Читать книгу Verrückt in Bonn - Hubert Schem - Страница 6
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ОглавлениеEine Meldung aus dem Ministerium für Standortentwicklung und Visionskoordination. Die erste im besonderen Meldesystem aus diesem Ministerium überhaupt. Der persönliche Referent des Ministers schickte über die reservierte Leitung ein Fax: "Die jüngsten Veranstaltungen des Ministers zeigten ein besorgniserregendes Ansteigen der Aggressivität von Gegnern der Rechtschreibreform. Unbeachtet der Nichtzuständigkeit des Bundes richtet sich die Kritik pauschal gegen die Bundesregierung allgemein und meinen Minister im Besonderen. Sachliche Argumente werden mit Hohn und Hass erwidert. Ich halte körperliche Angriffe gegen den Minister nicht mehr für ausgeschlossen und habe die Verstärkung des Personenschutzes angefordert. Insbesondere jedoch weise ich darauf hin, dass sich hier offenbar ein Gewaltpotential zu konzentrieren beginnt, das keinesfalls unterschätzt werden darf. Bei der gegebenen politischen Lage - Stichworte: Arbeitslosigkeit, fehlende Perspektiven für die Jugend, Reformstau, Blockade, Werteverlust - könnte die Rechtschreibreform nach hiesiger Einschätzung zum Auslöser einer neuen radikalen Bewegung werden. Und schließlich sei noch angemerkt: Wenn das Einverständnis über die Alltagssprache verlorenginge, wäre nichts in unserem Staat mehr beständig."
Zwischen Verdrossenheit, hochmütigem Amüsement und einem Rest ernsthafter Analyse verharrten Ministerialdirektor Busch und Ministerialdirigent Häckle, der Bürovorsteher des für die Geheimdienste zuständigen Kanzleramtsministers, eine Minute lang wortlos. Das Fax lag zwischen ihnen auf dem Besprechungstisch im Arbeitszimmer von Busch. Dann nahm Busch es auf, rollte mit seinem Stuhl zu dem kleinen Aktenvernichter, der ihm seit Beginn der Aktion zur Verfügung stand, drückte auf den Startknopf und hielt das Papier demonstrativ über den Einführschlitz, wobei er Zustimmung heischend zu Häckle hinübersah. Schon manches Fax aus den verschiedensten Ministerien war in den letzten Wochen auf diese Weise erledigt worden. Der unentschlossene Blick von Häckle ließ Busch zögern. "Haben Sie Zweifel? 'Nach hiesiger Ansicht' - wenn ich das schon lese! Das Ganze ist doch - in der Sprechart meines Sohnes ausgedrückt - ein schreckliches Gesülze."
"Ja und nein - ich weiß nicht - also Zweifel, ja."
Busch stellte den Aktenvernichter ab, rollte mit seinem Stuhl zum Besprechungstisch zurück und wartete auf eine Erklärung. Häckle nahm sich Zeit, um mit sich selbst ins Reine zu kommen. Mit gelassener Miene sah ihm Busch unverhohlen ins Gesicht. Er ahnte, mit wem sein Gegenüber den tonlosen Disput hatte. Gelegentlich schüttelte Häckle sogar kaum merklich den Kopf. Nach einer Ewigkeit von zwei stillen Minuten war er zu einem Entschluss gekommen. "Der Vorgang gibt sicher nichts her für die Lösung Ihres Problems, Entschuldigung, unseres Problems, da haben Sie zweifellos Recht. Trotzdem sollten wir das Fax nicht sofort vernichten. Ich ahne irgendwie - entschuldigen Sie diese vage Formulierung - dass hier etwas angezeigt wird, was den Kanzler in nächster Zeit durchaus interessieren könnte. Könnten Sie nicht eine vorläufige Akte für dieses Fax und etwaige weitere interessante Nebenprodukte der Aktion anlegen? Spätestens am Ende dieser Legislaturperiode müsste natürlich der Inhalt der Akte vernichtet werden. Wir müssten sie also unbedingt auf die bekannte Liste nehmen."
"Ich bin genau wie Sie kein Freund von Akten mit Daten für unklare Zwecke. Denken Sie bereits an den nächsten Bundestagswahlkampf?"
"Um Himmels willen! Damit hatte ich noch nie im Amt zu tun und möchte auch nie darin einbezogen werden. Nein, es ist eher die Witterung eines alten Bundesbeamten, dass sich in nächster Zeit hier in Bonn Dinge tun werden, die den Rahmen des Altgewohnten sprengen."
Busch, der seit längerem besorgt beobachtete, dass scheinbar objektive Begriffe, wie "Reformstau" und "Werteverlust", in den Medien Hochkonjunktur hatten, kämpfte immer noch mit einem Anfall heftigen Unwillens. Wenn diese Art von Begriffen schon in einem Ministerbüro verwendet wurden, dann war der Geist der Fundamentalkritik offenbar aus der Flasche entwichen und tief ins Regierungslager eingedrungen. Häckle schien noch immer nicht mit sich selbst oder seinem unsichtbaren Gesprächspartner ins Reine gekommen zu sein. Busch spielte jetzt eine andere Karte aus: "Man langweilt sich auch schon im Kanzleramt, Herr Kollege?"
„Ich wohl am wenigsten. Noch sind die Verfassungsfeinde nicht ausgestorben. Nein, nein, das ist es nicht... Wenn Sie Bedenken haben, schlage ich als Kompromiss vor, die Lebensdauer der Akte auf drei Monate zu begrenzen. Allerdings mit der Möglichkeit zur Verlängerung, wenn ich Sie nach Ablauf der Zeit mit mehr als Ahnungen überzeugen kann."
"Gut, einverstanden. Ich richte die Akte eigenhändig ein und halte sie bei mir unter Verschluss. - Es bleibt uns heute noch das letzte Fax aus dem Finanzministerium. Ich lese mal vor: ‚Im Programm für das Steuerreformmodell der Regierung mit seinen verschiedenen Varianten sind gestern erneut Zeichen unbekannter Herkunft an verschiedenen Stellen aufgetaucht. Es ist noch unklar, ob sie durch einen Virus erzeugt oder von außen direkt in das System eingegeben wurden. Das Rechenwerk scheint nach einer vorläufigen Analyse nicht berührt zu sein. Zu Beginn und am Ende jedes der alternativen Modelle erscheinen folgende Zeichen: !KV! Diese Zeichen haben weder eine erkennbare programmtechnische Funktion noch ist ein Sinn im Text- oder Rechenzusammenhang zu erkennen. Angesichts der derzeitigen politischen Notwendigkeiten müssen wir das Programm weiter benutzen, werden aber ab sofort jeder noch so geringen Auffälligkeit nachgehen und weiter berichten.‘“
Busch sah schweigend zu Häckle hinüber. „Wenn das nicht doch ein Programmierfehler ist, treibt mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Trittbrettfahrer oder schlicht ein frustrierter Fachidiot sein dümmliches Spiel. KV, das soll uns wohl an kommunistische Verbindung oder Vereinigung denken lassen. Womöglich sogar an die RAF. Das ist zu stümperhaft für die versprengten Reste der RAF-Nachfolger und passt überhaupt nicht ins Bild." Häckle sprach mit der Fachautorität eines langjährigen Experten für verfassungsfeindliche Umtriebe.
"Nach der neuesten Sprachmode könnte es am ehesten kommunistische Vision heißen. Ach, Quatsch! Wissen Sie, mich erinnert KV zuallererst an die Adenauer-Zeit. Als ich studierte, galt es schon unter den Erstsemestern für ausgemacht, nur mit diesen zwei Buchstaben könne ein Jurist überhaupt in Bonn Karriere machen - Examensnote hin, Examensnote her. Und als ich zu Kiesingers Zeiten als Assessor im Postministerium anfing, stieß ich bei jeder zweiten Beförderung in den höheren Rängen des Bonner Regierungsapparats auf die Ansicht, das sei selbstverständlich wieder ein KVer." Als Busch den fragenden Blick Häckles bemerkte, fügte er hinzu: "Sie wissen, Kartellverband katholischer deutscher Studentenvereine. - Ich weiß nicht, wie viele Beamte das Ausbleiben ihrer erhofften Superkarriere damit erklärt haben, sie seien eben nicht rechtzeitig Mitglied der richtigen Verbindung geworden oder hätten schlicht die falsche Konfession. Ich bin überzeugt, es waren Hunderte, wenn nicht Tausende. - Alles dummes Zeug! Ich könnte Ihnen Dutzende von hohen und höchsten Beamten in der Adenauer-Ära aufzählen, die Protestanten waren oder sonst was. Erst recht natürlich in der Erhardt-Ära und in der Kiesinger-Ära. Ganz zu schweigen von der Zeit danach. Vielleicht sollte man sich bei den Nachforschungen zuerst auf die Beamten-Methusalems konzentrieren, deren Aufstieg negativ aus dem Rahmen fällt. Es ist ja nie auszuschließen, dass einer kurz vor seiner Pensionierung kalte Rache zu nehmen versucht, weil die glorreiche Karriere ausblieb."
Häckle machte keine Anstalten, dazu Stellung zu nehmen. So fuhr Busch fort: "Aber warum nur gerade jetzt, nachdem hier in den achtundvierzig Jahren des Bestehens der Bundesrepublik nie so etwas vorgekommen ist? - Ich bin über den gemeldeten Vorgang im Finanzministerium besorgter als Sie es anscheinend sind. Man kann einfach nicht ausschließen, dass diese Zeichen eine gefährliche Sabotageaktion ankündigen sollen. Aber selbst wenn es wieder nichts als Unsinn wäre, bliebe ich besorgt. Eine kleine militante Gruppe lässt sich leichter ausschalten als ein Heer von Kaspern im öffentlichen Dienst. - Sicher haben wir die Risiken der Computerisierung unterschätzt. Die Anzahl der Leute, die legal, halblegal oder illegal Zugang zu den hochkritischen Ablaufprogrammen haben, ist nicht mehr zu überschauen. Damit werden wir leben müssen. Von der Viren-Problematik ganz zu schweigen. Es kann aber auch sein, dass die Viren sich in den Köpfen der Kollegen ausbreiten. Und das wäre viel gefährlicher als alle gezielten Eingriffe in unsere vernetzten Informationssysteme oder in Rechenprogramme. Wenn wir da nicht rechtzeitig mit allen Mitteln gegensteuern, herrscht hier bald das Chaos." Busch verschränkte seine Hände hinter seinem Kopf und drückte die Rückenlehne seines Bürostuhls soweit wie möglich zurück. Seine impulsive Wut war einer tiefen Sorge gewichen, die ihn seit Monaten immer wieder bedrängte und gelegentlich schon resignative Züge angenommen hatte.
Häckle hatte mit wachsender Unruhe den ungewöhnlich langen Ausführungen von Busch zugehört und sah jetzt zur Uhr. Bevor er jedoch auf angemessene Weise das Koordinierungsgespräch beenden konnte, fuhr Busch mit etwas zu lauter Stimme fort: "Aber ein richtiges Horrorszenario wird es erst dann, wenn man sich vorstellt, wie die Viren in den Köpfen sich mit den Viren in den Computern verbünden. Gegen so etwas ist keiner Ihrer Geheimdienste gerüstet, Herr Häckle. Und das Bundeskriminalamt genau so wenig. "
Häckle vermied es, auf die besorgte Tonlage einzugehen und erwiderte geschäftsmäßig: "Mein Minister erwartet mich um sechs. Ihre Spezialtruppe startet also morgen. - Sie wissen ja, dass Sie unsere vorbehaltlose Unterstützung haben. Wenn wir Ihren Leuten irgendwie und irgendwo helfen können, zögern Sie bitte nicht, mich zu kontaktieren."
Nachdem er seinen Besucher hinausgeleitet hatte, blieb Busch einige Minuten am geöffneten Fenster seines großen Büros stehen und starrte hinaus, ohne Einzelheiten wahrzunehmen. Er atmete betont ruhig durch und versuchte, den Bauch mit einzubeziehen. Der Druck im Kopf ließ nicht nach. Die letzte Bemerkung Häckles hatte er als Warnung und Mahnung verstanden. Ein Beamter von Häckles Rang fand Selbstverständlichkeiten nicht erwähnenswert und beherrschte das abgestufte Instrumentarium der mittelbaren Botschaften. Seine wohlwollend klingende Schlußfloskel hieß im Klartext: ‚Sie wissen ja, Herr Kollege, wie viele Vorbehalte es im Kanzleramt gegen Ihr Projekt gibt. Bitte sorgen Sie dafür, dass es keine Komplikationen gibt.‘
Entschlossen, sich davon nicht beirren zu lassen, wandte Busch sich schließlich um, schloss die Tür zum Vorzimmer ab, holte aus der untersten Schublade einen Leinenbeutel mit einem Riesenmikadospiel und setzte sich wieder an den Besprechungstisch. Seit einigen Monaten hatte er nun dieses Spiel in seinem Schreibtisch. Das Geschenk eines befreundeten Internisten, verbunden mit dem Rat, anhaltende Stresssymptome als ernsthafte Warnung zu erkennen und so schnell wie nur irgend möglich umzuschalten. - Der Freund wusste, dass Mikado das einzige Spiel war, bei dem Busch seine Kinder an Ausdauer übertroffen hatte. - Bisher hatte das Geschenk unbenutzt in der Schublade geruht. Seine Vorbehalte gegen eine derartige Beschäftigung im Ministerium waren stets stärker gewesen als der wohlgemeinte Rat des Freundes. Busch rollte mit seinem Stuhl zurück und nahm seine Lieblingshaltung ein. Der Wirrwarr der Stäbe auf seinem Tisch rief Erinnerungen an verregnete Sonn- und Urlaubstage mit Frau und Kindern hervor. Reflexartig stellten sich dienstliche Gedanken dagegen und verdrängten die Familie aus dem Amtszimmer. Das Ergebnis eines langjährigen Trainingsprozesses. Vorsichtig begann Busch, Stäbe aus dem Durcheinander zu nehmen. Er teilte sich in zwei Personen auf und legte die erbeuteten Stäbe für jede Partei getrennt zur Seite. Als beide Parteien keine Chance mehr hatten, nahm er wieder seine Entspannungsposition ein. Aktuelle und grundsätzliche dienstliche Probleme machten sich Konkurrenz. Ärgerlich registrierte er, dass ihn trotz seiner Entspannungshaltung eine starke Nervosität überfallen hatte. Ohne einen Willensentschluss gefasst zu haben, setzte er sich an seinen Schreibtisch und arbeitete zügig die Eingangspost des Nachmittags durch. An den Besprechungstisch zurückgekehrt, starrte er auf das verbliebene Häufchen Stäbe. Keine Chance bei Einhaltung der Spielregeln. Schließlich zog er energisch den gestreift markierten Stab heraus. Sofortiger Zusammenbruch des chaotischen Haufens. Wiederum Chaos in anderer Gestalt. Immer noch keine Chance mit erlaubten Mitteln. Im Begriff, die Stäbe auszurichten und wieder in das Leinensäckchen zu stecken, hielt er plötzlich inne. Er legte die zu einem ordentlichen Bündel ausgerichteten Stäbe quer vor sich und betrachtete sie eine Weile. Schließlich suchte er einen Kugelschreiber mit dünner Mine und versuchte einen Stab mit einer Zeichenfolge zu versehen. Nach mehreren Ansätzen gelang es ihm. Er nahm den nächsten, versah ihn mit einer anderen Zeichenfolge und fuhr so fort, bis er abrupt einhielt. Nach kurzem Zögern nahm er den nächsten Stab, brach ihn in der Mitte durch und versah jede Hälfte mit einer anderen Zeichenfolge. Den nächsten Stab brach er in drei Teile und beschriftete jedes Teil. Die letzten Stücke wurden schließlich so kurz, dass er gerade noch eine Zeichenfolge darauf unterbringen konnte. Jetzt das übliche Fallenlassen aus der Hand. Ein unvertrautes Bild. Busch versuchte einige der Zeichen zu entziffern. Wie erwartet, konnte er kein System in der Lage der Stäbe und Stabteile erkennen. Ob das Spiel in dieser Umgestaltung mit dem Computer zu simulieren und genauer zu analysieren war? Ob der Mann aus dem Osten das schaffte? Eine Marotte oder eine wirkliche Chance? Nachdem er den Beutel wieder in seinem Schreibtisch verstaut hatte, verließ Busch gedankenverloren sein Zimmer und ging gewohnheitsmäßig die Treppen hinunter. Zwischen dem zweiten und dem ersten Stock, verzögerte er seinen Schritt. Im ersten Stock blieb er schließlich stehen, fuhr dann kurzentschlossen mit dem Aufzug wieder hinauf und holte das zerstückelte Mikadospiel aus seinem Schreibtisch. Diesmal benutzte er den Aufzug auch abwärts.