunft nur noch ein Wimpernschlag lang bzw. kurz zu sein scheint, häufig von gesundheitlichen Einschränkungen begleitet wird und aus Sicht der jeweiligen Bewohner nicht mehr die Lebensqualität bietet wie einst mit Mitte zwanzig, leben oftmals in der Vergangenheit. Die Vergangenheit ist für diese Menschen der Löwenanteil des Lebens und das, auf was sie bestenfalls gerne zurückblicken. Sie verbringen viel Zeit damit, ihr Leben zu reflektieren und zu fantasieren, wie es hätte anders laufen können. Was wäre gewesen, wenn …?
Solche Überlegungen enden erfahrungsgemäß meist mit einem tiefen Seufzen und dem Satz: „Ach, aber was mache ich mir darüber noch Gedanken? Jetzt ist es ohnehin zu spät. Es ist, wie es ist.“
Wissen Sie, wie es sich anfühlt, wenn ein Mensch an Ihrer Seite in seinen letzten Atemzügen liegt und Sie durch seine Worte und abwesenden Blicke spüren, dass sie oder ihn tonnenweise Bedauern beschweren, weil das Leben nicht das bot, was sie oder er gerne erlebt hätte? Ich verrate Ihnen, wie es sich anfühlt: Sie fühlen Mitleid. Ändern können Sie für diesen Menschen retrospektiv nichts mehr und er selbst kann es auch nicht. Also empfinden Sie Mitleid und leiden wahrhaftig mit.
Mitleid im Sinne eines Mitleidens können Sie dann empfinden, wenn Sie ebenfalls persönlich betroffen sind – wenn Sie sich mit einem Ausschnitt aus dem Leben des anderen identifizieren können. In meinem Fall: „Was wäre, wenn …?“
Ich durfte viele Menschen auf ihrem letzten Weg begleiten und habe dadurch die verschiedensten Facetten des Sterbens kennenlernen dürfen. Manch letzter Vorhang auf der Bühne des Lebens fiel als Leichentuch einer Tragödie und andere Vorhänge wie bunte Luftschlangen einer Komödie. Ich betrachtete es bereits damals als einzigartige Chance, so viele Biografien miterleben und an deren Erfahrungswerten wachsen zu dürfen. In der Regel stirbt ein Mensch nur einmal, doch wenn man fast schon „regelmäßig“ liebgewonnene Persönlichkeiten (manche störrisch, andere exzentrisch, wieder andere humorvoll und kreativ – alle mit ihrer ganz eigenen Geschichte) verabschiedet, dann stirbt man viele Tode oder zumindest stirbt man ein bisschen mit, weil ich stets wusste, dass mit diesem Tod die Ära einer individuellen und unikalen Lebensepisode endet.
Soeben habe ich erzählt, dass die Sterbebegleitung regelmäßig stattfindet, doch so ganz stimmt das nicht. Der Tod folgt keiner Regel und auch ist er niemals Routine. Als ich eines Morgens zur Frühschicht antrat – gerade meine Tasche im Schrank verstaut hatte – wurde ich mit dem plötzlichen Tod einer Bewohnerin konfrontiert. Sie müssen sich vorstellen, dass ich sie stets als quietschfidel erlebt hatte. Manchmal dachte ich, der Tod hätte sie wohl einfach vergessen; Formfehler eben. Zur gleichen Zeit befand sich ein anderer Bewohner im Palliativstadium. Wie wahrscheinlich ist es, dass eine fitte, ältere Dame noch vor einem an Krebs im Endstadium erkrankten Mann stirbt? Die Wette hätten wir wohl alle verloren.
Da ich, nennen wir sie Liesel, sehr gerne mochte und sie mir wie eine ältere Version meines Selbst erschien, hat mich ihr Tod derart überrascht, dass mir für eine Sekunde das Herz stehenblieb. Als ich meine Fassung wiedergewonnen hatte, nahm ich mir einen Moment, um mich persönlich von ihr zu verabschieden. Ich erinnerte mich an Anekdoten aus ihrem Leben, die sie mir erzählt hatte und ich erinnerte mich auch an Momente, in denen Liesel mir anvertraut hatte, dass sie gerne vieles anders gemacht hätte, wäre die Zeit nur eine andere gewesen. Wieder fühlte ich dieses Mitleid – ein Mitleiden – denn auch ich hätte manche Dinge gerne anders machen wollen, aber dazu war eben nicht der passende Zeitpunkt. Es war das Warten auf den richtigen Moment.
Wenige Tage später zog eine ältere Dame in Liesels Zimmer. Lotte war bereits dement und die meiste Zeit des Tages verbrachte sie in ihrer Vergangenheit. Sie, die bereits weit über achtzig Jahre alt war, suchte verzweifelt ihre Kinder im Grundschulalter, von welchen eines bereits vor Jahren gestorben war, wartete auf ihren verstorbenen Mann, der doch gleich von der Arbeit kommen müsste oder fragte, wann ich denn vom Schreibtisch aufstünde, damit auch sie endlich ihre Arbeit machen könne.
Sie müssen wissen, Demenz als Erkrankung hat mich schon immer fasziniert. Demenz ist der kleine Tod vor dem eigentlichen Tod, denn für die meisten existieren dann aus Sicht von Außenstehenden kein Jetzt und keine Zukunft mehr, sondern größtenteils nur noch ein Leben in der Vergangenheit. Für mich war der Wechsel von Liesel zu Lotte ein Augenöffner. Wie bei Liesel, war auch bei mir nie die richtige Zeit für eine Veränderung gekommen, aber durch Lotte erkannte ich, dass ich, wenn ich nicht eines Tages in einem Kreisverkehr einer Vergangenheit stecken wollte, mein Leben stetig einer Reflexion und Neubewertung unterziehen musste. Die Indikatoren für solch einen Wendepunkt zeigten sich in der Folge immer deutlicher. Ich fühlte, dass ich etwas abschließen und mir dafür etwas Neues erschließen wollte. Trotz der Realität, dass ich meinen Beruf sehr gerne mochte, spürte ich, dass eine Veränderung anstand.
Gesagt, getan! Ich hing meinen Kasack an den Nagel und tat das, was mich nun reizte und was sich, wenn ich auf mein Herz hörte, richtig anfühlte. Ich begann ein Studium, schrieb meinen ersten Roman und folgte dem Ruf meines Herzens. Nicht das Leben bot mir den passenden Moment für diesen Wandel, sondern ich schaffte den richtigen Moment für mein Leben. Es folgten weitere Bücher, Verlagsverträge, ein Literaturpreis, Pressetermine, Interviews, Lesungen auf Buchmessen und ein Leben – mein Leben – das wie für mich geschaffen ist. Moment … Mein Leben, das ich für mich geschaffen habe.
Meine neue Sicht auf Wendepunkte. Heute weiß ich, weshalb es wichtig ist, manchmal auf das leise „Bitte wenden“ zu hören und umzukehren. Ich weiß inzwischen, dass es sich lohnt, einen Weg, den man eigentlich nicht einschlagen oder zumindest nicht so viele Meilen im gleichen Trott beschreiten wollte, noch einmal bis zur letzten Kreuzung zurückzugehen, auch wenn es viel Kraft und Überwindung kostet. Warten Sie damit nicht, bis vor Ihnen eine Sackgasse auftaucht. Auf diesem Rückweg hat man Zeit zu reflektieren, was man von dem, was man bereits hat, nicht mehr will. An der Kreuzung angekommen, ist man bei sich selbst angekommen und bei seinem eigenen Wesenskern – dem, was man war, bevor man eine falsche Fährte aufgenommen hat. Wer bei sich ankommt, weiß spätestens dann, was man auf jeden Fall will.
Nicht wir passen uns dem Leben an, sondern wir passen das Leben an uns an.
Meinen Erfahrungsschatz mit älteren Personen, an Demenz erkrankten Menschen und Sterbenden kann ich in der Fülle an Emotionen und Erkenntnissen, die diese für mein Leben bereithielten, zwar nicht teilen, aber ich kann eine Geschichte mit Ihnen teilen, die Sie vielleicht Ihr Jetzt, Ihre Zukunft – Ihre noch nicht geschriebene Vergangenheit – überdenken lässt, sodass Sie zumindest ein Juwel dieses Schatzes mit sich nehmen und dadurch reicher werden können.
Vorhang auf für Ihren Perspektivenwechsel … Ein Geschenk zur Lebensreflexion.
Plötzlich dement und Zeitreisende
Ich bin alt geworden. Zweiundneunzig Jahre. Fast ein ganzes Jahrhundert bin ich alt. Aber die Hundert, die mache ich nicht mehr voll. Ich merke, wie es langsam bergab geht – oder himmelauf, je nachdem. Vor einem Jahr bin ich gestürzt und habe mir den großen Knochen im Bein gebrochen.
„Osteoporose“, hat der Arzt gesagt und seitdem folgt ein Wehwehchen dem nächsten: Mein Rücken schmerzt morgens und knackt fast lauter als der Lattenrost. Meine Fingerknöchel sind geschwollen. Nähen kann ich nicht mehr. Jedes Nadelöhr ist eine Herausforderung geworden. Meine Tochter ist mein neuestes Wehwehchen. Fast täglich ruft sie an und erzählt mir, dass ich mehr Kalzium essen soll. Bananen seien gut für mich. Ich habe Bananen nie gemocht. Ich erspare ihr, dass ich steinalt geworden bin und auch nicht ewig leben werde. Bananen hin oder her. Sie hat genug um die Ohren. Im Hintergrund höre ich immer ihren Mann über Politik lamentieren, dann die Waschmaschine und die gehetzten Schritte von Sabine, die nebenbei den Haushalt organisiert. Nachher fährt sie bestimmt zu Lisa, ihrer Tochter. Meine Enkelin. Sie ist nun auch schon eine junge Frau. Sabine soll nicht auch noch mich umsorgen müssen. Deshalb verschweige ich ihr auch diesen Beutel, der seit einer Woche an meinem Bein hängt. Ich habe es zuerst nicht mehr rechtzeitig zur Toilette geschafft und dann konnte ich es gar nicht mehr halten. Mein Arzt hat dann gesagt, mit diesem Blasenkatheter müsste ich mir keine Sorgen mehr machen, dass etwas in die Hose geht. Eine Windel wollte ich nicht tragen.
Jetzt hängt er da. Er ist unhandlich, kratzt und stinkt, aber das macht nichts. Ich wohne, seit dem Tod meines Mannes vor drei Jahren, alleine hier. Heinz ist an einem Herzinfarkt gestorben. Er saß vor dem Fernseher und hat die Nachrichten geguckt. Dann ist er eingeschlafen. Als ich ihn zum Abendbrot wecken wollte, da war er tot. Keine Ahnung, welche Nachrichten ihn aus den Socken gehauen haben. Dafür, dass er zum Schluss einhundertzwanzig Kilo auf die Waage brachte und einen Herzschrittmacher trug, ist er doch recht alt geworden. Früher war er ein Athlet gewesen. Ein Schwimmer. Groß und schlank war er, als wir uns im Sommer 1938 kennenlernten. Als dann kurz darauf der Krieg ausbrach, war es vorbei mit der Liebelei. Heinz wurde Soldat und an die Front geschickt. Als er zurückkehrte, war er nicht mehr derselbe: Er war ausgezehrt, sprach kaum ein Wort über den Krieg und starrte oft stundenlang hinaus in den Garten. Nachts, da schrie er im Traum. Die Schrecken des Krieges verfolgten meinen Heinz bis zum Tag seines Todes. Ich habe ihn trotzdem geheiratet. Und Kinder haben wir auch gekriegt. Drei Stück. Oder zwei? Nein, es waren drei. Sabine, Wolfgang und Andreas.
Sabine ist meine Tochter. Sie ist die Jüngste. Kam erst zwanzig Jahre nach Wolfgang auf die Welt. Da habe ich schon gar nicht mehr mit einem Baby gerechnet. Habe ich das schon erzählt? Sie ruft ständig an und sagt mir, wie ich mein Leben leben soll. Zweiundneunzig Jahre habe ich keine Vorschriften gebraucht, aber das will sie nicht verstehen. Sie sorgt sich eben um mich.
Wolfgang lebt in Amerika. Er lebt dort den großen amerikanischen Traum. Vor Jahren hat er eine Amerikanerin geheiratet. Ein hübsches Ding, aber ich habe nie mit ihr gesprochen. Ich kann ja kein Englisch und sie kein Deutsch. Nach ein paar Jahren hat er sich scheiden lassen, um sie kurz darauf noch einmal zu ehelichen. Wolfgang weiß schon, was er tut. An Weihnachten will er wieder vorbeikommen. Um Geschenke muss ich mich nicht kümmern. Er hat keine Kinder.
Und dann ist da noch Andreas, mein lieber Junge. Er ist erst fünf Jahre alt und putzmunter. Er spielt immerzu draußen und hält mich auf Trab. Es vergeht kein Tag, an dem er nicht mit einem aufgeschürften Knie nach Hause kommt. Moment mal, was erzähle ich denn da? Andreas ist keine fünf Jahre alt. Er müsste jetzt dreiundsechzig Jahre alt sein, wenn er nicht gestorben wäre. Ja, Andreas ist ja tot. Ich wische mir eine Träne aus dem Augenwinkel und schnäuze mich. Als Kind ist er bei einem Badeunfall ertrunken. Ich habe seinen Tod bis heute nicht überwunden. Ich sag´s ja: Mit mir geht es vorbei. Ich bin schon ganz durcheinander. Aber immerhin kann ich mich noch selbst versorgen.
Nicht so wie Gittchen. Seit meine Nachbarin einen Schlaganfall hatte, habe ich sie nicht mehr gesehen. Die jungen Frauen vom ambulanten Pflegedienst richten mir hin und wieder Grüße von ihr aus, aber eingeladen hat sie mich seitdem nicht mehr. Sie lehnt sich nicht einmal mehr ans Fenster. Die Krankenschwester sagt, Gittchen sei jetzt ein Pflegefall. Sie hat sogar ein Spezialbett bekommen und kann sich nicht einmal mehr selbst ein Brot schmieren.
„Sie spricht auch ganz seltsam. Man versteht sie kaum noch, und sabbern tut sie“, hat mir ihre Schwester erzählt, die ab und an nach dem Rechten sieht und die Blumen vor dem Haus gießt.
Nicht mal mehr ein Brot schmieren, wie grauenvoll das klingt. Meine Hände zittern zwar, aber es gelingt mir doch noch recht gut. Ich schmatze zwar beim Kauen und mein Gebiss klackert, aber mich hört ja niemand.
Ich könnte Gittchen einfach mal besuchen, aber ich will nicht. Sie will nicht, dass ich sie so sehe und ich will es auch nicht; also bleibe ich allein.
Alleine, nicht einsam. Das ist nämlich ein Unterschied. Wenn ich mich unterhalten möchte, dann gehe ich auf den Friedhof. Sonntags sieht man dort alle Nachbarn, wie sie die Gräber richten und über den neusten Dorfklatsch tratschen. Adelgunde habe ich letztens dort getroffen. Sie hat sich darüber aufgeregt, dass die Primeln auf dem Grab vertrocknet sind.
Ich habe gefragt, wie es ihrem Mann geht.
„Bernd ist doch schon seit Jahren tot“, meinte sie und zeigte auf sein Grab.
Der gute Bernd. Ich hatte ganz vergessen, dass er nicht mehr ist. Mir war, als hätte ich erst gestern Brötchen in seiner Bäckerei gekauft – die es auch schon lange nicht mehr gibt.
Meine Tochter schimpft, dass ich so viel vergesse und sie denkt, dass ich nicht mehr lange alleine zurechtkomme. Dabei vergesse ich nichts. Jedenfalls nicht so, wie sie es meint. Die Zeit überschneidet sich einfach nur. Früher, da habe ich gedacht, dass einem die Zeit davonläuft. Als ich älter wurde, wurde es noch schlimmer. Es kam der Tag, es war mein siebzigster Geburtstag, da war mir plötzlich klar: „Zwei Drittel deines Lebens sind vorbei.“ Und das war eine optimistische Schätzung. Von verpassten Chancen war die Rede. Verschenkter Zeit.
Heute weiß ich es besser. Die Zeit rennt nicht und sie geht nicht verloren. Man kann sie nicht verpassen und nicht vergessen, denn sie ist immer da und ein treuer Begleiter. Ich habe größeres Glück als Gittchen. Ich werde dement.
Ich spüre es immer häufiger. Menschen, die längst tot sind, leben wieder. Andreas ist wieder da und lacht. Meine Kinder, die längst ihr eigenes Leben führen, warten am Mittagstisch aufs Essen. Heinz steht im Garten und winkt mir mit einem Bündel Karotten zu. Gittchen jätet Unkraut. Demenz ist eine Zeitmaschine.
Manchmal macht es mir Angst. Dann weiß ich nicht, was mit mir geschieht. Ich bin zurück im Jahr 1988 und dann bin ich wieder hier. Ich suche Bernds Bäckerei und finde sie nicht. Wenig später lerne ich Heinz im Schwimmbad kennen. Nur damit kurz darauf Sabine anruft und mich an die Bananen erinnert.
Aber ich weiß: Das ist nur eine Übergangsphase. Es wird nicht mehr lange dauern, dann bin ich in meiner Demenzwelt. Dann wird es keinen Unterschied mehr geben zwischen jetzt, damals, gestern und morgen.
Ich bin dement.
Ich bin eine Zeitreisende.
Ihre Mariella Heyd
www.mariellaheyd.de
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Herausgeber:
Piper Gefühlvoll;
1. Edition (2. April 2019)
Sprache +: Deutsch
Taschenbuch: 372 Seiten
ISBN-10: 3492502482
ISBN-13: 978-3492502481
Die Welt der Mathematik und Physik als Medium der emotionalen Annäherung zweier Außenseiter, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.
…nicht nur für Zahlenliebhaber…
Auszug aus einem Leserbrief:
"Als Mathematikstudent habe ich in den Vorlesungen die Fibonacci-Spirale und deren Implikationen unter rein formal-strukturellen Aspekten kennengelernt. Nie im Traum wäre mir eingefallen, sie tief emotionalisierend in der hier dargestellten Form kennenzulernen. Eine wahrlich gelungene Verbindung von exakter Mathematik und tiefer Liebe."