Читать книгу Verrückt in Bonn - Hubert Schem - Страница 4
3
ОглавлениеSie versuchte mit der linken Hand ihre Sonnenbrille im Haar zu fixieren, während sie mit der rechten das Tablett im Gehen ausbalancierte. Die Suppe geriet heftig ins Schwingen, und vom übervollen Salatteller fielen mehrere Käsewürfel auf das Tablett und rutschten bis zur Kante. Am ersten Arbeitstag nach ihrem Sommerurlaub betrachtete Vera Hofknecht dieses kleine Missgeschick ironisch als Verwarnung für ihre Gier. Sie vergewisserte sich im Weitergehen, dass die Suppe abschwang und sah fast gleichzeitig, dass der von ihr bevorzugte Tisch besetzt war. Unschlüssig blieb sie eine Sekunde stehen und wandte sich dann abrupt nach links. Gerade noch rechtzeitig sah sie einen Schatten auf das Tablett fallen, blieb instinktiv stehen und vollführte dann mit ihrem Gegenüber einen jener Tänze, die man - je nach Stimmung - als peinlich oder lustig empfindet. Die hochgewachsene Psychologin, mit ihrer Urlaubsbräune wie aus einem Reiseprospekt entsprungen, und der zerbrechlich wirkende Ministeriale machten synchron vergebliche Ausweichversuche, entschuldigten sich gegenseitig, lächelten sich dann freundlich an und steuerten schließlich beide auf einen freien Tisch zu.
Zu dieser Zeit war das Selbstbedienungsrestaurant hauptsächlich von Bediensteten der umliegenden Ministerien bevölkert. Vera hatte den Kollegen schon früher gelegentlich gesehen. Ohne sich erinnern zu können, wie sie dazu gekommen war, hatte sie eine vage Vorstellung von seinem hohen Rang in der Hierarchie der Landesregierung, kannte aber weder seinen Namen noch seine Dienststelle. Obwohl sie seit fast eineinhalb Jahren in der Staatskanzlei tätig war, fühlte sie sich immer noch nicht richtig dazugehörig. Dass eine auf sie als Diplom-Psychologin zugeschnittene Planstelle für zunächst zwei Jahre in der Staatskanzlei eingerichtet worden war, beruhte auf ihren eigenen Ideen, ihren zielgerichteten Aktivitäten und ihren Kontakten, die sie während der Arbeit an ihrer Dissertation geknüpft hatte. Bei einer günstigen Gelegenheit hatte sie einen einflussreichen Gesprächspartner zu ihrem Verbündeten gemacht. Es war ihr gelungen, ihn davon zu überzeugen, dass durch die Einrichtung dieser Planstelle, für die es weder in anderen Bundesländern noch bei der Bundesregierung etwas Vergleichbares gab, das Land seine Spitzenstellung auch auf einem Gebiet demonstrieren konnte, das bis dahin nicht auf seiner Schokoladenseite gelegen hatte. Während Vera mit Genuss ihre Flädlessuppe löffelte und der unbekannte Kollege mit eleganten Bewegungen ein kaltes Hähnchen zerlegte, entwickelte sich überraschend geradlinig ein Gespräch, das eher zu einem ersten Rendezvous nach einen einschlägigen Inserat gepasst hätte als zu einer Begegnung zwischen Kollegen in der halbstündigen Mittagspause. Vielleicht war es kein Zufall, dass es dem wesentlich Älteren schneller gelang, etwas über die dienstliche Funktion seiner Tischgenossin zu erfahren als ihr über seine. Vielleicht lag es aber auch an einer bewussten Gesprächsführungsstrategie der Jüngeren. Vera hatte aus seiner besonderen Sprechweise - präzise und ungedrechselte aber wohlformulierte Sätze, den Ton auf eine für die Zuhörerin anstrengende Weise zurückgenommen - und aus seinem gleichbleibend freundlich-neutralen Gesichtsausdruck das vage Bild von ihm ergänzt. Er musste zu jener seltenen Kategorie hochrangiger Beamter gehören, die ihr vielseitiges Wissen und ihre in Jahrzehnten gesammelte Erfahrung wechselnden Herren loyal dienstbar machen - häufig mit innerer Überlegenheit und gelegentlich mit versteckter Ironie. Als plötzlich in dem pergamentenem Gesicht ihres Gesprächspartners eine kurze Turbulenz entstand - Auflösung der gesetzten Linien, offenes Staunen, Nachdenken, Versunkenheit, Ratlosigkeit, Einfall, erneutes Nachdenken, Entschluss, Straffung der Gesichtszüge zu einer vorher nicht zu erkennenden Härte -, wusste Vera, dass dieses Gespräch eine Wendung nehmen würde. Obwohl er eher leiser als zuvor sprach, konnte sie ihn nun mühelos verstehen. "Ich müsste mich jetzt eigentlich vorstellen, bitte aber um Nachsicht, dass ich davon absehe. Nach meiner Überzeugung sind Sie genau die Frau, die man derzeit in Bonn braucht." Ihre Verblüffung ließ ihn kurz zögern. Dann fuhr er im gleichen Tonfall fort: "Es geht um die Mitarbeit in einem kleinen Projektteam, dessen Aufgabe ich Ihnen hier nicht beschreiben kann, für die es aber - so viel darf ich Ihnen sagen - in der Geschichte dieser Republik kein Beispiel gibt. Meine Kenntnis davon beruht auf privaten Kontakten zu einem alten Studienfreund und Bundesbruder. Wenn Sie Interesse haben, gebe ich Ihnen seine private Telefonnummer. Rufen Sie dort bitte nicht vor 20,00 Uhr an und nicht am Donnerstag. Wahrscheinlich wird auch er Ihnen am Telefon nichts Genaues sagen, sondern ein Treffen in Bonn vorschlagen, wenn er - wovon ich überzeugt bin - an Ihrer Mitarbeit interessiert ist. Ich weiß, dass das auf alberne Weise geheimbündlerisch klingt. Es ist tatsächlich eine Sache mit einer der höchsten Geheimhaltungsstufen. Mir sind selbst nur Bruchstücke bekannt. Und ich bin mir nicht einmal sicher, ob mein Kontaktmann selbst alle Fäden in der Hand hält. Aber es ist zweifellos eine seriöse Aktion - mindestens so seriös, wie das, was Sie und ich hier Tag für Tag tun." Ein kaum erkennbares Lächeln mit einer uralt-weisen Ironie blieb auf seinem Gesicht haften.
Vera ignorierte die Vorschriften über Dienstreisen und fuhr mit ihrem eigenen Wagen nach Bonn. Das abendliche Telefongespräch hatte ihr Interesse einerseits bestärkt, ihm aber andererseits ein vages Unbehagen zugesellt; denn der Angerufene, der sich mit einem fast tonlosen "Hallo!" gemeldet und es auch im weiteren Verlauf des Telefonats vermieden hatte, seinen Namen zu nennen, kannte bereits alle Daten, die sie dem unbekannten Kollegen über sich preisgegeben hatte, und weiteres aus geheimnisvollen Quellen. Seine Angaben über das Sonderprojekt und die ihr möglicherweise zugedachte Aufgabe waren wenig erhellend.
Treffpunkt sollte ein Lokal an der Wachsbleiche, einer kurzen und engen Straße hinter der Beethovenhalle, sein. Bevor sie das Lokal betrat, fiel ihr ein, dass sie nicht wusste, wie sie ihren Gesprächspartner erkennen sollte, und dass sie ihm auch keinen Hinweis über ihr eigenes Äußeres gegeben hatte. Sie blieb vor dem Eingang stehen und begann ratlos die Speisenkarte neben dem linken Türpfosten zu lesen. Bevor sich ihr Unbehagen über die Situation mit dem Ärger über die Preise zu einem Stimmungseinbruch vermischen konnte, bemerkte sie, wie jemand hinter ihr herankam und an der anderen Seite der Tür stehenblieb. Er schien zunächst ebenfalls die Speisenkarte zu studieren, sprach sie dann aber mit seiner verhaltenen Stimme an, ohne sich ihr zuzuwenden: "Keine Sorge, Frau Dr. Hofknecht, Sie sind natürlich mein Gast. Darf ich vorgehen?"
Das Lokal war fast leer. Zielsicher steuerte er auf einen Zweiertisch am Ende des Schankraums zu. Sie war überrascht von seinem Äußeren. Während des Telefonats hatte sie wegen seiner leisen und leicht leiernden Art zu sprechen, stets einen Mann vor Augen gehabt, der dem Kollegen aus der Staatskanzlei weitgehend ähnelte. Dieser Mann hier war wohl einen halben Kopf größer als sie und hatte die Figur eines Kugelstoßers. Auf einem schlanken und auffallend langen Hals saß ein kugelrunder kleiner Kopf. Die erfahrene Psychologin verbot sich sofort, aus seiner blassroten Gesichtsfarbe Schlüsse auf seine Ess- und Trinkgewohnheiten zu ziehen.
"Ich muss Sie um Verständnis für mein unkonventionelles Verhalten bitten, Frau Kollegin. Wenn wir ins Geschäft kommen, kann ich das vielleicht wiedergutmachen, wenn nicht, werde ich mit Ihrem Unwillen leben müssen. Ich schlage also vor, dass wir uns der Aufgabe zunächst abstrakt-allgemein annähern."
Bei aller Sicherheit seiner Stimme glaubte sie einen Rest von Einübung aus diesen Sätzen herauszuhören. Sie stellte sich auf einen spannenden Schlagabtausch ein und spürte einen beruhigenden Impuls der Siegesgewissheit. Dies war der Beginn eines Spiels mit ihr noch unbekannten Regeln, und die erste Runde dieses Spiels wollte und würde sie gewinnen. "Ich bin bereit."
Seine Irritation über Ihre knappe Antwort entging ihr nicht. Er fing sich aber sofort und sah ihr jetzt mit professioneller Ernsthaftigkeit gerade in die Augen. "Frau Dr. Hofknecht, Sie sind durch Ihre Dissertation und durch Ihre derzeitige Tätigkeit ausgewiesen als Expertin für Kommunikationsstörungen in komplexen Organisationen. Sie glauben demnach an einen Normalverlauf?"
"Nein, für normal halte ich die gestörte Kommunikation. Mein Störungsbegriff geht von einem Idealverlauf aus..."
"Den Sie erdacht haben?"
"Dazu bin ich zu spät geboren. Bestenfalls habe ich ihn ein wenig gestaltet".
"Gut, Ihre Bescheidenheit in Ehren, wenn der Idealverlauf nie erreicht wird, inwiefern kann er dann ideal sein?"
Sie hatte nicht ernsthaft erwartet, dass er ihre Dissertation von vorn bis hinten gelesen hatte; jetzt war ihr klar, dass er nicht einmal die Einführung kannte. Seine Kenntnisse musste er von dritter Seite erlangt haben. Sie beschloss einen Entlastungsangriff zu starten. "Wenn hier in Bonn ein Übermensch die Aufgabe bekäme herauszufinden, welche der tausenden von gesetzlichen Vorschriften ausgerichtet sind an einem Ideal im umgangssprachlichen Sinn und welche lediglich der Realisierung eines wertfreien Modells dienen - er müsste schon am ersten Tag scheitern, Herr ...."
"Busch."
Er hatte sich tatsächlich überrumpeln lassen. Sie sah, dass sich über das zarte Rot seines Gesichts eine zusätzliche Rotschicht gelegt hatte und wartete ab, wie er sich einfangen würde.
"Verdammt ... Verzeihung... nun gut, meine Name ist also Busch. Sie hätten ihn wahrscheinlich sowieso innerhalb der nächsten halben Stunde erfahren. Wir wollen ja hier keinen Agententhriller spielen. Verkürzen wir das Verfahren also. Ich bin Abteilungsleiter im Innenministerium und in dieser Eigenschaft auch Kontaktmann zum Kanzleramt. Verfassung, innere Sicherheit und vieles mehr. Ihr Einsatz hier hätte im weiteren Sinne damit zu tun. Zuvor gestatten Sie mir aber noch eine Frage."
Sie bemühte sich, ihre Spannung nicht zu zeigen, sah ihn freundlich an und wartete stumm ab. Er suchte sichtlich nach den angemessenen Wörtern. Schließlich fuhr er in einem suggestiven Tonfall fort: "Die Aufgabe ist nicht nur eine beispiellose Herausforderung, sondern auch in jeder Hinsicht delikat."
"In jeder Hinsicht? - Heißt das, es wird nicht nur der Einsatz meines Kopfes verlangt? " Jetzt war ihr das Blut zu Kopf gestiegen. Sie ärgerte sich maßlos und überlegte, ob sie einfach aufstehen und die Angelegenheit damit beenden sollte. Das ausgerechnet ihr, der kompromisslosen Kämpferin für die radikale Selbstbestimmung der Frauen!
"Nein, nein, nicht in diesem Sinne natürlich. Delikat würde Ihre Kommunikationssituation sein. Sie dürften niemandem vertrauen, solange es kein eindeutiges Ergebnis gibt, auch nicht den Mitgliedern des kleinen Teams, mit denen ich sie für einige Zeit zusammenspannen möchte. Bedenken Sie, jede und jeder hier im Bonner Regierungsapparat und seinem Umfeld kann die Quelle oder ein Zufluss jenes unterirdischen Stroms sein - wenn Sie mir diese Metapher gestatten -, der meiner Ansicht nach die Grundfesten unserer Republik bedroht und ein bleibendes Chaos anrichten kann."
Im letzten Moment schluckte sie eine kesse Bemerkung über den Charme des Chaos hinunter und schwieg. Auch Busch schien sein Pulver verschossen zu haben und widmete sich schweigend dem farblosen Inhalt seines Glases. Schließlich ergriff sie wieder die Initiative: "Sie fragen mich gar nicht nach meiner Einstellung zu unserem Staatswesen, Herr Busch, werde ich dazu noch in einem besonderen Verfahren geprüft?"
"Nein, nein, wir wissen, dass Sie ziemlich kritisch sind. Aber: wer offen Missstände kritisiert, dem ist der Staat nicht gleichgültig und der plant nicht insgeheim den Umsturz. Ihre Einstellung ist gerade richtig. Und damit sind Sie eingestellt."
Sie brauchte einen Moment um ihre Freude zu unterdrücken. Dann erwiderte sie in einem leicht ärgerlich klingenden Tonfall: "Und ich werde gar nicht mehr gefragt?"
"Pardon, wollen Sie also?"
"Ein paar Fragen hätte ich schon noch."
"Selbstverständlich."
"Da Sie mich wegen meiner ganz speziellen Fachkenntnisse hier haben möchten, darf ich wohl annehmen, dass Sie nicht von mir erwarten, wie eine Kriminalistin tätig zu sein. Es geht Ihnen hoffentlich nicht darum, dass ich durch Einsatz meiner Fachkenntnisse konkrete Personen denunziere, die für das Chaos verantwortlich sein könnten, von dem Sie eben gesprochen haben?"
"Die Frage habe ich von Ihnen erwartet, Frau Dr. Hofknecht. Ich will mit offenen Karten spielen. Von Ihren Teamkollegen muss ich erwarten, dass sie Namen nennen, wenn sie innerhalb ihrer dienstlichen Aufgabe zu dem Ergebnis gekommen sind, dieser oder jener, diese oder jene habe die Absicht oder nehme grob fahrlässig in Kauf, unserem Staat Schaden zuzufügen. Das nenne ich nicht denunzieren. Das ist für mich eine Dienstpflicht. Von Ihnen möchte ich derartiges aber nicht verlangen. Von Ihnen verspreche ich mir etwas anderes. Ich möchte aus der Sicht einer Psychologin und Expertin für Kommunikationsstörungen in Großorganisationen wissen, wie es zu solchen Erscheinungen kommen konnte, welche Gefahren sich für die Zukunft aus der bereits eingetretenen Entwicklung ergeben und was Ihrer Meinung nach getan werden muss, um diesen Gefahren zu begegnen."
"Sie denken an eine Art von Bestandsaufnahme über alle Befindlichkeiten, Einstellungen und Kommunikationsgewohnheiten im Regierungsapparat, die zu einem Verhalten führen könnten, das nach Ihrer Ansicht gefährlich für den Staat werden kann? Ehrlich gesagt, das klingt mir ziemlich nach Stasi. Das können Sie doch nicht ernsthaft von mir erwarten, Herr Ministerialdirektor." Vera war verärgert und sah ihre Felle wieder davonschwimmen.
In der nächsten halben Stunde gelang es dem Abteilungsleiter, Veras Bedenken so weit auszuräumen, dass sie im Prinzip zusagte. Er versicherte ihr feierlich, ihre Arbeitsergebnisse würden losgelöst von konkreten Personen und Strukturen für allgemeine korrigierende Maßnahmen verwendet. Und zu ihrer eigenen Überraschung glaubte sie ihm aufs Wort. Stein für Stein trug er die Mauer ihrer Skepsis mit seiner ernsthaften Argumentationsweise ab, bis ihr die Argumente gegen sein Ansinnen ausgingen. Trotzdem blieb ein Rest von Unbehagen. Vera ertappte sich, wie sie auf ihrer Unterlippe herumbiss. Ein starker Impuls warnte sie, sich in eine Situation zu begeben, in der sie trotz aller Zusicherungen mit Grundsätzen ihrer Berufs- und Lebensauffassung in Konflikt geraten könnte. Busch sah schweigend an ihr vorbei ins Leere. Plötzlich nahm sie den Gegenimpuls wahr: Denen muss man es zeigen! Wer zwingt dich denn, deine Feststellungen ausnahmslos und ungefiltert weiterzugeben! - Verdammt noch mal, diese Herausforderung musst du annehmen! Ihre weiteren Fragen gehörten nur noch zu dem Nachhutgefecht dieses eigenartig verschwörerischen Einstellungsgesprächs. "Welche Zeitvorstellungen haben Sie und wie sind die finanziellen Konditionen, Herr Busch?"
"Beginn praktisch sofort, also morgen früh, Ende spätestens in drei Monaten. Wenn Sie und Ihre Kollegen, mit denen ich Sie morgen bekanntmachen werde, bis dahin kein Ergebnis vorweisen können, wird die Aktion abgebrochen. Mir stehen nur begrenzte Mittel zur Verfügung."
"Und die finanziellen Konditionen?“
"An Ihrer Einstufung können wir nichts ändern. Sie erhalten für die Dauer der Abordnung natürlich das übliche Trennungsgeld und eine Zulage, die wir aus haushaltstechnischen Gründen als Gefahrenzulage deklarieren müssen, von 500 Mark monatlich. Sie wissen ja, die Bundeskassen sind leer."
"Sie haben mich überredet, Herr Busch."